Vernetzung im "finsteren Mittelalter" der Paläontologie

Geschichte des globalen Gehirns III

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Vor der sogenannten kambrischen Evolution habe sich, so die einhellige Meinung der Evolutionsforscher, seit der Entwicklung der Einzeller nicht mehr viel ereignet. In seiner Geschichte des globalen Gehirns weist hingegen Howard Bloom auf die vielen notwendigen "Erfindungen" hin, die zur internen Vernetzung, also zur Ausbildung von vielzelligen Organismen und schließlich zu der eines Nervensystems, geführt haben.

Ohne Kooperation, ohne das Leben in vernetzten Gesellschaften, hätten keine "höheren" Organismen entstehen können - und diese haben durch ihre interne komplexe Organisation und ihre Individualisierung einen Rückschritt gegenüber der Vernetzung mit anderen vollzogen, aus der sich etwa die Stärke und Anpassungsfähigkeit der Bakterien ableitet. Erst heute ist mit der menschlichen Intelligenz und der Computertechnik wieder ein vernetztes globales Gehirn möglich geworden.

Biologie, Evolution und das globale Gehirn - I
Bakterienkolonien und kollektives Gehirn - II
Vernetzung im "finsteren Mittelalter" der Paläontologie - III
Das embryonale Mem - IV
Von sozialen Synapsen zu sozialen Nervensträngen: Komplexe, adaptive Systeme im Jurassic-Zeitalter - V
Die Säugetiere und der Fortschritt des Geistes - VI
Werkzeuge der Wahrnehmung - Die Konstruktion der Wirklichkeit VII
Die Wirklichkeit ist eine gemeinsame Halluzination VIII

Vitalismus ist nicht die einzige Alternative zum Darwinismus. Ich schlage die neue Möglichkeit einer kooperativen Evolution vor, die auf der Formierung von kreativen Netzen basiert. Die Herausbildung des neuen Bildes beinhaltet einen Übergang von der rein reduktionistischen Perspektive zu einer holistischen, in der es im Bereich der Naturwissenschaften durchaus auch Kreativität gibt.

Eshel Ben-Jacob

Im vorhergehenden Kapitel meiner Geschichte des globalen Gehirns habe ich Hinweise darauf gegeben, daß das von Computerenthusiasten vorhergesagte Gehirn bereits 3,5 Milliarden Jahre existiert. Ich versuchte darzustellen, wie die Biologie der primitiven Cyanobakterien diese so ausgestattet hat, daß sie als Bestandteil einer parallel-verteilten Intelligenz handeln können. Das Ergebnis: eine soziale Kolonie, die Daten vernetzen, Probleme lösen, Genome neu arrangieren und genetische Verbesserungen über ein weltweites Netz senden und empfangen kann.

Aber 3,5 Milliarden Jahre sind lange vorbei. Was ist seitdem mit dem globalen Gehirn geschehen? Die Geschichte ist seltsam. Die Evolution produzierte in der Folge Lebensformen mit radikal neuen Fähigkeiten. Viele konnten weiter als lokal vernetzte Intelligenzen handeln, aber im Laufe ihrer Entwicklung fand eine ironische Verschiebung statt. Bakterien und Viren, diese robusten Veteranen aus der Zeit kurz nach der Bildung der Erdkruste, hielten an ihrem globalen Forschungs- und Entwicklungssystem fest. Doch die "höheren" Lebensformen, die mit Fähigkeiten ausgestattet waren, deren Potential sich erst mit der Zeit entfalten sollte, gingen, wie es im ersten Anblick erscheint, einen großen Schritt zurück. Sie haben zwar die Fähigkeit bewahrt, soziale Gruppen zu bilden und als gemeinsame Informationsprozessoren zu handeln, aber eine weltweite Zusammenführung von Daten in hoher Geschwindigkeit sollte eine Besonderheit der Mikroben bleiben, zu deren Neuerfindung die "hochentwickelte" Gattung 2,1 Milliarden Jahre benötigen sollte. Das neue Kapitel in unserer Geschichte handelt davon, wie und warum dies so war.

Erste Vernetzungen

Das Bild des Lebens ist gegenwärtig durch neue Entdeckungen und Theorien, die Monat für Monat entstehen, in Fluß geraten. Aber trotz der wechselnden Collage aus Vermutungen und Evidenzen stehen zwei Tatsachen fest.

