Verschwörung, überall Verschwörung!
Wie die Front gegen "Verschwörungstheorien" in der Corona-Pandemie und danach entsteht. Woran man Unsinn erkennt. Und warum der Glaube an eine Verschwörung von Verschwörungstheoretikern eine Verschwörungstheorie sein kann.
Verschwörungsdenken werde oft als Gegensatz zu wissenschaftsorientiertem Denken dargestellt, schreibt Jörg Phil Friedrich in seinem Buch "Die postoptimistische Gesellschaft". Er zweifelt diesen Gegensatz an. Denn die Leitsätze, nach denen nichts durch Zufall geschehe, nichts so sei, wie es scheine und alles miteinander verbunden sei – all dies finde man auch in der Naturwissenschaft.
Friedrich verteidigt nicht weniger als den philosophischen Grundsatz Nihil est sine ratione – nichts geschieht ohne Grund. Leibniz habe diesen Gedanken verfolgt, Martin Heidegger hat ihn diskutiert.
Was aber bedeutet das für die Auseinandersetzungen unserer Zeit? Für den Corona-Kampf, der schon früh keine Debatte mehr war? Den kompromisslosen Haltungsstreit um den Ukraine-Krieg? Wie kommt es immer wieder zu Polarisierungen, die eine freie und demokratische Meinungsbildung behindern?
Darüber sprach Telepolis-Chefredakteur Harald Neuber mit dem Autor.
Herr Friedrich, vor allem in der Corona-Pandemie wurden Positionen zu staatlichen Maßnahmen zwei Lagern zugeordnet: Wissenschaft oder Verschwörungstheorie. Sie sagen nun, es gibt diesen Gegensatz gar nicht.
Jörg Phil Friedrich: Wenn man den Begriff "Verschwörungstheorie" ernst nimmt, dann besteht sie erst mal nur in der Annahme, dass hinter dem Geschehen, das wir beobachten können, eine Gruppe von Leuten steckt, die im Geheimen gewisse Ziele verfolgt und dafür relativ abgestimmt vorgeht.
Das ist erst mal eine Annahme, wie sie auch in den Wissenschaften durchaus vernünftig vertreten kann. Selbst die Naturwissenschaften kennen solche Annahmen, wobei es da natürlich keine geheimen Mächte, sondern z.B. Kräfte und Teilchen sind, die man nicht direkt beobachten kann, deren Existenz aber vieles erklären würde.
Bei der Erklärung politischer Vorgänge ist es immer eine vernünftige Annahme, das Wirken von Verschwörungen für möglich zu halten. Denken Sie nur an die Zerstörung der Nord Stream-Pipelines, da wäre es geradezu absurd, eine natürliche Ursache zu vermuten.
Es gibt aber auch viele kleine und mittlere Verschwörungen, manchmal klingt der Begriff da vielleicht ein wenig dramatisch, aber natürlich sind auch Hinterzimmer-Absprachen oder vertrauliche Gespräch darüber, welche Informationen man der Öffentlichkeit aus bestimmten Gründen vorenthalten will und welche man besonders intensiv publiziert, im Grunde Verschwörungen.
Daher die Aufregung und die Mutmaßungen über Bilderberg-Konferenzen, die Mont-Pélèrin-Society oder die Davoser Weltwirtschaftsforen?
Jörg Phil Friedrich: Für mich ist die Rationalität von Verschwörungstheorien erst da fragwürdig, wo angenommen wird, dass alles, was wir in Politik, Öffentlichkeit und Medien beobachten, letztlich von Verschwörungen gesteuert sei. Ich glaube, dass kritischer Journalismus oder auch die Widersprüchlichkeit unter Verschwörern letztlich immer die Chance bietet, dass Verschwörungen ans Licht kommen – und je mehr Leute eingeweiht sein müssten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass das geschieht. Deshalb haben globale Großverschwörungen keine Chance.
Auf die Corona-Pandemie bezogen heißt das dann: Die Suche nach Widersprüchen beim R-Wert, die Frage nach der Infektiosität von Geimpften; nach der Aussagekraft von Schnelltest; der These, dass diese Tests auch bei Virusfragmenten ein positives Ergebnis zeigen; das Hinterfragen der Übersterblichkeit; die Sorge über psychosoziale Schäden und verschleppte OPs durch Lockdowns: Das wäre okay.
