Vermögenssteuer: Der Mythos der Steuerflucht

Geschäftsmann mit einem Koffer voller Geld läuft davon

Bild: Ljupco Smokovski / shutterstock.com

Reiche würden bei höheren Steuern das Land verlassen – diese Warnung wird oft wiederholt. Der Mythos hält sich hartnäckig. Aktuelle Studien zeigen: Das stimmt nicht.

Das Verdikt insbesondere von neoliberaler Politik und Wirtschaftswissenschaft über die Folgen von Steuererhöhungen und eine Durchsetzung einer Vermögenssteuer fällt eindeutig aus: Die Konsequenzen wären desaströs. Vermögende würden das Land verlassen, die Steuereinnahmen daher paradoxerweise einbrechen. Ohne das große Kapital würden zudem die Investitionen deutlich sinken.

Diese Grundüberzeugung ist gleichsam verschwistert mit der Gewissheit über die positiven Auswirkungen von Steuererleichterungen für Reiche in Form des sogenannten Trickle-Down. Die eingesparten Steuerausgaben würden investiert, somit Arbeitsplätze schaffen und daher schlussendlich der gesamten Gesellschaft zugutekommen. Eine klassische Win-Win-Situation.

Überzeugung und Evidenz

Freilich dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben, dass der Trickle-Down-Effekt zwar ein wunderbares, logisch erscheinendes Argument sein mag, sich aber in der Wirklichkeit schlicht nicht belegen lässt.

Die monumentale Recherchearbeit des französischen Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty in Das Kapital des 21. Jahrhundert widerlegt diese Überzeugung gründlich und dokumentiert, dass der Trickle-Down-Effekt, ein Glaube ohne wissenschaftliche Evidenz ist.

Umso neugieriger durfte man sein, als die ersten Zahlen und Untersuchungen über die Folgen von Steuererhöhungen und Vermögenssteuern erschienen.

Norwegen als Kronzeuge?

Norwegen ist neben Spanien und der Schweiz, das einzige OECD-Land, in dem die Vermögenssteuer noch erhoben wird (in Deutschland ist sie seit 1997 ausgesetzt). Im Jahr 2022 erhöhte die norwegische Regierung diese Steuer leicht; seither beträgt der maximale Steuersatz 1,1 Prozent.

Der Guardian recherchierte ein Jahr später die Folgen und kam zu einem Schluss, der alle neoliberalen Postulate bestätigte.

Die norwegischen Zahlen würden schwarz auf weiß belegen, was die Artikelüberschrift auf den Punkt brachte:

Superreiche verlassen Norwegen in Rekordtempo, da die Vermögenssteuer leicht steigt. Die Abwanderung ins Ausland ist ein Schock und kostet Dutzende von Millionen an entgangenen Steuereinnahmen.

Die Nachricht ging um die Welt und Elon Musk erhob sich entrüstet und erteilte schon damals eine Lektion an eine Regierung. Er kritisierte die norwegische Politik massiv und rief superreiche Norweger dazu, auf ihr Heimatland umgehend zu verlassen.

Wenn das Ergebnis des Berichts im Guardian und die allseits verlautbarten Befürchtungen stimmen, dann wäre eine neoliberale, reichenfreundliche Steuerpolitik, die versucht das Geld für Investitionen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Lande zu halten, vielleicht aus einer oberflächlichen Betrachtung unsozial, aber – wie die Daten zeigen – schlicht und ergreifend realistisch.

Teufel liegt im Detail

Die Social-Media-Persönlichkeit James Medlock (Pseudonym) beugte sich genauer über die Untersuchung im Guardian und entdeckte kleine, aber feine Details, die zu einem gänzlich anderen Ergebnis kommen.

Basierend auf Daten des norwegischen Finanzministeriums zeigt sich, dass zwar einige vermögende Norweger, wie befürchtet, das Land verlassen haben (wobei die Steuererhöhung nur eine von vielen möglichen Erklärungen ist), der Staat Norwegen aber dennoch keineswegs über eine gefährliche Steuerflucht trauern muss, sondern sich über Steuermehreinnahmen aus der Vermögenssteuer freuen darf, die noch nie so hoch ausgefallen waren.

Das Online-Magazin des Momentum Instituts kommentierte diese Entwicklung:

Die Einnahmen stiegen von etwa 1,55 auf 2,41 Milliarden Euro. Die gerechten Beiträge zum Gemeinwesen aus riesigen Vermögen stiegen in Norwegen nach der erhöhten Vermögensteuer also um etwa 55 Prozent.

Der Hintergrund für das falsche Ergebnis des Guardian: Zur Schätzung des Vermögens, das aufgrund der erhöhten Vermögenssteuer außer Landes geschafft worden ist, hatte die britische Zeitung einen norwegischen Juristen und Professor für Steuerrecht um seine Expertise gebeten.

Ole Gjems-Onstad, emeritierter Professor an der Norwegian Business School, vermutete, dass diejenigen, die das Land verlassen haben, zusammen über ein Vermögen von mindestens 600 Milliarden norwegischen Kronen (NOK) (51,2 Milliarden Euro) verfügen würden.