  1. Jede Entdeckung schiebt die Evolution des Lebens zeitlich weiter zurück. Im November 1996 schwankte das Alter der ersten Zellen zwischen 3,5 bis 3,85 Milliarden Jahren und das Alter der ersten Zellen mit Zellkernen reichte von 1,6 bis 2,1 Milliarden Jahren vor unserer Zeitrechnung.
  2. Noch wichtiger ist, daß die Vernetzung, oft auch Synergie genannt, seit der ersten Sekunde der Entstehung des Universums für die Evolution maßgeblich gewesen ist. Vor ungefähr 12 bis 20 Milliarden Jahren entstand im Nichts ein mikroskopischer Punkt eines falschen Vakuums und wuchs in einer Geschwindigkeit jenseits aller menschlichen Vorstellung, indem es sich jede 10 hoch 34. Sekunde verdoppelte. Als es sich zu einer riesigen Größe aufblähte, kühlte es ab und ließ Quarks, Neutrinos, Photonen und Elektronen, schließlich die als Protonen und Neutronen bekannten Quark-Triumvirate durch seine Energie ausfällen. Ein Neutron ist ein Teilchen voller Begierde. Es kann sich selbst nicht länger als zehn Minuten erhalten. Um zu überleben, muß es mindesten einen Lebensgefährten finden und dann eine Familie bilden. Die ersten drei Minuten der Existenz werden mit kosmologischem Werben verbracht, da sich Protonen mit Neutronen paarweise anordnen. Dann wird schnell ein weiteres Paar angezogen, um in die Ehe einzuheiraten und ein Quartett aus zwei Protonen und zwei Neutronen eines Heliumkerns zu bilden. Die Neutronen, die diese Verbindung erreichten, erlangten Unsterblichkeit, während jene, die einzeln blieben, verschwanden. Ungefähr 12 Milliarden Jahre später besteht das Universum noch aus 25 Prozent Helium. Protonen hingegen scheinen alleine überleben zu können. Aber auch ihnen wurde ein unstillbares Verlangen verliehen. Umherhuschende Elektronen wurden von einer elektrischen Ladung überwältigt, an der sie teilzuhaben begehrten. Für Protonen waren diese Elementenfeen unwiderstehlich, weswegen weitere Hochzeiten eingegangen wurden. Aus den wechselseitigen Bedürfnissen der Elektronen und Protonen entstanden Atome. Atome mit unfertigen äußeren Hüllen sprangen im Verlangen nach Begleitern herum und fanden sie in gleichermaßen aller Hoffnung beraubten Gegenstücken, deren Elektronenvorsprünge in ihre leeren Schlitze und umgekehrt paßten. Durch diese Verbindungstriebe wurde, um Yeats zu paraphrasieren, "eine schreckliche Schönheit geboren".

Auf diese Weise ging es weiter. Eine physikalische Analogie zum unerwiderten Begehren wurde von Haltungen ausgelöst, die von der starken Atomkraft bis zur Schwerkraft reichen. Sie zogen Moleküle zu Staub, Staub zu himmlischen Klumpen zusammen und fügten Asteroiden, Sterne, Sonnensysteme, Galaxien und sogar die Megaschichten multigalaktischer Wirbel zusammen. Theorien wie die von Claude Shannon implizieren, daß die verflochtenen Elemente Informationsbündel darstellen - Daten, deren Zunahme an "Steckern" und "Steckdosen" jedes Mal wieder Neues entstehen ließ.

Eines der Produkte dieser anorganischen Kopulation war das Leben. Die letzten Funde lassen vermuten, daß die RNS den Weg für die DNS bereitet hat, kurz nachdem die Kruste der flüssigen Erde zu erstarren begann und ein massiver Hagel an Planetoiden auf die Erdkugel so eingedroschen hat, wie ein Boxer auf das Gesicht seines Gegners eintrommelt. Große Mengen an Desoxyribonucleinsäure erzeugten die ersten primitiven Zellen - die Prokaryoten - vor 3,85 Milliarden Jahren. 350000 Jahre später traten bereits die unverwechselbaren Zeichen eines komplexen sozialen Lebens auf: die von Millionen von Einwohnern bevölkerte Megalopolis, die man Stromatolithen nennt. Das paläontologische Dogma will es so, daß bis zur kambrischen Explosion vor etwa 535 Millionen Jahren nichts mehr Wesentliches geschah. Eine bekannte wissenschaftliche Autorin nennt, die Meinung der Experten zusammenfassend, diese Übergangszeit "drei Milliarden Jahre, in denen sich nichts ereignete." Naja, es gab gelegentlich einen Rülpser, sagen die gähnenden Autoritäten. Aber solche Augenblicke der evolutionären Verdauung sind kaum der Erwähnung wert.

