Verzweiflung sorgt für Tote an Grenzen im "Europa ohne Grenzen"
Seite 2: "Irgendwann kommen sie durch"
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Wie sind die Erfahrungen nun hier? Kommen die Leute rüber oder wird das effektiv über die Kontrollen verhindert?
Gari Garaialde: Menschen, die aus Mali, Guinea oder Kamerun eine Wüste durchquert haben, die über den Atlantik oder das Mittelmeer gekommen sind, die oft zwei Jahre unterwegs waren und nicht selten 3.000 Euro an Schleuser bezahlt haben, lassen sich von einem Fluss und Polizeikontrollen nicht abhalten. Ich habe mit einem jungen Mann gesprochen, der 19 Tage in einem Boot ausgeharrt hat. Sie erzählen dir, dass von 23, mit denen sie gestartet sind, 14 auf dem Weg gestorben sind…
Klar, es ist schwieriger geworden, aber sie kommen trotzdem durch. Und sie werden stets einen Weg finden, hier oder an einer anderen Stelle. Wir haben hier Leute, die fünf-, sechsmal oder noch öfter zurückgeschafft wurden. Irgendwann kommen sie durch. 4.100 Personen wurden auf der Durchreise hier im vergangenen Jahr in Irun von uns und dem Roten Kreuz registriert.
Sie sind fast alle über die Grenze gekommen. Wir hätten sonst ein ganz anderes Bild in den Straßen hier, 4.000 Menschen würden in der Stadt hier deutlich auffallen. Früher oder später kommen fast alle rüber, die es wirklich wollen. Bisweilen versuchen sie auch, durch den Fluss zu schwimmen. Das führte letzte Woche wieder dazu, wie vor zwei Monaten schon einmal, dass sie sie dabei ertrinken.
Wie stellt sich die Lage gegenwärtig dar und wieso kommt es plötzlich zu drei Toten hier in den letzten drei Monaten? Ist das Verzweiflung, dass die Leute es nun versuchen, durch den Fluss zu kommen?
Gari Garaialde: Sicher. Viele glaubten, dass sie in Europa an den Grenzen keine Probleme mehr haben würden, was nach einer oft langen Reise mit vielen Problemen eine psychologisch sehr schwierige Situation ist und ihnen oft schwer zu schaffen macht. Sie sind oft auch müde und ausgelaugt, wenn sich dann vor ihnen das nächste Hindernis aufbaut.
Im Fall des 18-jährigen Abdulaye Kulibaly, der aus Guinea kam, stellte sich die Lage so dar. Er kam vier Tage vor diesem tragischen Sonntag in Irun an und wurde beim Roten Kreuz registriert. Er hatte es vier oder fünf Mal erfolglos versucht, über die Grenze zu kommen, um zu seinem Onkel in Nantes zu gelangen. Der junge Mann wurde immer wieder zurückgebracht.
Er hat auch Schleusern 100 oder 150 Euro bezahlt, wie wir von Leuten aus seinem Umfeld erfahren haben. Doch er wurde in Hendaye aufgegriffen und wieder nach Irun gebracht. Dazu kam, dass er in dieser Nacht nicht wieder in den Einrichtungen des Roten Kreuz übernachten konnte, eigentlich ist das nur für drei Tage möglich, er war aber sogar vier Tage dort. Der Druck und die Verzweiflung wurden immer größer, weshalb er es wohl dann durch den Fluss versucht hat.
Der gefährliche Fluss
Wie besprechen die freiwilligen Helfer des Netzwerks die Fluss-Problematik mit Neu-Ankömmlingen? Der Bidasoa sieht ja, vor allem bei Ebbe oder ein paar Kilometer weiter oben nicht gerade wie ein großes Hindernis aus.
Gari Garaialde: Bis vor etwa fünf Monaten haben wir das Thema gar nicht angesprochen, weil wir uns nicht vorgestellt hatten, dass jemand es schwimmend durch den Fluss versuchen könnte, da es doch immer wieder andere Möglichkeiten gibt. Erst als auf der anderen Seite in Hendaye gerade noch aus dem Fluss gerettet werden konnte, ist uns das Problem richtig klar geworden. Wir warnen nun alle davor, es über den Fluss zu versuchen.
Die Strömungen sind heimtückisch, auch wenn das nicht so aussieht, die Situation ändert sich bei Ebbe und Flut ständig. Dass es bisweilen gerade einmal 20 bis 25 Meter bis zur anderen Seite sind, ist aber verlockend, vor allem wenn die Verzweiflung steigt. Nachdem der 28-jährige Yaya Karamoko, der aus der Elfenbeinküste kam, Ende Mai im Bidasoa sein Leben verlor, warnen wir eindringlich vor dem Fluss. "Nicht durch den Fluss", sagen wir immer wieder.
