Vergewaltigungen in der Ukraine: "Verbrechen, über das chronisch zu wenig berichtet wird"

Seite 3: Vergewaltige Frauen als erstes Opfer von Friedensabkommen

Und, Pramila, Sie haben ausdrücklich gesagt, dass jedes Friedensabkommen, wann immer es zustande kommt, festlegen sollte, dass es keine Amnestie für Täter sexueller Gewalt geben wird. Könnten Sie erläutern, warum Sie denken, dass sexuelle Gewalt anders als andere Kriegsverbrechen behandelt werden sollte, und in welchen Fällen Amnestie in Konfliktgebieten gewährt wurde, in denen sexuelle Gewalt weit verbreitet war?

Pramila Patten: Die Geschichte hat uns gelehrt, dass bei zahlreichen Friedensverhandlungen der erste Punkt, der auf dem Verhandlungstisch lag – bei dem Frauen natürlich auffallend wenig vertreten waren – immer die Frage der Amnestie für Verbrechen sexueller Gewalt war. Und es gibt Verhandlungen, bei denen die Wahl zwischen Frauen und Frieden bestand. Und üblicherweise werden die Frauen geopfert.

Daher finde ich es sehr ermutigend, dass die ukrainische Regierung meinem Vorschlag, diese Säule in den Rahmen einzubeziehen, sehr aufgeschlossen gegenüberstand, dass im Falle eines Waffenstillstandsabkommens oder eines Friedensabkommens spezifische Bestimmungen vorgesehen werden, die sicherstellen, dass es keine Amnestie für Verbrechen der sexuellen Gewalt gibt. Denn Krieg hat Grenzen, und das humanitäre Völkerrecht macht das sehr deutlich. Sexuelle Gewalt kann niemals entschuldigt, niemals amnestiert werden. Und wir haben mit den Resolutionen des Sicherheitsrates zur Frage der Amnestie einen soliden normativen Rahmen.

Oksana, wie Sie wissen, gab es Anschuldigungen wegen angeblicher Kriegsverbrechen durch die ukrainischen Streitkräfte – auch wenn es natürlich viel weniger waren. Was wissen Sie über diese Vorwürfe? Und was haben Sie bei Ihren Ermittlungen über angebliche Kriegsverbrechen der russischen, aber auch der ukrainischen Streitkräfte herausgefunden?

Oksana Pokalchuk: Wir befinden uns jetzt in einer Situation, in der viele Gebiete, in denen angeblich Kriegsverbrechen begangen wurden oder jetzt begangen werden, unter Besatzung stehen. Wir müssen also den Moment abwarten, in dem wir als Amnesty und natürlich auch ukrainische und internationale Ermittler in der Lage sein werden, dieses Gebiet zu erreichen und vor Ort Untersuchungen zu beginnen. Denn ohne vor Ort zu sein, ohne entsprechende Beweise zu sammeln, ist es unmöglich, von Kriegsverbrechen zu sprechen. Meiner Meinung nach können wir uns nicht auf Vermutungen dabei stützen.

Natürlich gibt es keinen Krieg, in dem eine Kriegspartei nicht gegen das humanitäre Völkerrecht verstößt und die andere schon. Natürlich müssen wir damit rechnen, dass wir Beweise finden für Vergehen der ukrainischen Armee. Aber bisher haben wir noch nicht genug Belege, um in rechtlicher Hinsicht von nachweisbaren Verbrechen zu sprechen. Wir müssen also die Befreiung der besetzten Gebiete abwarten, in das Gebiet gehen und dort Informationen und Beweise sammeln.

Pramila Patten, zum Schluss: Die Ukraine war bereits eines der führenden Länder in Europa in Bezug auf Menschenhandel. Auch Sie haben sich mit diesem Thema befasst. Was haben Sie vor Ort gesehen haben und wie sollte das Problem angegangen werden?

Pramila Patten: Angesichts der Vertreibung von fast 14 Millionen Menschen in den letzten hundert Tagen, hauptsächlich Frauen und Kinder, von denen 6,8 Millionen über die Grenzen geflohen sind, entfaltet sich die Krise des Menschenhandels innerhalb der humanitären Krise. Der Menschenhandel ist kein separates Problem. Er ist ein Symptom der Flüchtlingskrise, die genau die Bedingungen schafft, die Menschenhändler ausnutzen: wirtschaftliche Verarmung und Mangel an Lebensmöglichkeiten.

Seit dem Jahr 2014 können wir erkennen, wie der Menschenhandel floriert, auch in der Ukraine und in der Region. Menschenhandel ist eines der schwersten organisierten Verbrechen unserer Zeit, das sich über Kulturen, Geografie und Zeit hinweg erstreckt. Für Sexualstraftäter und Menschenhändler ist Krieg keine Tragödie, sondern eine Chance.

Sowohl in der Republik Moldau als auch in Polen, wo ich Aufnahmezentren besucht habe, habe ich gesehen, wie die meisten Flüchtlinge dort leben. In beiden Ländern gibt es ernste Bedenken, was Sicherheit und Schutz angeht. Die Aufnahmezentren werden von Freiwilligen geleitet, und die Organisationen der Vereinten Nationen sind kaum vertreten.

Die Unterbringung durch Privatpersonen wird überhaupt nicht überwacht, und auch die Transportmöglichkeiten werden nicht kontrolliert. Dies sind wirklich ernste Bedenken. Die Aufnahmezentren werden, obwohl die Räumlichkeiten von der lokalen Regierung zur Verfügung gestellt wurden, von einer Vielzahl von Personen betrieben, die freiwillig ihre Dienste anbieten.

Nach dem, was ich gesehen habe, verfügen sie über wenig oder gar keine Ausbildung oder Erfahrung in der Unterstützung von Opfern, insbesondere Opfern von Menschenhandel oder von Menschen, die von Menschenhandel bedroht sind.

Klar ist auch, dass diese Länder, die Flüchtlinge aufnehmen, überfordert sind. Sie brauchen dringend Unterstützung, um ausreichende Ressourcen für die Unterstützung der Maßnahmen bereitstellen zu können, da selbst Dienstleister und NGOs nur über begrenzte Kapazitäten verfügen, um ein angemessenes und sicheres Niveau der Maßnahmen aufrechtzuerhalten.

Ich denke also, dass die internationale Gemeinschaft mobilisiert werden muss, um sicherzustellen, dass in allen Transit- und Zielländern und an allen Grenzübergängen wirksame Schutzsysteme vorhanden sind. Und angesichts der Herausforderungen dieses grenzüberschreitenden organisierten Verbrechens sowie der sehr komplexen Natur und der vielfältigen Dimensionen des Menschenhandels erfordert die Reaktion eine integrierte und ganzheitliche Antwort, eine konzertierte grenzüberschreitende Reaktion von humanitären Partnern, Strafverfolgungsbehörden, Grenzschutzkräften, Einwanderungsbeamten und politischen Führern.

Am Montag, als ich den Sicherheitsrat unterrichtete, drängte ich auf einen regionalen europäischen Pakt, der vom Europäischen Rat geleitet werden sollte. Ich bin der festen Überzeugung, dass das zum jetzigen Zeitpunkt erforderlich ist.

Das Interview erschien zuerst bei dem US-amerikanischen Sender Democracy Now.