Es gibt allerdings viele Zeichen dafür, daß diese Zeit nicht zum Gähnen langweilig war. Da Software-Innovationen - neue Verhaltens- und Interaktionsweisen - kaum fossile Rückstände hinterlassen und weil Paläontologen nahezu blind gegenüber der sozialen Aktivität von Protozoen sind, scheint die Hinterlassenschaft keine Produktivität zu zeigen. Doch es gibt Hinweise darauf, daß enge Organisationsformen langen und immer komplizierteren Erprobungszeiten ausgesetzt waren.

Verbindungen intelligenter Moleküle

Die ersten Zellen, die Prokaryoten, waren hoch koordinierte Vereinigungen von Bestandteilen, die wir mangels eines besseren Begriffs "intelligente Moleküle" nennen sollten. Jeder dieser molekularen Agenten widmete sich einer Lebensfunktion. Manche pumpten Zucker und Aminosäuren und reagierten auf Bedürfnisse an den Orten, an denen sie ihre Dienste leisteten. Andere reagierten auf Energiebedürfnisse, indem sie molekulares Brennmaterial zerlegten, um dessen Energie freizusetzen. Wieder andere hielten das chemische Gleichgewicht aufrecht, indem sie Proteine, Aminosäuren, Nukleotide, Vitamine und fetthaltige Säuren zusammenfügten, die selbst der menschliche Körper nicht selbst herstellen kann. Wir brauchen Prokaryoten - Bakterienkolonien - in unseren Gedärmen, um einige von diesen Produktionsaufgaben für uns zu erledigen. Molekülverbindungen innerhalb der prokaryotischen Zelle nahmen Hunger oder Gefahren wahr und gaben die Botschaften an andere Molekülgruppen weiter, die für Bewegung sorgten und es ihrem Wirt so ermöglichten, sich auf etwas zu stürzen oder zu fliehen.

Diese koordinierte Handlungsfolge von molekularen Agenten mündete in prokaryotischen Lebewesen wie Bakterien, die weitaus flexibler sind als jedes Computernetz. Bakterien haben die Erde seit mindesten 82 Prozent ihrer Existenz bevölkert. Und noch heute sind sie leistungsfähig. Fossile Spuren zeigen jedoch, das schon vor 2,1 Milliarden Jahren neue Interaktionsformen entstanden sind, als die ersten makroskopischen Organismen, die Grypania, zögernd in Erscheinung traten. Diese reifenartigen Verwandten der Cyanobakterien, deren Größe einem Draht entspricht, den man um einen Penny windet und dann von ihm löst, sind, wie man geglaubt hat, die ersten Eukaryoten gewesen. Wenn diese Annahme stimmen sollte, stellen Grypania nicht nur einen großen Sprung hinsichtlich der Größe dar, sondern sind sie auch eine Lebensform, die ihren Erfolg radikalen Durchbrüchen biologischer Intranets verdankten.

Die Entstehung von Intranets

Eukaryotenzellen waren Bakterien, die Bakteriengenossen als Gäste aufnehmen konnten. Sie machten aus solchen Besuchern wie Mitochondrien (protobakterienähnliche Energieerzeuger), Chloroplasten (cyanobakterienähnliche Konverter von Sonnenenergie, die Photosynthese ausführen konnten) und, am wichtigsten von allen, Spirochaeten permanente Bewohner. Die drahtigen und mit vielen Talenten ausgestatteten Spirochaeten wurden als Stützen für ein intrazelluläres Skelett, als zusammenziehbare Fasern für internen Transport, als wirbelnde Ruder zur externen Bewegung und als Organisatoren zur reproduktiven Teilung der großen genetischen Masse des Eukaryoten herangezogen. All diese früheren Gäste wurden jetzt mit jeder Replikation der Wirtszelle reproduziert. Größtenteils dank dieser Verschmelzungsmöglichkeit konnte nach der Biologin Lynn Margulis das Leben den ersten Holocaust durch giftige Abgase überleben, d.h. die Ausbreitung von Sauerstoff in der Atmosphäre, der für das frühe Leben tödlich war. Mitochondrien nahmen Sauerstoff auf und verwandelten ihn in Energie. Andere Mitglieder der neuen intrazellulären Gemeinschaft konnten die Gifte beseitigen, die der Sauerstoff hinterließ.