Auf diese Zahl stützte sich der Artikel im Guardian. Eine spätere Anfrage an die norwegische Regierung ergab jedoch eine deutlich geringere Vermögenssumme, die das Land "verlassen" hatte.

Im Jahr 2022 betrug sie 34,3 Milliarden NOK, im Jahr 2023 10,2 Milliarden (870 Millionen Euro).

An dieser Stelle sei einmal mehr die Bemerkung gestattet, wie wichtig Daten über die großen Vermögen sind und wie bedenklich, dass es diese in Deutschland kaum gibt.

Ein Beispiel für viele

Tatsächlich reiht sich damit die Untersuchung aus Norwegen nun in eine ganze Reihe aktueller Studien ein, die jeweils zu einem ähnlichen Ergebnis kommen, das jedoch der neoliberalen Überzeugung diametral widerspricht.

Eine Studie interessierte sich beispielsweise für die Entwicklung in Großbritannien. Bis zum Jahr 2017 wurden Offshore-Investitionserträge für sogenannte "Non-Doms" nicht besteuert – Menschen, die in Großbritannien ansässig sind, deren ständiger Wohnsitz – oder Domizil – für Steuerzwecke aber außerhalb des Landes liegt.

Die entscheidenden Fragen: Wie hatte sich die Gesetzesänderung ausgewirkt? War es zu einer massiven Steuerflucht der Reichen gekommen? Das Ergebnis der Studie:

Wir stellen fest, dass die Auswanderungsreaktionen bescheiden ausfielen: Unsere zentrale Schätzung besagt, dass die Auswanderungsquote bei einem Rückgang des Nettosteuersatzes um ein Prozent sich um 0,26 Prozentpunkte erhöht, und wir können einen Anstieg von mehr als 0,4 Prozentpunkten ausschließen.

Befürchtungen, dass die betroffenen Steuerzahler in der Lage waren, die Steuererhöhung zu umgehen, können wir widerlegen, da wir im Durchschnitt einen starken Anstieg des gemeldeten Einkommens und der gezahlten Steuern im Vereinigten Königreich von mehr als 150 Prozent feststellen.

Anstatt der befürchteten Katastrophe also eine Erfolgsgeschichte.

Eine weitere Studie untersuchte Schweden. Dort gab es von 1911 bis 2007 eine Vermögenssteuer. Das Interesse der Forscher galt der Frage, ob seit diesem Jahr weniger Schweden das Land verlassen hätten.

Die Antwort fällt eindeutig aus: Die Abschaffung der Vermögensteuer hatte "bemerkenswert begrenzte Auswirkungen" auf die Migrationsströme der Personen, die dieser Steuer unterlagen.

Ein weiteres Beispiel: Frankreich. Unmittelbar zu Beginn seiner Präsidentschaft reformierte Emmanuel Macron 2017 die Kapitalertrags- und Vermögenssteuer. Ein Ausschuss veröffentlichte letztes Jahr seine Ergebnisse zu den Folgen der Reformen.

Die Frage, inwiefern die vermögensfreundliche Politik der Regierung mehr Reiche zur Rückkehr nach Frankreich und damit zu einem Zugewinn an Steuereinnahmen geführt hat, wurde beantwortet.

Wieder einmal steht das neoliberale Mantra nicht in Einklang mit der Wirklichkeit. Nur wenige hundert Vermögende fanden ihren Weg nach Frankreich zurück (bei etwa 150.000 Menschen, die der Vermögenssteuer unterlagen). Die steuerlichen Gesamtverluste der Maßnahmen beliefen sich auf 4,5 Milliarden Euro.

Investitionen, Arbeitsplätze?

Im französischen Abschlussbericht finden sich noch einige weitere bemerkenswerte Ergebnisse. Führt eine vermögensfreundliche Steuerpolitik zu mehr Investitionen, wie ein neoliberales Dogma lautet?

Das eindeutige Fazit:

Es wurden keine Auswirkungen auf Investitionen und Löhne bei den Unternehmen festgestellt. (...)

Dieser fehlende identifizierte Effekt auf die Investitionstätigkeit, der bereits 2013 infolge der Besteuerung von der Kapitalerträge zu beobachten war, entspricht eigentlich der Linie zahlreicher Studien international verfügbaren akademischen Studien, denen es nicht gelingt, nachzuweisen, dass eine Änderung der Besteuerung von Kapital (…) einen Effekt auf das tatsächliche Verhalten der Unternehmen sowohl in Bezug auf Investitionen als auch in Bezug auf die Arbeitsnachfrage (Beschäftigung und Lohnniveau der Arbeitnehmer) hat.