Angesichts von zwei Toten sprechen wir nun nicht mehr mit den Leuten von einer abstrakten Gefahr, sondern von einer ganz konkreten. Aber wenn es keine andere Möglichkeit gibt, werden sie es auch weiter durch den Fluss versuchen. Sie werden alles tun, um auf die andere Seite zu kommen.
Gab es nicht noch einen dritten Toten?
Gari Garaialde: Das stimmt, aber über den jungen Mann aus Eritrea, der sich am Flussufer erhängt hat, wissen wir nur wenig. Ob es aus Verzweiflung war oder andere Gründe hatte, wissen wir nicht.
Welchen Zweck haben die Kontrollen, wenn es praktisch doch alle schaffen, sie zu überwinden?
Gari Garaialde: Sie verhindern tatsächlich nichts, sie schaffen nur Leid, Verletzte, Tote. Sie machen nur den Weg schwerer. Aus unserer Sicht machen sie keinen Sinn. Aber vor allem sind sie wohl dazu da, um zu zeigen, dass man etwas tut, vor allem gegenüber Rassisten und denen, die sich gegen Flüchtlinge und Einwanderer stellen.
Diese Klientel soll darüber beruhigt werden. Die Grenze wirklich zu öffnen, würde vermutlich zu großen Problemen mit diesen Leuten führen und das wäre wiederum Wasser auf die Mühlen der Ultrarechten.
Den Leuten die Realität vor Augen halten
Vielleicht eine etwas persönliche Frage. Ist das für Sie als professioneller Fotograf schwierig, wenn sie sich auf der einen Seite um Hilfe für die Leute bemühen und dann Bilder machen müssen, wie man sie als Leichen aus dem Fluss zieht?
Gari Garaialde: Das hat mich natürlich schon arg mitgenommen, aber mir ist natürlich auch klar, dass man diese Vorgänge dokumentieren und ans Licht der Öffentlichkeit zerren muss, sonst ändert sich nichts. Es ist eine Form, Druck zu machen, auch wenn sich dadurch vermutlich unmittelbar nichts ändert. Ich sehe das aber auch durch das professionelle Auge.
Ich bin auch Fotograf geworden, weil ich zu bestimmten Vorgängen eine kritische Haltung habe. Ich arbeite natürlich auch im Auftrag, aber ich versuche, so oft wie möglich, die Sachen zu fotografieren, die ich wichtig finde und man veröffentlichen sollte. Das können angenehme oder unangenehme Vorgänge sein.
Deshalb dokumentiere ich jetzt auch seit drei Jahren die Vorgänge hier an der Grenze. Viele Sachen können wir vielleicht heute noch nicht erzählen, aber um sie später erzählen zu können, muss man sie heute dokumentieren.
Es ist wichtig, den Leuten die Realität vor Augen zu halten, denn auch hier wird zum Teil ignoriert, welche Dramen sich vor der eigenen Haustür abspielen. Es ist verträglicher, davon zu lesen, dass ein Boot im Atlantik gekentert ist und Dutzende Menschen im Meer verschwunden sind. Aber es ist etwas anderes, wenn direkt vor der eigenen Nase Menschen sterben.
Wie geht die Gesellschaft hier im Umfeld in Irun, Hondarribia oder auch auf der anderen Seite der Grenze in Hendaye damit um? Stößt die Arbeit des Netzwerks oder stoßen die ankommenden Einwanderer und Flüchtlinge eher auf Ablehnung oder auf Solidarität?
Gari Garaialde: In Hendaye kenne ich mich nicht so gut aus, ich gehe aber davon aus, dass das in etwa gleich ist. Zu 90 Prozent herrscht vermutlich Gleichgültigkeit vor. Es ist klar, dass es auch Ablehnung gibt, Leute die Angst vor der Andersartigkeit anderer Menschen haben. Einige beschweren sich, aber am Anlaufpunkt kommen immer wieder Leute vorbei, die sich kümmern und informieren wollen.
In Irun haben zum Beispiel viele Geschäfte sehr gut reagiert, die uns die gesamte Kleidung und Schuhe nach den Schlussverkäufen zur Verfügung stellen, um sie weitergeben zu können. Insgesamt würde ich sagen, es gibt mehr Solidarität als Ablehnung.
Viele solidarische Hilfe gibt es auch auf der anderen Seite, denn letztlich heißt unser Netzwerk zwar Aufnahmenetzwerk Irun, aber es beteiligen sich auch Menschen und wir arbeiten mit Organisation aus Hendaye eng zusammen.