Verschwörerisches Flüsterkino mit versteckten Lautsprechern
In Berlin fand heimlich, still und auch noch ziemlich leise die Europapremiere von Michael Moores Dokumentarfilm "Fahrenheit 9/11" statt
Berlin, Sonntag abend. Von Norden her kommend zieht ein Gewitter über die Stadt. Überall flüchten leichtbekleidete Menschen in U-Bahn-Schächte und Hauseingänge. Alle haben es eilig. Da fällt kaum auf, dass irgendwo in Berlin Mitte, zwischen Spree und Straßenstrich, ungewöhnlich viele Leute in einem extrem unscheinbaren Haus verschwinden. Der Andrang ist jedoch kein Zufall. Schließlich soll hier die "Europapremiere" von Michael Moores skandalumwitterten Film "Fahrenheit 9/11" stattfinden.
Das Etikett "Europapremiere" ist natürlich übertrieben. Schließlich war der Film auf europäischem Boden erstmals beim diesjährigen Filmfestival in Cannes (Reise von der Hölle in den Himmel - und zurück) zu sehen, wo er – als erster Dokumentarfilm seit 1956 – mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Es war noch nicht mal die offizielle Deutschlandpremiere, denn im Kino ist der Film erst vom 29. Juli an zu sehen. Präsentiert wurde auch keine 35mm-Kopie, sondern ein Direkt-Mitschnitt einer Kinoaufführung, in Bootleg-Kreisen auch "Screener“ genannt – und zwar ausgerechnet vom Filmfestival in Cannes. Diese Kopie zirkuliert seit Wochen im Web und kann, das entsprechende Equipment und die Software vorausgesetzt, als Bit-Torrent-Kopie runtergeladen werden.
Für den Regisseur sind diese Downloads kein Problem, solange niemand daran verdient. Schließlich habe er diesen Film nicht gedreht, um damit reich zu werden – das ist er bereits. Seine Verleihfirma in den Vereinigten Staaten und der amerikanische Verband der Filmindustrie haben jedoch eine andere Haltung zum Thema Geld und sehen jede Art von Raubkopie mit großer Sorge. Was der für Deutschland zuständige schweizer Verleih von den Downloads und deren Vorführung hält, war bis Redaktionsschluss leider nicht zu erfahren, weil der zuständige Sprecher aktuell im Urlaub ist.
Was Michael Moore angeht, so dürfen sich die Berliner Veranstalter seiner Zustimmung gewiss sein, schließlich war der Eintritt frei. Und wer eine Kopie des Downloads wollte, konnte vor Beginn der Vorführung zwei Leer-CD-Rs am Brenntisch abgeben und hinterher bespielt einsammeln. Sowohl für die Veranstalter als auch für die Mehrzahl der Besucher war die Vorführung in erster Linie ein Happening. Und das war auch gut so, denn als Kino-Ersatz taugen Screener in der Regel nicht. Auch in diesem Fall ließen Ton- und Bildqualität zu wünschen übrig. Freimütig benannten die Veranstalter unmittelbar vor Beginn der Vorführung die Mängel der Bit-Torrent-Kopie: Wer auch immer die Leinwand in Cannes abgefilmt habe, sei offensichtlich nicht ganz in der Mitte des Kinosaals gesessen und habe kein separates Mikrophon dabei gehabt. Außerdem fehle in der Mitte des Films etwa eine Minute, weil der Bootlegger das Tape wechseln musste. Betroffen ist die Szene, in der Michael Moore durch New York City fährt und aus dem "Patriot Act" vorliest.
Und wenn der unbekannte Videofilmer mal aufs WC gemusst hätte?
Die fehlende Zentralperspektive wäre ja noch zu verschmerzen gewesen, doch hätten dem miserablen Ton ein paar ordentliche Lautsprecher gut getan. Leider waren die potenten Boxen gerade verliehen, also behalf man sich mit ein paar mickrigen Exemplaren, die allesamt im hinteren Teil des Saals versteckt waren. Die Folge: in den vorderen Reihen übertönte das Knarzen der ausrangierten Sofas die Ex-Kontrahenten Bush und Gore. Trotzdem verließen nur wenige Besucher vorzeitig den Saal. Überhaupt war das Publikum sehr leidensstark. Mehr schlecht als recht hatten sich die rund einhundert Besucher auf Kisten, Sofas und halblebigen Stühlen aller Art verteilt, einige saßen auf dem blanken Boden, andere lehnten an der Wand und verrenkten sich die Hälse.
Gezeigt wurde der Film in den Räumen von Bootlab, einem losen Zusammenschluss von kreativen Köpfen, die die unterschiedlichsten Projekte betreuen. Bevor es losging, wiesen die Veranstalter noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass Michael Moore persönlich die Downloads befürwortet habe. Allerdings wären sie sich nicht ganz sicher, ob das Okay auch für eine quasi öffentliche Vorführung gelte. Um sich etwas Mut zu machen, sagte Sebastian Lütgert von der Kinogruppe deshalb: "We are brave. We are just following orders." (Mit Rücksicht auf die englischsprachigen Gäste im Saal wurde englisch gesprochen.) Und weil Moore mit seiner Doku eine Wiederwahl von George W. Bush verhindern will, lagen an der Bar Antragsformulare für die Briefwahl aus – damit sich die anwesenden "Ex-Pats" gleich nach der Vorführung registrieren lassen konnten.
Legale Vorführungen hatten nicht so viele Interessanten angelockt
Michael Moores Doku war nicht der erste Film, den die Kinogruppe von Bootlab vorgeführt hat, allerdings sei es die erste Raubkopie gewesen. Nie zuvor waren so viele Schaulustige gekommen, und das, obwohl die Einladung quasi nur durch Mundpropaganda verbreitet wurde. Die Gastgeber können sich durchaus vorstellen, eine ganze Reihe zum Thema "Piraterie" zu machen. Schließlich handle es sich um ein allgemein verbreitetes Phänomen, zu dem es viele interessante Film gebe. Filme, die durchaus nicht alle in Form von Raubkopien vorliegen und die man auch nicht grundsätzlich als solche vorführen wolle. Aber wenn es sich vom Thema her anbiete – warum nicht? Den Film von Michael Moore als Download zu zeigen, sei angesichts der lebhaften Debatte um den Film und die Verleihrechte "einfach naheliegend" gewesen. Außerdem ist Lütgert fest davon überzeugt, dass solche Aktionen "eher publicityfördernd" sind; denn wer sich für Filme begeistert, der geht auch ins Kino. Es sei denn, man hat eine Schwäche für eine verzerrte Optik und unverständliche O-Töne.