Wer Armut bekämpfen will, darf soziale Ungleichheit nicht vergessen
Armut mit Wohltätigkeit lindern? Philantrokapitalismus ist eine große Täuschung. Weil er Wesentliches unterschlägt. Unser Autor beleuchtet Lösungsansätze.(Teil1)
Wohl niemand würde auf die Idee kommen, Armut sei etwas Positives. Entsprechend ist die Notwendigkeit, Armut zu reduzieren, mehr oder mehr gesellschaftlicher Konsens. Im Hinblick auf soziale Ungleichheit ist dies jedoch keineswegs der Fall.
Robert Lucas, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, hat einst gewarnt:
Von allen Tendenzen, die sich negativ auf eine vernünftige Wirtschaftslehre auswirken, ist die Fokussierung auf Verteilungsfragen am verführerischsten, meiner Meinung nach aber auch am nachteiligsten.
Oder, wie es der Wirtschaftswissenschaftler und Global Chefökonom von Citibank Willem Butler wenig poetisch formulierte:
Armut stört mich. Ungleichheit nicht. Die ist mir einfach egal.
Weniger deutlich geben sich viele Philantrokapitalisten, die einen Teil ihrer Aktivität dem Kampf gegen Armut verschrieben haben (zum Beispiel Bill Gates).
Aber auch bei ihnen findet das Thema soziale Ungleichheit nur selten Erwähnung.
Desinteresse
Selbstverständlich ist nichts gegen ein Bemühen zur Reduzierung von Armut zu sagen. Wie aber ist zu erklären, dass der Kampf gegen Ungleichheit bedeutend weniger Interesse auf sich zieht?
Einen Grund nennt der Journalist Anand Giridharadas in seinem Buch "Winners Take All. The Elite Charade of Changing the World". Bruno Giussani, den internationalen Kurator von TED, aufgreifend, schreibt er:
Giussani stellte fest, dass Ideen, die sich auf "Armut" beziehen, eher akzeptiert werden als Ideen, die sich auf "Ungleichheit" beziehen. Die beiden Begriffe sind miteinander verbunden. Aber Armut ist eine materielle Tatsache der Entbehrung, die nicht mit dem Finger auf andere zeigt, während Ungleichheit etwas Beunruhigenderes ist: Sie spricht von dem, was die einen haben und die anderen nicht; sie kokettiert mit der Idee von Ungerechtigkeit und Fehlverhalten; sie ist relational.
"Armut ist im Wesentlichen eine Frage, die man durch Wohltätigkeit lösen kann", sagte er. Eine wohlhabende Person, die Armut sieht, kann einen Scheck ausstellen und diese Armut verringern. "Aber bei der Ungleichheit", sagte Giussani, "kann man das nicht, denn bei der Ungleichheit geht es nicht darum, etwas zurückzugeben. Bei der Ungleichheit geht es darum, wie man das Geld, das man zurückgibt, überhaupt verdient. Ungleichheit, so Giussani, sei eine Frage des Systems.
Ungleichheit zu bekämpfen bedeutet, das System zu ändern. Für einen Privilegierten bedeute es, sich mit seinem eigenen Privileg auseinanderzusetzen. Und, so sagte er, "man kann es nicht allein ändern. Man kann das System nur gemeinsam ändern. Mit Wohltätigkeit kann man im Grunde genommen, wenn man Geld hat, eine Menge Dinge alleine tun.
Anand Giridharadas, Winners Take All
Es tröpfelt nach oben
Ein weiterer Hauptgrund dafür, dass soziale Ungleichheit keineswegs so negativ gesehen wird wie Armut – und entsprechend die Reduzierung derselben kaum ein Thema darstellt – besteht darin, dass Wirtschaftswissenschaftler auf die positiven Effekte der Ungleichheit als treibenden Motor für Leistung hinweisen und betonen, der sogenannte "Trickle-down-Effekt" würde dazu führen, dass am Ende alle von den Gewinnen der Reichen profitieren würden.
Dies ist auch immer wieder ein gern gesehenes Argument für Steuersenkungen. Zuletzt in der Kampagne der britischen Premierministerin Liz Truss.
Dieses Argument ist umso erstaunlicher, als das vor zehn Jahren erschienene Opus Magnum "Das Kapital im 21. Jahrhundert" des französischen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty mit solidem Datenmaterial belegen kann, dass es schlicht keinen Trickle-Down-Effekt gibt. Dass der Glaube daran vielmehr ins Märchenland gehört.
Oder, um es mit den Worten von Elizabeth Warren zu sagen, der demokratischen US-Präsidentschaftskandidatin im Jahr 2020:
Der Reichtum sickert nicht nach unten. Er tröpfelt nach oben.