Wie es so oft bei der Erforschung des Lebens geht, sind Computermetaphern zu dürftig, um das Ergebnis zu beschreiben. Selbst eine Bakterienkolonie ist ein flexibler, selbstorganisierender, sich selbst reparierender und sich selbst verbessernder Apparat der parallelen Verarbeitung, der nicht nur neue Programme herstellt und berechnet, sondern auch seine Berechnungen ausführt und dann auf die Ergebnisse reagiert. Während ein einziges Bakterium ein biochemisches Netz ist, stellt der Eukaryot das Web dar, das aus der Verschmelzung von vielen biochemischen Netzen entsteht.

Schicht für Schicht vermischen sich Zweckverbände, um einen Prozessor zu bilden, der auf der nächsten Stufe der Vernetzungsleiter wiederum zu einem Modul wird. Eines dieser Module ist das Gen, ein anderes das Chromosom - eine langgestreckte Kette aus Genen, die nicht nur zusammen arbeiten, sondern in einem einzigen Molekül zusammengeschweißt sind. Im Gegensatz zu der im Begriff des "egoistischen Gens" enthaltenen Annahme, arbeiten alle Gene in Gruppen. Selbst die Gene eines Bakteriums sind in einem kreisförmigen Chromosom verbunden.

Ein prokaryotisches Bakterium mit seinem frei schwimmenden DNA-Ring könnte keine so komplizierte Zellteilung wie die Meiose ausführen, die einen perfekt gelenkten Prozeß darstellt, der eines Tages die sexuelle Reproduktion - ein entscheidendes Verfahren der Informationsmischung und -verschmelzung - ermöglichen sollte. Diese Revolution beim Datenaustausch ging aus einer Erfindung der Eukaryoten hervor: der Anordnung vieler verschiedenartiger Chromosomen zu Reihen in einem Zellkern. Die wie gut trainierte Paradegruppen gesteuerten Chromosomen konnten sich zu Genomen zusammenballen, die buchstäblich tausend Mal größer und unendlich komplexer als ihre Vorgänger waren.

Lynn Margulis behauptet, daß die gezähmten Spirochaeten der eukaryotischen Zelle nicht die innere Oberaufsicht über die Replikation und die äußere Aufgabe des Antriebs gleichzeitig ausführen konnten. Kann sich eine Zelle während ihrer "Schwangerschaft" nicht bewegen, so ist das gefährlich. Die sich teilende eukaryotische Zelle könnte auch nicht in angreifender Weise Nahrung suchen oder den Angriffen von jagenden eukaryotischen Verwandten aus dem Weg gehen, die sich auf der Suche nach einem Opfer durch das Wasser schlängelten. Die Lösung bestand darin, die Propeller der Spirochaeten an der Außenseite einer Zelle zu belassen, dann eine damit verbundene Zelle zu erzeugen, deren Spirochaeten innen bleiben und die Reproduktion ausführen konnten. Nach der Hypothese von Margulis führte die Bildung einer Gemeinschaft in einer Zelle zu einem weiteren großen Sprung bei der Evolution von Netzwerken: zur Vielzelligkeit.

Kolonien einzelliger Organismen konnten ausgesiebt werden und unter der Bedingung der Freiheit dann ihre zerschmetterte Polis wieder aufbauen. Die vielzelligen Lebewesen, die am Ende des paläoprotozoischen Zeitalters lebten, hatten diese Fähigkeit eingebüßt. Zum Ausgleich hatten sie die Möglichkeit gewonnen, weit größere Leistungen zu vollbringen. Die ersten Spuren, die man bislang von vielzelligen Organismen gefunden hat und die man Karbonschichten nennt, waren wahrscheinlich Blätter und Fäden von frühen Seegräsern, von 1,6 Milliarden alten Zusammenschlüssen der prokaryotischen Algen, zu denen die Cyanobakterien gehören. Diese frühreifen Eukaryoten waren nach Ansicht einiger Paläontologen passive vielzellige Blätter, die sich nur in Strömungen wellenförmig bewegen oder sich auf Felsen am Meeresgrund ansiedeln konnten.

