Videoüberwachung und Demokratie

Warum die Demokratie ohne Anonymität nicht funktioniert

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Videokameras, die öffentliche Räume überwachen, ermöglichen immer wieder spektakuläre Fahndungserfolge der Polizei. Gerade in den letzten Wochen hat sich das wieder gezeigt. Deshalb ist es völlig verständlich, dass der Ruf nach einer flächendeckenden, lückenlosen Videoüberwachung des öffentlichen Raums immer lauter wird. Mehr Videokameras sorgen für mehr Sicherheit - das ist die Überlegung, die dahinter steht.

Dagegen sprechen datenschutzrechtliche Überlegungen. Darüber wird politisch debattiert. Viel zu wenig wird aber diskutiert, dass eine flächendeckende Überwachung öffentlicher Plätze und Straßen auch eine Bedrohung für die Demokratie sein kann. Darüber muss gesprochen werden.

Unter Beobachtung

Der öffentliche Raum steht zunehmend unter Beobachtung. Smart Cams verbreiten sich schnell. Der Trend geht dahin, dass sich Öffentliche und Private mit unterschiedlichen "intelligenten" Kameras ein immer genaueres Bild des öffentlichen Raums verschaffen. Beispiele dafür sind nicht nur die stationären Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen oder in U-Bahn- Stationen. Die Kameras werden mobil: Private und öffentliche Drohnen liefern Bilder und Filme aus der Vogelperspektive; Bodycams von Polizeibeamten, Dash Cams in Fahrzeugen und GoPros, die von Privatleuten getragen werden, dokumentieren immer lückenloser und in Echtzeit, was im öffentlichen Raum passiert.

Mit der Videoüberwachung ist ein großes Versprechen verbunden: Mehr Sicherheit im Alltag auf öffentlichen Plätzen, Straßen, Parks und U-Bahn-Stationen. Ist das ein realistisches Versprechen? Sicher ist: Videoüberwachung hilft sehr bei der kriminalistischen Aufklärung von Straftaten. Viele der spektakulären und schnellen Fahndungserfolge in der jüngsten Zeit wären ohne Videoüberwachung nicht denkbar. Aber schreckt eine umfassende Videoüberwachung potentielle Täter auch ab? Das ist keineswegs geklärt. Terroristen oder Amokläufer werden sicher nicht abgeschreckt. Auch plötzliche scheinbar unmotivierte Gewaltausbrüche, die sich gegen Unbeteiligte richten, lassen sich damit kaum verhindern.

Öffentlicher Raum als Lebensraum

Der öffentliche Raum ist wichtig - für die Gesellschaft und die Politik. Er ist der Ort für soziale Begegnungen, Interessendurchsetzungen und Konfliktbewältigungen. Im öffentlichen Raum wird Sport getrieben, es gibt Feste und Umzüge. Der öffentliche Raum entfaltet gesellschaftliche Bindekraft. Er ist - ohne Übertreibung - der Lebensraum.

Im öffentlichen Raum wird - das zeigen etwa Militärparaden - Macht demonstriert. Hier werden durch Demonstrationen politische und soziale Ansprüche geltend gemacht. Nicht zuletzt werden im öffentlichen Raum auch politische Konflikte ausgetragen. Neuere Beispiele dafür sind etwa der "Platz des himmlischen Friedens" in Peking, der Alexanderplatz in Ost-Berlin, der Taksim-Platz in Istanbul oder der Maidan in Kiew. Öffentlicher Raum hat auch eine große Bedeutung für eine funktionierende Demokratie.

Demokratie im öffentlichen Raum

Die Geschichte der Demokratie beginnt mit einem öffentlichen Raum - der Agora, dem Marktplatz des antiken Athen. Hier trafen sich die Bürger, um über politische Fragen zu debattieren und zu entscheiden. Hier tagte die Volksversammlung (ekklesia), das wichtigste Entscheidungsgremium.

