Vertiefte Konfusion oder Viele Theorien verderben den Brei
Bücher zur Medientheorie
Vermutlich ist es heute wahrscheinlicher, in der Publikationsflut über den Cyberspace zu ertrinken, als sich daselbst zu verlaufen. Wer kann sie noch überblicken, die Publikationen zu den Neuen Medien? Angesichts der quantitativen Zumutungen bieten sich zwei Strategien an: man liest, wie etwa Norbert Bolz es tut, die Klassiker wieder: Benjamin, McLuhan, Blumenberg; oder man reduziert Komplexität durch Anthropologie, wie K. Ludwig Pfeiffer es in seinem soeben erschienen Werk über "Das Mediale und das Imaginäre" macht.
Hinter den vielen Medien und Technologien, Netzwerken und Experimenten entdeckt Pfeiffer das immer gleiche menschliche "Verlangen nach Spannungserlebnissen". Die menschliche Grundausstattung sei der Grund dafür, dass "Kulturen" aller Zeiten und Orte "Medien - traditionell: Künste" brauchen, die "packende, faszinierende Erfahrungen" ermöglichen, "ohne welche soziale wie private Lebensformen imaginativ austrocknen würden". In gelassener Gleichgültigkeit gegen die völlig unscharfe Verwendung des Begriffs "Medien" werden Kunst und Künste, Medien und Massenmedien, Sportspektakel und Rituale auf das Bedürfnis des Menschen nach Flow-Erlebnissen und Fesselung der Aufmerksamkeit bezogen. Wo die Medientheorie die Übersicht zu verlieren droht, schafft die Anthropologie entlastende Klarheit.
Einen anderen Weg geht Manfred Faßler in seiner Studie "Cyber-Moderne. Medienevolution, globale Netzwerke und die Künste der Kommunikation". Faßler stellt sich der Komplexität der Lage und der Kontingenz ihrer Beschreibung, ohne sich in ihrer Simplifizierung zu versuchen. Vielmehr lässt er sich auf so ziemlich alles ein, was es im Cyber-Diskurs schon an Beschreibungen gibt, um an dieser kunterbunten Semantik weiterzuschreiben. Faßler weiß: "Auf dem Theorie- und Politikmarkt ist alles zu finden. Künstlerinnen und Künstler antworten anders als Medienwissenschaftler, Technikhistoriker anders als Informatikerinnen." Dies ist für ihn Grund genug, in seinem Buch eine Synthese all dieser Diskurse vom Cyberspace anzustreben, nicht ohne auch noch "Neurowissenschaften", "Chaostheorie", "avancierte Systemtheorie", "Konstruktivismus" oder postmoderne Philosophie in den eigenen Ansatz zu integrieren. Derart ausgestattet mit dem Rüstzeug eines postmodernen Polyhistors, macht Faßler sich dann daran, unser "Verständnis für die enormen Veränderungen in gegenwärtiger Welt" zu vertiefen.
Ein Mittel zum Zweck sind Definitionen. "Die Struktur der multiversalen Netzwerke, die durch Interaktivität entstehen und Verbindungen programmierter Zusatzräume darstellen, bezeichne ich als Kon-Netze." Auch ist von "Immunikation" die Rede oder von der "kommunio-aversen Nutzung medialer Realitäten" Die neuen Begriffe spielen im weiteren Verlauf der Arbeit keine Rolle mehr und werden nicht einmal im Glossar erwähnt, man ahnt, was derart vertieft wird: die Unübersichtlichkeit der Lage.
Die Kombination von Theorien und Methoden führt - trotz der vielen, mit fett gesetzten Aufzählungszeichen versehenen definitorischen ‚Schärfungen' - nicht gerade zur begrifflichen Klärung. So heißt es etwa im Bezug auf die "System-Umwelt-Beziehungen", dass Informationen aus der Umwelt in die Systeme kopiert würden, so als seien sie schon vorhanden und müssten nur ausgewählt werden. Faßler scheint - unter völlig falsch verstandenem Anschluss an Luhmann - anzunehmen, dass Systeme "aus der Umwelt das übernehmen, was sie unter den Bedingungen des eigenen Verhaltens benötigen": nämlich Informationen, die dann beispielsweise von "Medien" selektiv verbreitet, "also im herkömmlichen Sinne manipuliert" werden können.