Aber die fossilen Spuren lassen vermuten, daß sich vor einer Milliarde Jahren einzellige Eukaryoten aus der Unterwerfung der Pflanzen unter die Sonnenenergie befreit und die aggressiven und unruhigen Merkmale gezeigt haben, die wir mit Tieren verbinden. Die einzelligen Wanderer besaßen innere Skelette aus früheren Spirochaeten, äußere "Panzer", die man Pedikel nennt, und die Fähigkeit, nicht nur durch das Wasser zu schlängeln, sondern auch dank der spirochaetischen Mikroröhren zu kriechen, die ein Segment des Panzers mit einem anderen zusammenzogen und dann wieder das Paar auseinander treten ließen. Diesen Protozoen halfen beim Erwerb einer wachsenden Körpergröße und von neuen Leistungen. Es entstanden innovative Durchbrüche wie ein System innerer Röhren und Blasen, die Wasser sammelten und nach außen abgaben, bevor sich das Zelleninnere durch einen Wasserüberschuß aufblähen würde. Diese Entwässerungspumpe antizipierte die spätere Erfindung der Nieren. Ein anderer großer Fortschritt war die "Entwicklung", d.h. die Fähigkeit, eine Reihe von körperlichen Formen nacheinander anzunehmen, die jeweils verschiedenen Zwecken dienten. Ein Protozoon mochte sein Leben als sich schnell bewegender Flagellat beginnen, der neues Land zum Abbau suchte, und sich dann als langsam vorankommender, aber starker Amöbenklecks niederließ, als bestausgestatteter Ausbeuter der Umwelt. Das läßt sich damit vergleichen, am Beginn des Lebens ein Erkundungsflugzeug zu sein und dann zu einer Erntemaschine zu werden, wenn ein Kornfeld gefunden wurde.

Der Beginn des Nervensystems

Es gibt verlockende Hinweise auf unzählige, erst noch zu entdeckende Schritte auf dem Weg zu einer weiteren bedeutenden Vernetzungstechnik: dem Beginn eines Nervensystems. 3,5 Milliarden Jahre alte Cyanobakterien konnten bereits Daten aus sensorischen Molekülen innerhalb der Zelle zu molekularen Bewegungserzeugern übertragen, die es einem Bakterium ermöglichten, einer Bedrohung zu entfliehen und eine Gelegenheit zu ergreifen. Cyanobakterien in Kolonien entwickelten die Fähigkeit, Daten durch chemische Übermittler und Genstücke in alle Richtungen zu versenden, die wie Botschaften in einer Flasche durch die Gemeinschaft und über sie hinaus reisten.

Aber die Eukaryoten, ein Zusammenschluß von zuvor unabhängigen Lebewesen, die gemeinsam leben und sterben müssen, sind weitaus größere und kompliziertere Tiere. Ihre Ausrüstung zur internen Kommunikation besteht unter anderem aus einem Zytoskelett, einer röhrenförmigen Matrix, die sich ihrer Umwelt gegenüber lebendig verhält. Das Zytoskelett ist ein derart agiler Koordinator, daß einige wagemutige Theoretiker ihn schon als "Gehirn" bezeichnet haben. Der interne Datenverkehr wird auch von "sekundären Boten" wie dem zyklischen AMP unterstützt, das Nachrichten aufnimmt, die von den Eingängen der äußeren Membran kommen, und sie zu den Zielorten weitertransportiert, indem es die Funktionsweise der Membrankanäle korrigiert, energieproduzierende Mechanismen anschaltet, bestimmte Enzyme aktiviert und sogar die Geschwindigkeit und Ausrichtung der Zelle verändert, also buchstäblich ihre Mission neu definiert. Die Wege der zyklischen AMP sind nicht nur wegen der Genauigkeit ihrer Routen, sondern auch für die verwirrenden Entfernungen bemerkenswert, die sie überwinden. Ein durchschnittlicher Eukaryot ist zehn Mal größer als ein Prokaryot - und manche Eukaryoten sind tausend Mal größer als ihre zellulären Vorfahren. Eine schnelle Erkennung durch die Membrane und gleichermaßen schnelle Reaktionen, die durch sekundäre Boten ermöglicht werden, haben sich als extrem notwendig erwiesen.

