Verschwörungstheoretiker blasen zur Hexenjagd auf Historiker
Besorgte Bürger in Witten fordern Zensur von Wissenschaft
Ein Bündnis begabter Verschwörungstheoretiker, getragen von Wittener SPD und Jusos, Wittener Bündnis90/Die Grünen und sogar der ehemals zensurkritischen Piratenpartei NRW, fordert von der privaten Universität Witten-Herdecke die Ausladung des Schweizer Historikers Dr. Daniele Ganser, der am Donnerstag dort einen Vortrag über Medienkritik halten soll. Außerdem fordern die Wittener Verschwörungstheoretiker Distanzierung von Gansers "Thesen", ohne solche jedoch konkret zu benennen.
Die selbst ernannten McCarthys, die sich irreführend als "Bündnis gegen Verschwörungswahn" formiert haben, konstruieren in einem gemeinsamen offenen Brief selbst krude Verschwörungstheorien über Ganser und Personen, die rechtes Gedankengut verbreiten. Indiz für eine unerwünschte Gesinnung seien Auftritte des gefragten Redners auch auf Veranstaltungen, wo man tatsächlich fragwürdigen Personen eine Bühne bot. Ganser hat sich jedoch von Antisemitismus und Holocaust-Leugnung klar distanziert und bestreitet eine Kenntnis entsprechender Einladungen rechter Redner vehement.
Die aberwitzig-naive Zurechnung fremder Äußerungen und der reaktionäre Zensuraufruf der selbsternannten Inquisition grenzen an Realsatire, denn Gansers Thema lautet Wer kontrolliert die vierte Gewalt? Fakten, Meinungen, Propaganda - Wie mache ich mir selbst ein Bild?. Die durchweg hysterische Hexenjagd auf den von Wittens besorgten Bürgern geächteten Dr. Ganser wird nämlich häufig mit Gansers Wikipedia-Eintrag begründet, dessen Objektivität der Schweizer Historiker bereits in der dritten Zeile bezweifelt. Über Entstehen und redaktionelle Hoheit des fragwürdigen Wikipedia-Eintrags erschien letzte Woche sogar eine detaillierte Filmdokumentation Die dunkle Seite der Wikipedia, die Ganser inzwischen kommentierte. Die Hetze gegen den Friedensforscher erinnert an den unbeholfenen Versuch von Spindoctors, die Berliner Anti-TTIP-Demo in die rechte Ecke zu stellen.
Wer seine Meinungsbildung nicht an die Wikipedia delegiert, kann sich von Ganser anhand von YouTube-Videos seiner Vorträge oder der Lektüre seiner Bücher selbst ein Bild machen. Ganser hatte sein eigenes Swiss Institute for Peace and Energy Research - SIPER gegründet, um unabhängig zu Energie- und Friedenspolitik forschen zu können (Die Welt im Erdölrausch). Der Einfluss etwa der mächtigen Energieindustrie auf die etablierte Forschung ist kaum zu unterschätzen. So wurde dieser Tage bekannt, dass der Exxon-Konzern bereits 40 Jahre vom Klimawandel wusste und statt einer Warnung 30 Millionen Dollar in schwarze PR investierte, um die Lehre vom Klimawandel als Verschwörungstheorie zu diskreditieren. Umso beschämender ist es daher, dass ausgerechnet die aus der Ökologie und Friedensbewegung stammenden Grünen dem ökologischen Friedensforscher den Mund verbieten wollen.
Nicht zu den provinziellen Blockwarten gesellt haben sich Linkspartei, FDP und CDU. Ausdrücklich distanziert von der Hetze gegen den Wissenschaftler hat sich inzwischen die Junge Union Witten, berichtet die Zeitung Der Westen. Die Forderung auf Ausladung Gansers sei ein "Angriff auf die freie Lehre". Das Bündnis sei "dreist" und wolle offenbar der Uni schaden.
Was passiert, wenn sich Zensur-Eiferer durchsetzen, kann man dieser Tage in der Ukraine beobachten. Dort sind inzwischen etwa Schriften von Karl Marx und Filme mit Gérard Depardieu verboten. Schon Charlie Chaplin stand in den USA einst auf der Schwarzen Liste. Ungarn hat 2010 die Medienzensur eingeführt und damit in den Redaktionen ein auch nach Lockerung verbliebenes Klima der Selbstzensur etabliert. In Saudi Arabien werden Blogger ausgepeitscht, wenn sie Unerwünschtes schreiben. In der Türkei lässt die Regierung unliebsame Redaktionen mit Kettensägen stürmen (Türkei: Polizei besetzt Redaktionsgebäude regierungskritischer Medien).
Neulich sagte der Iran seine Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse ab, weil dort Salman Rushdie las. Mancherorts wird Kanzlerin Angela Merkel mit Photoshop entfernt, weil man dort ein Problem mit mächtigen Frauen hat. In den USA wird in öffentlichen Einrichtungen der Zugriff auf WikiLeaks blockiert, bei der Air Force sogar der auf etablierte Medien, wenn diese über WikiLeaks-Cables berichten - obwohl es die eigenen Informationen sind. In Russland ist das Internet staatlich kontrolliert, ähnliche Pläne hegte "Zensursula" von der Leyen.
Die Universität Witten-Herdecke lässt sich von den Wittener Zensur-Taliban nicht beirren und beruft sich auf die vom Grundgesetz in Art. 5 Abs. 3 GG geschützte Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre. Der Dekan der Fakulät für Kulturreflexion, Professor Dirk Baecker, und Seminarleiter Dr. David Hornemann-von Laer beschrieben in einem Telepolis vorliegenden Antwortschreiben die Universität als Ort der lebendigen Auseinandersetzung auch mit abweichenden Meinungen. Genau das heiße Forschung und Lehre. Es gäbe keine wissenschaftlichen Entdeckungen, wenn Wissenschaftler nicht gegen die herrschende Meinung auf ungewöhnliche Phänomene, Erklärungslücken, methodische Fehler und sogenannte Anomalien in Theorien aufmerksam machen würden. Die Universität sei ein Ort der Erkenntnissuche und kein Ort des Dogmas.
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