Der Bericht konstatiert auch positive Auswirkungen der vermögensfreundlichen Steuer- und Wirtschaftspolitik. Für Vermögende: Der Ausschuss konnte nachweisen, dass die Maßnahmen von 2017 "zu einem deutlichen Anstieg der Dividenden geführt hat. Auch die Kapitalgewinne aus Wertpapieren sind 2018 stark gestiegen. (…) Die Dividendenerhöhung war vollständig durch einen Rückgang der Nettoersparnis finanziert worden".

Zudem wurde eine Erhöhung der Ungleichheit im Hinblick auf Einnahmen durch Dividenden festgestellt:

In Bezug auf Dividenden entfallen auf ein Prozent der Steuerhaushalte (400.000 von 40 Millionen Haushalten im Jahr 2021) 96 Prozent der gemeldeten Gesamtbeträge.

Dieser Anteil liegt um 5 bis 10 Prozentpunkte über dem Niveau vor dem Jahr 2017, als Macron sein Maßnahmenpaket durchsetzte.

Lobby der Superreichen

Wie kann es also sein, dass sich die Überzeugung, Steuererhöhungen im Allgemeinen und Vermögenssteuer im Besonderen führten zum Untergang des Abendlandes, fortdauernd so laut und prominent halten kann und sich die Steuerpolitik der unterschiedlichsten Länder daher nach ihr richtet – obwohl diese Annahme offenbar nur sehr geringfügig mit der Wirklichkeit übereinstimmt?

Der Wirtschaftswissenschaftler Andy Summers von der London School of Economics meint hierzu, dass man immer aufpassen sollte, sobald Steuererhöhungen und Vermögenssteuer auf die Tagesordnung kommen:

Jedes Mal, wenn bedeutende Steuerreformen für Spitzenverdiener und Vermögende angekündigt werden, gibt es eine sehr gut organisierte und ziemlich laute Gruppe von Steuer- und Vermögensberatern, die lebhaft beschreiben, wie Leute ihre Koffer packen oder in Privatjets steigen.

Derzeit erleben wir wahrscheinlich eine der größten Episoden dieser Art, da die Reformen, die die (britische – A. W.) Schatzkanzlerin Rachel Reeves angekündigt hat, bedeutender sind als frühere Reformen, insbesondere die vollständige Abschaffung des "Non-dom"-Status… (Menschen, die in Großbritannien ansässig sind, deren ständiger Wohnsitz – oder Domizil – für Steuerzwecke aber außerhalb des Landes liegt).

Andy Summers

Standortvorteil der besonderen Art

Die Reichen fliehen nicht, so Summers, und er nennt einen ganz besonderen Grund für ihre Treue. Dieser widerspricht der ständig wiederkehrenden Annahme, Menschen würden aufgrund des Eigennutzprinzips grundsätzlich alle Entscheidungen im Hinblick auf das eigene Bankkonto treffen.

Das Gegenargument, das Summers dazu anführt, ist übrigens auch angesichts der derzeitigen massiven Sparpolitik im kulturellen Bereich von Bedeutung:

Viele sehr vermögende Personen betrachten London als ein Premiumprodukt, für das sie bereit sind, einen Premiumpreis zu zahlen. Viele von ihnen sehen es als Vorteil ihres großen Reichtums an, dort leben zu können, wo sie am liebsten leben möchten, und nicht dort, wo sich ihnen die größten Steuervorteile bieten.

Das bedeutet, dass viele sehr wohlhabende Menschen ziemlich unempfindlich gegenüber der Höhe der Steuern sind, die sie zahlen müssen.

Sie können sich die Steuern leisten und möchten in der Nähe von weltweit führenden kulturellen Einrichtungen wie dem Royal Opera House oder der National Gallery sein. Einige von ihnen sagten in ihren Antworten auch ausdrücklich, dass sie zwar erwogen hätten, in Steueroasen in der Karibik oder in die Schweiz oder nach Dubai zu ziehen, dass all diese Orte aber kulturell langweilig seien.

Ein Tipp

Die Aufklärung zum Steuerflucht-Mythos, der stets von neoliberalen Wirtschaftspolitikern aufgetischt wird, soll mit einer Anregung von Summers zur Gestaltung der Vermögenssteuer enden, die jede Politik, die es auch nur ansatzweise mit sozialer Gerechtigkeit ernst nimmt, berücksichtigen sollte:

Sobald man bestimmte Arten von Vermögenswerten ausnimmt, wird es möglich, die Vermögensteuer zu umgehen, indem man in diese ausgenommenen Vermögenswerte investiert. Und die Leute haben das auch getan. Dann kommt es zu einer negativen Spirale, in der die Steuer immer weniger Einnahmen bringt, weil jeder sie leicht vermeiden kann.

Und so wird man anfälliger für Leute, die sagen: Diese Steuer verursacht viel politischen Ärger und bringt nicht viel Geld ein, also lasst sie uns abschaffen. Und genau das ist dann passiert.

Die internationale Erfahrung zeigt aber nicht, dass Vermögensteuern nicht funktionieren. Was sie tatsächlich zeigt, ist, dass eine Vermögensteuer wirklich umfassend sein muss, um effektiv zu funktionieren.