Protozoen sind durch sich schnell bewegende Vettern, durch die Fleischfresser ihrer Welt, gefährdet. Manche eukaryotische Jäger haben neben Geiseln und Cilia zur schnellen Bewegung Giftdrüsen (Toxizysten) an ihrer Außenseite. Ein Protozoon auf der Jagd muß eine Menge an spirochaetischen Geiseln und antreibenden Fäden (Cilia) zur genauen Bewegungssteuerung koordinieren. Seine mögliche Beute, ausgestattet mit ähnlichen Bewegungsmitteln, muß genauso exakt seine Organe zur Flucht dirigieren.

Maschinen in Maschinen

Aber noch mehr weist darauf hin, daß ein Nervensystem am Entstehen war. Die primäre sensorische Fähigkeit eines Prokaryoten, beispielsweise eines Bakteriums, scheint von seiner Fähigkeit zu stammen, chemische Abstufungen bemerken zu können, d.h. Strömungen, deren zunehmende oder abnehmende Stärke dem Bakterium die Entscheidung ermöglichte, ob es zu einer chemischen Signalquelle hinschwimmen oder sich von dieser entfernten sollte. Einzellige Eukaryoten gingen einen riesigen Schritt voran und entwickelten spezialisierte Empfindungsorgane. Ein Beispiel ist der Augenfleck der Euglena. Manche Euglena setzen diesen Photorezeptor zusammen mit einem weiteren lichtempfindlichen Punkt auf einer ihrer Geiseln nahe am Mund ein und ließen so einen frühen Vorläufer des stereoskopischen Sehens mit zwei phototaxischen Organen entstehen.

Jedes Bakterium hatte seinen eigenen Mikroprozessor bei sich - sein einzigartiges Chromosom. Eine Bakterienkolonie vernetzte diese isolierten Computer zu einem ehrfurchtgebietenden kreativen Gehirn. Doch wieder einmal machten die Eukaryoten einen Sprung nach vorne. Sie gingen von einer einzigen intern verarbeitenden, programmierenden und neugestaltenden Einheit pro Zelle zu einer im Zellkern fest verbundenen Maschine von vielen Prozessoren. Um zusätzliche Informationsverarbeitungskapazität zu erzeugen, besaßen einige Zellen zwei oder mehr dieser vielfach verflochtenen Denkzentren. Ein normales Arrangement bestand darin, die Aufgabe der Reproduktion einem kleinen Kern zu übertragen und die Steuerung des Alltagslebens der Zelle einem bis zu vierzig Mal größeren Kern zuzuweisen. Zwei Protogehirne also anstatt einem.

Überdies sind die einzelligen Eukaryoten wie ihre Bakterienahnen ausgeprägte soziale Lebewesen. Schließt man aus ihrem gegenwärtigen Verhalten zurück in die Vergangenheit, dann lassen sich einige der daraus entstehenden Vorteile folgern. Die 65536 halb unabhängigen Zellen in einer Volvox vollzogen einen großen Schritt in Richtung auf eine bislang unbekannte Lust - zur sexuellen Reproduktion. Versammelt in einem hohlen Ball von der Größe einer Stecknadelspitze (1 mm), teilten sich die Angehörigen der Kolonie in zwei unterschiedliche Formen auf. Eine Gruppe konzentrierte sich darauf, den kollektiven kugelförmigen Körper zu bilden, die andere, die sich prophetisch in diesem befand, beschäftigte sich vor allem mit der Reproduktion. Daher setzte hier die Ausdifferenzierung von Körper- und Samenzellen ein, die entscheidend für die Entwicklung "höherer" Organismen werden sollte. Volvox waren offensichtlich nicht zufrieden mit der Erfindung einer Protosexualität, sie gehörten auch zu den ersten Lebensformen, die männliche und weibliche Kolonien bildeten.