Die These, dass ein Masterplan hinter der Pandemie steckt, um die globale Gesellschaft umzukrempeln oder dass Markus Söder schon 2019 von der Pandemie wusste und Angela Merkel ein Reptiloid ist, ist dann aber irrational?
Jörg Phil Friedrich: So ungefähr. Wobei man an den Beispielen schon sieht, auf wie absurd der Vorwurf, einer Verschwörungstheorie anzuhängen, oft ist. Ihre ersten Beispiele setzen ja alle nicht mal eine "Verschwörung" voraus, es sind ganz normale kritische oder skeptische Nachfragen zu Behauptungen, die einem nicht auf Anhieb einleuchten.
Ich würde sogar die Behauptung, dass es einen Masterplan gibt, noch als legitime Verschwörungstheorie anerkennen, wenn es dafür dann irgendwelche plausiblen Hinweise gibt. Dass es Leute gibt, die eine Pandemie zum Anlass nehmen wollen, um allgemeine Regeln zu verschärfen und Mechanismen zu etablieren, die Grundrechtseinschränkungen erleichtern, halte ich erst mal für eine legitime These.
Auch, dass solche Leute eine überschaubare Infektionswelle zur Gefahr für die Menschheit hochstilisieren, um ihre Pläne umsetzen zu können. Allerdings ist das eben keine funktionierende Großverschwörung, weil diese Leute keine direkten Durchgriffswege auf Regierungen, Parlamente und Medien haben, sodass die alle nach ihrer Pfeife tanzen. Wer das behauptet, müsste einerseits plausible Indizien vorlegen können und andererseits erklären, warum eben viele Medien und auch Politiker eben nicht das machen, was diese Verschwörungen wollen.
Aber unabhängig davon, ob es nun mehr oder weniger gut funktionierende Verschwörungen sind oder nur einflussreiche Leute mit guten Beziehungen, muss man gegen solche Tendenzen angehen, sie aufdecken und vor ihren Gefahren für Freiheit und Demokratie warnen. Deshalb ist mir eine Verschwörungstheorie, die übers Ziel hinausschießt, lieber als Leute, die meinen, es sei doch alles super und transparent.
Tatsächlich war die Corona-Politik lange Zeit höchst widersprüchlich und fragwürdig. Politische Entscheider entgegneten damals oft, man müsse eben "auf Sicht fahren", Parameter wurden an einem Tag propagiert und am nächsten verworfen. Inwieweit war diese Politik noch von wissenschaftlichem, inwieweit schon von verschwörungsgläubigem Denken getrieben?
Jörg Phil Friedrich: Schwierige Frage. Politik ist immer davon getrieben, dass sie nicht alles wissen kann, was wichtig wäre, und letztlich auch davon, dass die Ratschläge, die Wissenschaftler geben, unter politischen, ethischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkten die falschen sind. Eine Politik, die macht, was Wissenschaft fordert, hat schon versagt und ihre eigentliche Aufgabe, die Sicherung des sozialen Friedens auch in Krisenzeiten, verfehlt.
Wer bestimmt eigentlich, was eine Verschwörungstheorie ist?
Jörg Phil Friedrich: Während der Pandemie gab es auch in der etablierten Politik so etwas wie Verschwörungsdenken, wenn etwa das Wirken von Maßrahmenkritikern, von Leuten, die sich gegen Grundrechtseinschränkungen und unbegründete Regelungen gewehrt haben, die darauf hingewiesen haben, dass es zu der angeblich alternativlosen Politik eben doch Alternativen gab, gewissermaßen als Verschwörer gegen die Volksgesundheit hingestellt wurden und dass da auch der Eindruck erweckt wurde, die würden irgendwie eine abgestimmte Kampagne gegen die Regierung führen.
Das erleben wir jetzt ja in den Diskussionen rund um den Krieg in der Ukraine wieder. Da wird schnell mal behauptet, dass alle Leute, die sich skeptisch zur Politik des Westens äußern, von Putin bezahlt würden. Das ist natürlich auch eine Verschwörungstheorie.
Also mal konkret: War die Warnung unseres Gesundheitsministers Karl Lauterbach vor einer "Killervariante" des Sars-CoV-2 wissenschaftlich fundiert oder "Schwurbelei"?
Jörg Phil Friedrich: Ich mag das Wort "Schwurbelei" nicht, weil es so diffus ist. Manche bezeichnen ja jedes Argument, das sie nicht auf Anhieb verstehen, schon als Geschwurbel. Was Lauterbach betrifft, denke ich, dass das natürlich hochmanipulativ war, vor einer Killervariante zu warnen. Es gab keine wissenschaftlichen Grundlagen, die so etwas stützten, außer natürlich, dass es nicht völlig ausgeschlossen werden kann.