Bis heute gehört zum Wesen der Demokratie die öffentliche Kommunikation. In kleinen Demokratien versammeln sich die Bürger noch heute auf dem Marktplatz, um gemeinsam politische Fragen zu entscheiden. Die Schweiz ist dafür das Paradebeispiel. Selbstverständlich ist das in der modernen Massendemokratie praktisch kaum möglich. Öffentliche Kommunikation in der Demokratie ist heute deshalb zum großen Teil eine Kommunikation über Massenmedien und in sozialen Medien.

Trotzdem bleibt der - analoge - öffentliche Raum wichtig für die Demokratie. Denn hier treffen völlig unterschiedliche Welten aufeinander. Hier begegnen sich Banker und Hartz IV-Empfänger auf Augenhöhe. Das kann zu Irritationen und Denkanstößen führen. Dabei wird die entscheidende Fähigkeit der Demokratie gefordert und gefördert. Nämlich die Fähigkeit, Kompromisse mit völlig widerstreitenden Interessen zu schließen, statt Zwang und Gewalt anzuwenden.

Wie wichtig der öffentliche Raum für die Demokratie, dokumentiert das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in Art. 8 GG. Es ist - in den Worten des Bundesverfassungsgerichts - als "kollektive Meinungsfreiheit" unentbehrlich für die demokratische Ordnung. Stringent weitergedacht bedeutet das: Der öffentliche Raum ist unentbehrlich für die demokratische Ordnung. Hier beginnt die Demokratie-Problematik der Videoüberwachung.

Überwachung und Demokratie

Kann ein vollständig überwachter öffentlicher Raum seine Funktion für die Demokratie noch erfüllen? Das ist eher zweifelhaft. Menschen ändern sich und ihr Verhalten, wenn sie sich nicht mehr unbeobachtet und unidentifizierbar fühlen (können). Demokratie funktioniert deshalb nur, wenn es ein Minimum an Anonymität gibt. Warum ist das so?

Menschen neigen zur Konformität. Sie tendieren im Zweifel dazu, sich in ihrem Denken und Handeln der Mehrheit anzuschließen. Für eine lebendige Demokratie ist das ein Problem. Wenn alle Bürger sich unkritisch dem Mainstream anschließen, entsteht kein demokratischer Diskurs. Denn der demokratische Diskurs funktioniert nur, wenn auch unterschiedlichste Minderheitsmeinungen artikuliert und debattiert werden (können). Nur dann besteht eine Chance, dass gute Lösungen gefunden werden. In der Demokratie müssen Menschen dem Gruppendruck widerstehen und der Mehrheitsmeinung tatsächlich widersprechen (können). Kurz gesagt: Sie müssen sich auch mal was trauen.

Wie lässt sich das sicherstellen und erleichtern? Von grundlegender Bedeutung dafür sind sicher die demokratischen Beteiligungsrechte, die die Verfassung gewährleistet. Das reicht aber nicht aus. Menschen brauchen auch die Zivilcourage, diese Grundrechte immer in Anspruch zu nehmen - auch wenn es unbequem oder schwierig ist.

Dazu ist ein Minimum an Anonymität notwendig. Sie schafft zusammen mit einer intakten Privatsphäre den Schutzraum, in dem sich abweichende, irritierende, innovative Einstellungen, Meinungen und Verhaltensmuster entwickeln können. Das ermöglicht dann ungewöhnliche Debattenbeiträge, die dem Mainstream widersprechen - und den demokratischen Diskurs bereichern und weiter bringen.

Sicherheit durch Überwachungskameras

Und was ist mit der Sicherheit? Müsste nicht die Sicherheit der Bevölkerung über allem stehen? Müsste dazu nicht die Videoüberwachung lückenlos ausgebaut werden?

Diese Forderung wird in der politischen Diskussion erhoben. Das ist aber nicht die Konzeption der deutschen Verfassung. Das Grundgesetz will beides: Sicherheit und demokratische Freiheit. Völlige Sicherheit, aber ohne Freiheit wäre verfassungswidrig.

Und umgekehrt gilt das auch: Grenzenlose Freiheit ohne Sicherheit ist ebenfalls nicht mit der Verfassung zu vereinbaren. Das ist wie immer ein ganz schwieriger Balanceakt. Aber wer hat gesagt, dass eine lebendige Demokratie einfach ist?

Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler ist Jurist und Politikwissenschaftler an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.

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