Prokaryotische Myxobakterien bilden einen "Fruchtkörper", wenn sie sich vereinen, aber er ist so klein, daß er ungefähr 200 Mal vergrößert werden muß, um seine Einzelheiten erkennen zu können. Der Stiel der baumähnlichen Gestalt kann als Abflugort für seine Sporen dienen, die sehr klein sind. Eukaryotische Amöben können sich aber zu einer gigantischen Zelle mit einem Querschnitt von ungefähr 30 Zentimetern zusammenschließen. Dieser Haufen, den man ein Plasmodium nennt, enthält Milliarden von Zellkernen und kann sich entweder sexuell reproduzieren oder einen anderen Weg einschlagen und wesentlich mehr in die Höhe ragen als sein bakterielles Gegenstück. Wenn er sich für Sexualität "entscheiden" sollte, kann das Plasmodium eine Menge radikal neuer Prozesse ausführen, die bei weiter entwickelten Lebewesen die Bildung eines Embryos gestatten würde. Das hat einige Wissenschaftler zur Schlußfolgerung geführt, daß die plasmodischen Schleimpilze, wie diese Kolonien von talentierten eukaryotischen Amöben genannt werden, ein "missing link" zwischen einzelligen und solchen vielzelligen Tieren wie uns sein könnten.

Der Sprung beim Informationsaustausch zwischen Eukaryoten läßt noch einen weiteren Schritt in Richtung auf die Ausbildung eines Nervensystems sehen. Einige Formen der mit Cilien ausgestatteten Protozoen (Carchesium und Zoothamnium) erzeugten eine zweite Generation, die, anders als ihre einzelligen Eltern, sich bei der Geburt nicht vollständig abschotteten. Ihre direkte Verbindung miteinander ermöglichte einer Zelle, ein Hindernis zu erspüren oder so schnell die Daten weiterzuleiten, daß die Mehrheit nahezu augenblicklich und in völliger Koordination reagieren konnte. Die "Vernetzung" zwischen Zellen ist eine Vorform der neuronalen Komponenten. Beide waren umgeformte spirochaetische Mikrotubuli und hatten etwa 100 Proteine zur Signalübertragung gemeinsam. Die Aussichten sind gut, daß in den folgenden zwei Milliarden Jahren, die uns jetzt leer erscheinen, zahlreiche weitere Bestandteile von ersten Nervensystemen durch Versuch, Irrtum und gelegentlich zweckvolle Erfindung entwickelt wurden. Für Hinweise auf zweckvolle Erfindungen bei den frühesten Bakterien lese man das vorgehende Kapitel.

Diese evolutionären Erfolge waren sich aufeinander folgende Stufen auf dem Weg zur Vielzelligkeit. "Wenn einmal Mehrzelligkeit realisiert wurde", so der Biologe Helmut Sauer von der Würzburger Universität, "können sich alle Arten von Pilzen, Pflanzen und Tieren entwickeln ..."

Nach Helmut Sauer traten die ersten wirklich exotischen vielzelligen Lebewesen 1,4 Milliarden Jahre nach dem Beginn der neuen eukaryotischen Weiterentwicklungen auf. Das kürzlich entdeckte Fossil einer Muschel ist über 720 Millionen Jahre alt. Sie stellte die verbundenen Protozoen hinsichtlich ihrer Größe, ihrer Komplexität und internen Vernetzung in den Schatten. Sie besaß zwei mit einem Gelenk verbundene Schalen, die mit einem Paar kräftiger Muskeln bewegt wurden. Sie konnten sich mit ausgezeichneter Kontrolle öffnen und mit großer Kraft schließen. Ein zungenähnlicher Muskelfuß konnte ein Loch zum Verstecken in den Meeresgrund graben, eine Röhre nach oben in das Wasser schieben und sauerstoff- sowie nahrungsreiches Wasser filtern, wenn sie sich selbst eingegraben hat. Mit einem Filtersystem aus Cilia konnte sie die Flüssigkeit, die sie eingesaugt hat, wieder hinauspumpen und Protozoen sowie andere Nahrung mittels einer schleimigen Verbindung zum Mund aussieben. Die frühe Molluske besaß sogar ein Herz mit drei Kammern. All das mußte mit vielen Sensoren und einem Nervensystem verbunden werden, dessen zentrale Steuerung von drei datenverarbeitenden Gruppen (Ganglien) ausgeführt wurde. Ohne raffinierte Synergie wären diese verschiedenen Komponenten zwecklos. Durch ihre Vernetzung ließen sie etwas wirklich Neues entstehen: eine riesige und zweckvolle Vereinigung interagierender Bestandteile, eine nahezu unbegrenzte Zusammenballung von Maschinen in Maschinen.