Desaströse Effekte von Ungleichheit
Ungleichheit hat keine positive Auswirkung über irgendeinen wie auch immer gearteten magischen Umweg, sondern ganz real negative Folgen. Zahlreiche negative Folgen. Die niederländische Ethikprofessorin und Wirtschaftswissenschaftlerin Ingrid Robeyns resümiert:
Ungleichheit ist schlecht, weil sie schlechte Folgen hat. Sie führt zu Unterschieden im sozialen Status und damit zu einer Stigmatisierung und untergräbt den sozialen Zusammenhalt. Sie führt zu Machtmissbrauch und zur Beherrschung des politischen Prozesses durch die Elite, was wiederum zu einer ungerechten Politik führt, die den Reichen mehr hilft als den Armen.
Sie untergräbt die Chancengleichheit. Sie erzeugt Stress und hat negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Menschen. Wer sagt, dass Ungleichheit keine Rolle spielt, begeht also einen schweren Fehler.
Ingrid Robeyns
Tatsächlich kann man Ungleichheit sogar als Mutter alles Probleme bezeichnen. Die Epidemiologen Kate Pickett und Richard Wilkinson haben in ihren Büchern "Gleichheit ist Glück" und "The Inner Level" ihre Recherchen über die Auswirkungen von Ungleichheit veröffentlicht.
Die Autoren analysierten die Daten von 23 der fünfzig reichsten Länder: Zahlreiche Probleme stehen in direktem kausalem Zusammenhang mit dem Grad der Ungleichheit.
Diese Phänomene sind desto gravierender, je höher der Grad der Ungleichheit.
- Gleichberechtigung von Frauen
- Mathematik- und Lesefähigkeiten der Schulkinder
- Mobbing
- Scheidungsrate, Anzahl von Teenager-Schwangerschaften
- Gewalttaten
- Kindesmisshandlungen
- Mord
- Amokläufen
- Anzahl der Gefängnisinsassen
- Drogenkonsum
- Alkoholmissbrauch
- Spiel- und Kaufsucht
- fehlende Solidarität
- fehlende gesellschaftliche Teilnahme
- fehlendes soziales Kapital
- Misstrauen der Menschen untereinander
- fehlende Verträglichkeit
- fehlende Hilfsbereitschaft
- soziale Mobilität
Ungleichheit tötet
Die Liste negativer Folgen von Ungleichheit ist damit aber keineswegs erschöpft. So hängt die Lebenserwartung erstaunlicherweise nicht von der Höhe des Gesundheitsbudgets ab, sondern vom Ausmaß der Ungleichheit.
Wie extrem unterschiedlich die Lebenserwartung zwischen Reichen und Armen sein kann, zeigt sich zum Beispiel eklatant in der schottischen Stadt Glasgow. Die Lebenserwartung der Männer im ärmsten Stadtteil Calton beläuft sich auf 54 Jahre. In Lenzie, nur 11 Kilometer entfernt, liegt sie jedoch bei 82 Jahren.
Ein Unterschied von 28 Jahren in derselben Stadt! Ein weiteres Beispiel: In den stark ungleichen USA ist das Risiko vor dem 60 Geburtstag zu sterben, doppelt so hoch wie in Schweden.
Entsprechend belegt eine Meta-Studie: Mehr Gleichheit rettet Lebensjahre.
Konsequenterweise steht daher auf der Rückseite des Abschlussberichts einer vom britischen Epidemiologen Michael Marmot geleiteten Kommission der Weltgesundheitsorganisation:
Die Verringerung gesundheitlicher Ungleichheiten ist ein ethischer Imperativ. Soziale Ungerechtigkeit tötet Menschen in großem Stil.
Ungleichheit zerstört Demokratie
Die Liste der negativen Folgen von hoher Ungleichheit auf die Menschen setzt sich fort. Denn starke Ungleichheit ist auch eine enorme Gefahr für die Demokratie, wie hier bereits an einer anderen Stelle ausführlich thematisiert wurde.
Reiche Menschen haben eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, dass ihre politischen Interessen durchgesetzt werden.
Moralische Fragen der Ungleichheit
All die genannten Probleme blendet die Diskussion aus, die sich einzig auf Armut fokussiert und dabei die Frage von Ungleichheit ausklammert. Schon Adam Smith, eigentlich von Neoliberalen gerne zitiert, warnte mit deutlichen Worten vor Ungleichheit:
Keine Gesellschaft kann blühend und glücklich sein, in der der weitaus größte Teil der Mitglieder arm und elend ist. Außerdem ist es nur gerecht, dass diejenigen, die die Gesamtheit des Volkes ernähren, kleiden und beherbergen, einen solchen Anteil an den Erträgen ihrer eigenen Arbeit haben sollten, dass sie selbst einigermaßen gut ernährt, gekleidet und untergebracht sind.
Adam Smith
Eine Ablehnung einer zu hohen Ungleichheit führt zwingend zu einer grundlegenden ethischen Frage, die Ingrid Robyens in ihrem Buch "Limitarismus" stellt: "Kann ein Mensch zu reich sein?".