Aber wer Politik macht, indem er extrem unwahrscheinliche Szenarien als Schreckgespenst an die Wand malt, handelt unverantwortlich, er versucht, die Leute in Panik zu versetzen, um sie manipulieren zu können.
Auf der anderen Seite wurde das Hinterfragen von Maßnahmen wie Kontakteinschränkungen und Lockdown rasch geahndet. Gegen den Virologen Hendrik Streeck wurde sogar Strafanzeige erstattet – ihm wurde unterstellt, seine Studie gefälscht zu haben. Inwieweit hat der Konformitätsdruck in der Pandemie wissenschaftliches Denken und Forschen delegitimiert und ein demokratisches Miteinander beschädigt?
Jörg Phil Friedrich: Eigentlich war der Skandal ja nicht, dass da irgendjemand eine Strafanzeige gestellt hat, sondern dass sofort alle möglichen großen Medien darüber berichtet und die Vorwürfe in die Welt getragen haben, ohne erst mal zu schauen, wer der Autor dieser Anzeige ist und was die Staatsanwaltschaft dazu sagt.
Bekanntlich hat sie die Anzeige schon einen Tag später abgeschmettert. Welchen Nachrichtenwert hat es denn, dass irgendwer gegen einen anerkannten Wissenschaftler eine Strafanzeige stellt? Solange man nicht weiß, wer das ist und was da dran ist, eigentlich gar keinen. Aber da es gegen Streeck ging, wurde es sofort überall gemeldet, und Streeck sollte sich bei Lanz noch am selben Tag dazu äußern.
Da ist natürlich schon auffällig, dass das ausgerechnet einen Wissenschaftler trifft, der andere Ansichten vertritt als seine Kollegen, die inzwischen öffentlich als unumstrittene Experten in der Öffentlichkeit etabliert waren.
Wenn wir nun die Frage stellen, wer da die Informationen von der Staatsanwaltschaft so schnell weitergegeben hat und wie es sein kann, dass das binnen weniger Stunden so viele führende Medien erreicht, die dann wiederum alle entscheiden, das sofort ungeprüft zu bringen, dann vertreten wir vielleicht eine Verschwörungstheorie. Und das ist auch gut so, denn die Annahme, dass da Netzwerke koordiniert aktiviert werden, um eine Stimmung zu erzeugen, ist sowohl plausibel als auch wichtig.
Welche Rolle haben Medien – und ich beziehe mich auf die diskursprägenden Akteure, die Leitmedien, könnte man sagen – also gespielt, um legitime Forschung zu beschädigen?
Jörg Phil Friedrich: Durch den eben geschilderten Mechanismus wurde wissenschaftliches Forschen zu delegitimieren versucht. Früh haben sich viele Medien festgelegt, wer die Kapazitäten sind, auf die man hören sollte. Da muss allerdings nicht mal eine Verschwörung am Werk sein.
Medien schauen, wer als vertrauenerweckend und kompetent in Frage kommt. Da sind schon Namen bekannt, die werden angerufen, und dann schaut einer beim andern, welche Experten denn medientauglich sind und kompetent rüberkommen. Das ist dann ein selbstverstärkender Effekt.
Auffällig ist, dass gerade bei uns in Deutschland in der Krise immer Experten ausgewählt werden, die mit der Regierungsmeinung konform gehen, die Politik stützen und womöglich sogar noch ein wenig radikaler sind als die Politik - meistens so radikal sind, wie die Politik gern wäre, die dann aber "Kompromisse macht".
Das konnte man bei der Pandemie beobachten, aber auch beim Klimawandel oder jetzt beim Krieg in der Ukraine. Auch dahinter vermute ich persönlich keine Verschwörung, ich glaube, dass es einfach ein großes Bedürfnis nach gesellschaftlichem Konsens in vielen großen Medien gibt, jedenfalls, was die großen Krisen betrifft.
Und so wird entschieden, wer an der Meinungsbildung teilnehmen darf und wem die Diskursfähigkeit abgesprochen wird.