Das Zeitalter der Geburt dieser zweischaligen Muscheln wurde von seltsamen und bislang kaum erforschten Lebewesen beherrscht: den Ediacaran. Diese wild variierten höheren Lebensformen waren offensichtlich Tiere mit einem weichen Körper, die am Meeresgrund lebten oder über ihn krabbelten. Die komplexe, mit vielen Beinen ausgestattete Physiologie von einigen Arten weist auf eine fortgeschrittene Datenübertragung zwischen den Milliarden von Zellen hin, aus denen das Tier bestand. Doch leider sind die ganze Geschichte der Ediacaran und die möglichen Hinweise auf ihre Mechanismen zum Informationsaustausch noch immer im Dunkeln verborgen.

Trotzdem besitzen wir eindeutige Hinweise auf die Fortsetzung von Gesellschaftlichkeit. Trilobiten beherrschten die Zeitspanne zwischen 600 und 500 Millionen Jahren. Diese gepanzerten Tiere, die das Meer absuchten, besaßen nicht nur Köpfe, Augen, sensorische Antennen und alle Zeichen für ein in ihrem Gehirn befindliches Nervensystem, ihre Fossilien werden meist auch in Gruppen gefunden. Einige Paläontologen, die aus dem Verhalten der noch lebenden Verwandten von Trilobiten wie den Hufeisenkrabben Rückschlüsse auf die Vergangenheit ziehen, vermuten, daß die gepanzerten Vorfahren sich zu Paarungsorgien versammelten, in denen sie ihre Panzer für einen maximalen Körperkontakt abwarfen. Der Trilobitenspezialist Kevin Brett führt Belege auf, daß die Männchen nicht größer als die Weibchen und viele dieser Trilobiten "aufwendig geschmückt" waren. Daraus und aus der Lage der Trilobiten in Fossilschichten leitet er ab, daß die sexuellen Feierlichkeiten vielleicht nicht in völliger Promiskuität stattgefunden haben. Moderne "Kröten begatten sich", so Brett, "mit nahezu allem, daher erkennen sie nicht notwendigerweise die Mitglieder ihrer eigenen Art." Er glaubt, daß die Trilobiten ein wenig wählerischer gewesen seien.

Der bekannte Wirbeltierzoologe K. B. Clark hat die Theorie formuliert, daß der einen halben Meter lange und wie ein Torpedo aussehende Anomalocaris canadensis beim Fressen in Herden umherschwamm. "Die größten Tiere in den meisten Ökosystemen sind normalerweise in Herden lebende Pflanzenfresser, und ich kann bei Anomalocaris nichts erkennen, was dem widerspricht." Allerdings räumt Clark ein, daß die Wissenschaft die Untersuchung der fossilen Hinweise nicht weiter vorangetrieben hat, die weitere Einzelheiten des kambrischen Soziallebens enthüllen könnten.

Eines aber ist sicher: ein großer Schritt vorwärts war auch ein gewaltiger Schritt zurück. Wie Lynn Margulis und Dorion Sagan in ihrem brillianten Buch "Mikrokosmos" ausgeführt haben, verloren vielzellige Organismen den blitzschnellen externen Informationsaustusch, die außergewöhnliche Erfindungsgabe und die globale Teilhabe an Daten der Bakterien, die weiterhin Seite an Seite mit den großen Tieren als deren Helfer oder Feinde lebten. Der frühere Physiker und jetzige Mikrobiologe Eshel Ben-Jacob behauptet, daß vielzellige Eukaryoten zumindest weiterhin Gene austauschen und neu gestalten, wodurch sie lokale Versionen von "kreativen Netzen" aufrechterhalten. Da sie jedenfalls nur über kleine Entfernungen miteinander kommunizierten, leisteten die Metazoen beachtliche Beiträge zur Ausbildung von internen Vernetzungen.

Ilya Prigogine, der Nobelpreisträger und Pionier selbstorganisierender Systeme, hat beobachtet, daß der Zusammenbruch des Fortschritts oft eine Illusion darstellt. Unter den zersplitterten Fragmenten bilden sich neue Strukturen und Prozesse. Und aus diesen Innovationen entstehen neue Ordnungen, deren Wunder ohne Zahl zu sein scheint. Die neuen Organismen hatten ihre Leistungsfähigkeit als individuelle Informationsverarbeiter gewaltig vergrößert. Wenn diese fortgeschrittenen Module weltweit vernetzt werden könnten, würde sich das Wesen des Spiels zum Guten wenden können.

Aus dem Englischen von Florian Rötzer