Diese Vorstellung, es gäbe in der Umwelt der Medien Informationen, die dann nach bestimmten Interessen ausgewählt, manipuliert und verbreitet würden, widerspricht aber nicht nur diametral der systemtheoretischen Konzeption der Massenmedien1, sondern auch Faßlers eigener Überzeugung, (auch) einen neurobiologisch und kybernetisch informierten Konstruktivismus zu vertreten. Er geht von der "Generierung" von Realitäten aus, und dieses "Prinzip der Erzeugung" gelte für die "menschliche Wahrnehmung" genauso wie für die "technisch virtuelle Realität" der "digitalen Medien". Die Hirnforschung habe gezeigt, dass Wahrnehmung weniger im Verarbeiten gegebener Daten bestehe, sondern schon auf "subkortikaler" Ebene im Erzeugen von internen Zuständen aus internen Zuständen. Das ganze "Leben" stelle also "eine Art Wirklichkeitssimulation dar".
Wenn das aber so ist, was heißt das für die Cyber-Moderne? Wenn die Produktion der Wirklichkeit im Hirn der anthropologische Normalfall ist, wie kann man dann behaupten, dass erst im "Medienverbund" des "globalen Cyberspace" die "Beobachtung zu einer Kunst des Virtuellen" werde? Sie müsste es je schon sein. Faßler verkündet das Ende der "Trennung von res cogitans und res extensa", denn der Geist erzeuge erst das Sein der Dinge (andererseits schreibt Faßler auch: "Netze sind phyikalisch reale Maschinen" und daher zu "unterscheiden" von ihrer "informationellen", darf man sagen ‚geistigen' Nutzung). Sichtbar werde dieses Prinzip der Welterzeugung in der "Kybernetik der künstlichen Welten". Aber was unterscheidet dann noch die Simulationen der Computer von den Simulationen unseres Bewusstseins?
"Neurobiologie und Hirnforschung" , die bemüht werden, um die These plausibel zu machen, die Menschheit trete in eine zeit- und ortlose Epoche instantaner Interaktion telepräsenter Akteure im Cyberspace ein, machen es zugleich schwierig, die Differenz zwischen VR und RL auszumachen. Was für Probleme man sich so einhandelt, lässt sich etwa am Beispiel des Mediums Buch vorführen. "Das Buch ‚verhält' sich überhaupt nicht, ist eher unveränderte Physikalität der Zeichen", beschreibt Faßler die Passivität des alten Mediums. Dass der Leser das Buch als Anlass zur Wirklichkeitskonstruktion nehmen kann, dass er es aktiv und phantasiereich rezipieren kann, wird hier nicht erwähnt, denn an dieser Stelle soll ja die "Interaktivität" des "aktiven Mediums Computer" gelobt werden. Was eine "Datenreise" im Cyberspace von einer Buchlektüre unterscheidet, wenn doch beide Medien nur Anlass subkortikaler S(t)imulationen sind, wird nicht bedacht.
Faßler ist an manchen Stellen verblüffend genau, wenn er etwa den "persischen Mathematiker Abu Ja'far Mohammed ibn Músa al-Khowarizm" offenbar nur erwähnt, weil er den Namen schreiben kann, und an anderen wieder verblüffend unpräzis, etwa wenn "soziale Systeme" als "Kultur oder Nation" verstanden werden oder wenn er in der "Unterscheidung von reinen und angewandten Künsten", von "schöner und angenehmer Kunst", die er auf Kant zurückführt, den "Dualismus von Realität und Trug" am Werk sieht. Kant jedoch unterscheidet wertfrei mögliche Relationen des Gemüts zu einem Objekt. Von dort zur aktuellen Alternative "Heroisierung" des Virtuellen oder "Informations-Apokalypse" ist es ein endloser Weg, Faßler aber braucht dafür nur zwei Sätze. Fazit: eine "hinreichend abstrakte und flexible Medientheorie" bleibt wohl weiterhin ein Desiderat.
K. Ludwig Pfeiffer: "Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie", Frankfurt/M 1999, Suhrkamp Verlag, 620 S., DM 78,-.
Manfred Faßler: "Cyber-Moderne. Medienevolution, globale Netzwerke und die Künste der Kommunikation", Wien, New York 1999, Springer Verlag, 264 S., DM 68,-.