Die Konsequenz ist das Thema einer gerechten Steuerpolitik, die das staatliche Mittel schlechthin ist, um das gewünschte Maß an Umverteilung zu garantieren.
Eine naheliegende Lösung
Wer den Kampf gegen Armut wirklich ernst meint, kommt am grundsätzlichen Thema der sozialen Ungleichheit nicht herum, das den Widerspruch unserer Wirtschaft offenlegt.
Die Lösung der Armut liegt daher nicht in großzügigen Aktionen von Philantrokapitalisten, die mit einem mehr oder minder generösen Griff in die Portokasse der eigenen, mit zahlreichen Steuervorteilen aufgebauten, Stiftung ein wenig reduziert werden kann.
Die Lösung sozialer Ungleichheit ist viel grundsätzlicherer Natur: Eine gerechte Steuerpolitik. Durch Umverteilung wird die exzessive Ungleichheit reduziert und Armut gelindert.
Daher muss der Blick gerade darauf auch gerichtet sein, wie man die Steuerpolitik so gestaltet, dass insbesondere die Superreichen ihren gerechten Anteil an Steuern tatsächlich entrichten.
Eine kleine Frage
Es ist Zeit, das Thema der Vermögenssteuern aufzuwerfen. Eine naheliegende Lösung für all die genannten Probleme sozialer Ungleichheit. Eine Lösung allerdings, die Philantrokapitalisten keineswegs behagt.
Auf dem Weltwirtschaftsforum In Davos im Jahr 2019 fragte die Moderatorin (siehe Video) in die Runde:
Es gibt immer mehr Forderungen, diese Ungleichheiten, insbesondere die Lohnungleichheit, mit höheren Steuern zu bekämpfen. In den Vereinigten Staaten wurde insbesondere von der Kongressabgeordneten Ocasio-Cortez gefordert, Personen, die mehr als 10 Millionen Dollar verdienen, mit einem Steuersatz von 70 Prozent zu besteuern. Der derzeitige Spitzensteuersatz in den Vereinigten Staaten beträgt 37 Prozent. Michael Dell, unterstützen Sie das?
Die vielsagende Antwort von Michael Dell (Gründer von Dell Technologies):
Sehen Sie, meine Frau und ich haben vor etwa 20 Jahren eine Stiftung gegründet, und wir hätten bei einem Steuersatz von 70 Prozent meines Einkommens, meines Jahreseinkommens, deutlich mehr gespendet. Und ich fühle mich viel wohler damit, dass wir als private Stiftung in der Lage sind, diese Gelder den Menschen zukommen zu lassen, als dass ich sie dem Staat gebe. Nun gut. Also nein, ich unterstütze das nicht.
Einer der reichsten Menschen der Welt offenbart hier ein etwas eigenwilliges Demokratieverständnis. Nicht demokratisch gewählte Volksvertreter sollen also entscheiden, wie die Steuereinnahmen für das Gemeinwohl verwendet werden, sondern Michael Dell entscheidet einzig mit seiner Frau, ohne irgendwelche Auflagen, schon gar keine lästige Transparenz, was mit seinen Millionen gemacht wird. (Nebenbei wird "der Staat" als Gegensatz zu "den Menschen" bezeichnet).
An dieser Stelle muss man unweigerlich an die Worte des ehemaligen britischen Premierministers Clement Attlee denken:
Wohltätigkeit ist eine kalte, graue, lieblose Sache. Wenn ein reicher Mann den Armen helfen will, sollte er gerne seine Steuern zahlen und nicht aus einer Laune heraus Geld verteilen.
Bemerkenswert wird der Austausch aber dann, als Michael Dell versucht, seiner Einstellung eine objektive Grundlage zu geben: "Und ich glaube nicht, dass dies dem Wachstum der US-Wirtschaft förderlich wäre."
Dann lehnt er sich etwas zu selbstsicher weit aus dem Fenster:
Nennen Sie mir ein Land, in dem das jemals funktioniert hat!
Der ebenfalls anwesende Wirtschaftswissenschaftler Erik Brynjolfsson entgegnet hierauf:
Die USA. (…) Etwa von den 1930er- bis zu den 1960er-Jahren. (…) Und das waren eigentlich ziemlich gute Jahre für das Wachstum.
Auf einem anderen Panel im selben Jahr in Davos hatte der niederländische Historiker Rutger Bregman seinen Auftritt, der viral ging, als er zu einer kleinen Wuttirade ansetzte und schlussendlich forderte:
Hören Sie auf, über Philantropie zu reden, und fangen Sie an, über Steuern zu reden. (…) Steuern, Steuern, Steuern. Alles andere ist Unfug!
Im zweiten Teil des Artikels wird eine mögliche Steuerlösung untersucht.