Verursachen psychisch Kranke finanziellen Schaden?

Seite 3: Ent-schuldigende Praxis

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Die Medizin (inklusive der klinischen Psychologie), die sich hier vielleicht als ent-schuldigende und damit helfende Praxis anbietet, wird das Problem nur kurzfristig lösen. Jedenfalls die chronisch Kranken und Erwerbsunfähigen werden nämlich irgendwann aus ihrem Schutz herausfallen, wenn man nur lange genug an der Kostenschraube dreht. Solche Tendenzen sieht man schon in Großbritannien, wo bestimmte Leistungen nicht mehr vergütet werden, wenn das Kosten-Nutzen-Verhältnis ungünstig berechnet wird.

Klinische Psychologinnen und Psychologen sollten sich daher gemeinsam gegen die Ökonomisierung stellen, anstatt ihre Klienten versicherungskonform abzufertigen; sie hängen aber selbst am Tropf der Krankenkassen und sind von bürgerlich-individualistischen Vorstellungen von Schuld und Verantwortung geprägt (Wie viel Schlechtes können wir der Seele zumuten?). Von der Neuro-Psychiatrie ist hier auch keine Hilfe zu erwarten, da sie das Problem prinzipiell im Einzelnen lokalisiert (Wenn Psychologie politisch wird: Milliarden zur Erforschung des Gehirns).

Prinzipien und Empowerment

Anstatt immer neue Berechnungen über Gesundheitskosten anzustellen, sollten wir uns lieber auf einige Prinzipien besinnen: Erstens sind wir alle in diese Welt geworfen. Niemand entscheidet sich dafür, geboren zu werden, in einen Körper, der der Nahrung und des Schutzes bedarf. Zweitens sind die Chancen auf Güter ungleich verteilt. Es ist niemandes Verdienst, in eine wohlhabende Umgebung geboren zu werden; ebenso wenig ist es jemandes Schuld, in eine arme Umgebung geboren zu werden. Ein sozialer Rechtsstaat muss dieser Chancenungleichheit entgegenwirken.

Drittens sollten Hilfsmaßnahmen die Menschen nicht in Abhängigkeit halten - man denke nur an die Tafeln (Die Würde des Menschen ist unauffindbar) -, sondern in ihren Möglichkeiten zur Selbstständigkeit unterstützen, Stichwort Empowerment. Alles andere ist schließlich politische Unterdrückung. Viertens gehört Krankheit ebenso wie der Tod zum Leben und sollten wir dort, wo eine Heilung unwahrscheinlich ist, dies akzeptieren; damit vermeiden wir zusätzliches Leiden.

Sozialwissenschaften sind wichtig

Fünftens sollten wir nicht vergessen, dass Gesundheit allgemein und psychische Gesundheit im Besonderen von sozialen Faktoren abhängt, wie dem Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, dem sozioökonomischen Status, dem Partnerschaftsstatus, dem Vorhandensein von Kindern, dem Geschlecht, ernsthaften Lebensereignissen und dem Alter. Viele dieser wissenschaftlich gut belegten Befunde geraten im Zeitalter der Biomedizin in Vergessenheit, wo viele Forscherinnen und Forscher nur in Genen und Gehirnen nach Krankheitsursachen suchen.

Den in mehreren Ländern seit der Finanzkrise steigenden Selbstmordraten kann die Biomedizin aber mit nichts begegnen. Viele dieser Menschen werden durch individuelle Verarmung und die Zerstörung sozialer Strukturen in den Tod getrieben - und können dabei noch nicht einmal etwas für die Krise. Vielversprechende Ansätze gibt es zur Genüge, werden aber oft nicht finanziert; stattdessen wirft man riskanter Grundlagenforschung die Milliarden hinterher, die bestenfalls in der fernen Zukunft einen Nutzen erzielt.

Menschenwürde

Sechstens und vor allem darf aber niemandem der Zugang zum Lebensnotwendigen verwehrt werden. Das ist in einem Staat, in dem die Unantastbarkeit der Menschenwürde an oberster Stelle steht, schlicht nicht möglich. Politische Konstrukte der Verpflichtung und Verantwortung - die Hartz IV-Gesetze sind nur ein Beispiel hierfür - unterlaufen diese Grenze allmählich aber stetig und sind darum bedingungslos abzulehnen.

Diese Gesellschaft ist gemacht; darum kann man sie auch anders machen.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.