Jörg Phil Friedrich: In der Pandemie, aber auch in der aktuellen Diskussion um den richtigen Kurs des Westens gegenüber Russland, wird dann massiv versucht, die Leute wissenschaftlich und intellektuell zu delegitimieren, die sich dem gewünschten breiten Konsens verweigern. Sie werden nicht zum Schweigen gebracht, man versucht vielmehr, sie als Außenseiter, als ahnungslos darzustellen und sie lächerlich zu machen.
Das ist natürlich ein Trend, der der Wissenschaft und der intellektuellen Debatte im Kern schadet, weil nicht ums Argument diskutiert wird, sondern um die Frage, wem die Leute schlicht glauben sollen. Und damit wird der demokratische Diskurs um das bessere Argument und die gesellschaftlich akzeptable Lösung natürlich am Ende zerstört.
Warum, denken Sie, fällt es so vielen Menschen schwer, zwischen diesen Polen zu unterscheiden? Das betrifft auch andere emotionale Debatten: die Flüchtlingspolitik etwa, ebenso – Sie haben es erwähnt – den Ukraine-Krieg.
Jörg Phil Friedrich: Weil wir am liebsten Klarheit wollen, klare Freund-Feind-Unterscheidungen, die auch noch mit der Gut-Böse-Unterscheidung zusammenpassen. Dann weiß man, was das Richtige ist, was zu tun ist, und das schafft Sicherheit.
Wenn man anerkennt, dass die Leute, die den beliebtesten Experten widersprechen, auch gute Argumente haben, dann wird die Welt unübersichtlich, man fühlt sich gelähmt und unsicher.
Deshalb entscheiden sich ja leider viele Leute, die den Regierungen und Experten misstrauen, am liebsten für das andere Extrem: Die Politiker, anerkannten Experten und etablierten Medien lügen und nur die Underdogs sagen die Wahrheit. Was natürlich auch nicht stichhaltig und plausibel ist.
Ich werfe mal eine These in die Runde: Die Welt ist so kompliziert geworden, die Informationsflut so massiv, dass viele Menschen sich nicht mehr mit Argumenten auseinandersetzen wollen, sondern an Thesen abarbeiten. Was einem nicht passt, wird zur Verschwörung und darf nicht geäußert werden.
Wenn ich kritisiere, dass in einem 500-Einwohner-Dorf in Mecklenburg-Vorpommern 400 Flüchtlinge untergebracht werden sollen, bin ich ja nicht per se ein rassistischer Provokateur.
Wenn ich argumentiere, dass die Lockdownpolitik vor allem schadet und besser vulnerable Gruppen geschützt werden sollten, bin ich nicht zwingend Propagandist der "Querdenker"-Bewegung.
Und wenn ich darauf verweise, dass der Ukraine-Krieg auch im Versagen des Westens begründet ist, muss ich nicht von Putin bezahlt sein.
Inwieweit liegt dem Glauben an Verschwörungstheorien selbst eine Bereitschaft zur Verschwörungstheorie zugrunde?
Jörg Phil Friedrich: Genauso ist es: Die Leute, die so gern vor Verschwörungstheoretikern warnen, und alles darüber erklären, dass Verschwörungstheoretiker die einfachen Leute manipulieren würden, hängen letztlich auch einer Verschwörungstheorie an: Alles, was ihnen nicht passt, schieben sie einer Verschwörung in die Schuhe, einer Verschwörung von "Verschwörungstheoretikern".
Man müsste annehmen, dass ihnen diese Lücke in ihrem Argument selbst auffällt, dass sie sich sagen: Wenn es, wie ich annehme, keine Verschwörungen gibt, die das Weltgeschehen beeinflussen, dann kann ich auch dem Geschehen, das mir missfällt, nicht das Wirken böser Kräfte unterstellen.
Aber Verschwörungstheoretiker sind natürlich immer nur die anderen, meine eigenen Verschwörungsthesen sind berechtigt, nur die der anderen sind Unsinn.
Jörg Phil Friedrich wurde 1965 in Wolgast (heute Mecklenburg-Vorpommern) geboren und ist in der Brandenburgischen Provinz aufgewachsen. Er studierte Physik und Meteorologie und ist Diplom-Meteorologe. Später studierte er Philosophie, Dieses Studium schloss er als Master of Arts ab. Er ist Mit-Gründer eines Softwarehauses, für das er bis heute tätig ist. Regelmäßig schreibt er für verschiedene Online- und Printmedien zu Fragen der praktischen Philosophie, insbesondere über technik- und wissenschaftsphilosophische Themen und zu Aspekten der politischen Philosophie.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.