Viehzucht oder Umweltschutz? Niederländische Bauernproteste eskalieren

Die "Farmers Defence Force" (hier bei Bauernprotesten im Jahr 2020) hat sich im Nachbarland einen Namen gemacht. Foto: Ministerie van Defensie / CC0 1.0

Blockierte Autobahnen, Flughäfen und Warenzentren: In der vergangenen Nacht schossen Polizisten erstmals auf einen heranfahrenden Traktor.

Stickstoffverbindungen sind Bestandteil von Proteinen (Eiweißen) und damit unerlässlich für das Leben auf der Erde. Auch Pflanzen brauchen sie für ihr Wachstum. Darum wird Stickstoffdünger in der Landwirtschaft zur Steigerung der Erträge angewandt.

Wie so oft gibt es aber auch zu viel des Guten: Wenn die Böden zu nährstoffreich sind, verdrängen beispielsweise Brennnesseln, Brombeersträucher und Gräser andere Arten. Diese Abnahme an Biodiversität beeinträchtigt wiederum die Vielfalt von Insekten und schließlich Vögeln, die sich von den Tierchen ernähren.

Durch Regen wird der Stickstoff in Gewässer gespült, wo Algen und andere Pflanzen wuchern. Dann bleibt mitunter zu wenig Sauerstoff und Licht für Fische und andere Wasserbewohner übrig. Stickstoff lässt auch die Nitratwerte steigen, was schließlich die Gesundheit der Menschen beeinträchtigen kann.

Stickstoffkrise

Aus diesen Gründen gibt die Europäische Union verbindliche Grenzwerte für die Stickstoffbelastung in der Umwelt vor. Laut Schätzungen der niederländischen Behörden ist die Landwirtschaft für 46 Prozent der Stickstoffvorkommen verantwortlich. Die Privathaushalte und der Verkehr würden jeweils zu 6 Prozent beitragen.

Um die Stickstoffvorkommen zu kontrollieren, erteilen die Behörden Erlaubnisse. Im Jahr 2019 entstand aber eine bis heute ungelöste Krise, als das oberste Verwaltungsgericht in Den Haag – unter Einbeziehung des Europäischen Gerichtshofs – die gesetzlichen Stickstoffpläne für ungültig erklärte. Laut den Richterinnen und Richtern belasteten die Pläne vor allem die Naturschutzgebiete zu stark.

In dem Urteil wurde insbesondere die Viehzucht als Problem genannt. Das dort verwendete Kraftfutter ist nämlich reich an Stickstoff. Ein Großteil davon landet zwar in den Nahrungsprodukten wie Eiern, Fleisch und Milch. Ein immer noch großer Teil gelangt aber über die Ausscheidungen der Tiere als Gülle in der Umwelt.

Laut einer Studie des unabhängigen Forschungszentrums TNO sind die Niederlande – relativ zur Fläche – der größte Stickstoffproduzent Europas, gefolgt von Belgien und Deutschland. Übrigens wird Deutschland auch vor dem Europäischen Gerichtshof wegen Überschreitung der Stickstoffwerte verklagt und wurde erst 2021 rechtskräftig verurteilt. Eine ähnliche Krise wie in den Niederlanden steht hier womöglich noch bevor.

Wütende Bauern

Durch das niederländische Gerichtsurteil wurden sofort tausende Bauprojekte gestoppt, unter anderem Vergrößerungen von Flughäfen. Um den Beitrag durch den Verkehr zu senken, senkte man zudem die Höchstgeschwindigkeit auf vielen Autobahnstrecken von 130 auf 100 km/h. Insbesondere Staus sind schlecht für die Stickstoffbilanz.

Aufgrund des großen Beitrags durch die Landwirtschaft stehen natürlich auch Bäuerinnen und Bauern im Fokus. Diese protestierten bereits im Oktober 2019 gegen schärfere Auflagen für ihre Betriebe. Die Lobbyorganisation "Farmers Defence Force" macht schon mit ihrem Namen die Bereitschaft zum Widerstand deutlich. Es kam auf mehreren Straßen zu Blockaden mit Traktoren.

Im Juni dieses Jahres eskalierte die Situation erneut, als die Regierung – hier gibt es seit 10. Januar 2022 sogar ein eigenes Ministerium für Natur und Stickstoff – ihre neuen Zielvorgaben bekanntmachte. Demnach müssten vor allem in der Nähe zu Naturschutzgebieten die Emissionen um 70 bis 80 Prozent sinken. Dafür müssten in vielen Fällen die Viehbestände erheblich reduziert werden.

Heißer Sommer

Seit 22. Juni blockieren die Landwirte vor allem Flughäfen und Autobahnen, die sie mit ihren Traktoren gar nicht befahren dürfen. Auch mit Strohballen, die vereinzelt angezündet wurden, blockierte man den Verkehr.

Gleich am 22. Juni hatte auf der A12 allerdings ein 40-jähriger Bauer einen Zusammenstoß mit einem Lkw und verunglückte schwer. Seine Frau und 17-jährige Tochter, die mit im Traktor saßen, wurden nur leicht verletzt. Laut der Frau hat ihr Mann alle erdenklichen Knochen gebrochen.

Bei einer Spendenaktion für die Familie kamen inzwischen mehr als 130.000 Euro zusammen. Mit dem Geld sollen der Arbeitsausfall des Bauern und der Verlust seines Fahrzeugs kompensiert werden.

Mancherorts leisteten sich die Landwirte ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. So räumten sie beispielsweise am 4. Juli nach Anrücken einer Hundertschaft zwar die in beiden Richtungen blockierte A37 nahe der deutschen Grenze – um die Autobahn dann über eine andere Auffahrt erneut zu blockieren.

Aufgrund des unvorhersehbaren Verkehrschaos wichen Reisende zunehmend auf die Züge aus, um beispielsweise den Amsterdamer Flughafen Schiphol zu erreichen. Am 4. Juli schlossen sich im Norden auch die Fischer an den Aktionen an und blockierten mehrere Häfen. Die ebenfalls bei deutschen Urlaubern beliebten friesischen Inseln waren darum vorübergehend vom Festland abgeschnitten.

Leere Regale

Weitere Blockaden richteten sich gegen die Supermärkte: So blockierten Bäuerinnen und Bauern in weiten Teilen des Landes deren Warenhäuser und Verteilzentren, beispielsweise der großen Ketten Jumbo, Albert Heijn und Aldi. Das hat schon in mehreren Filialen dazu geführt, dass Regale nicht mehr gefüllt werden konnten.

Einem Sprecher des Einzelhandels zufolge werde man unschuldig für die Regierungsmaßnahmen verantwortlich gemacht. Aus den Reihen der Bauern heißt es aber, die Supermärkte seien aufgrund ihrer Vertragsgestaltung Teil des Systems. Man wolle der Öffentlichkeit zeigen, wie es ohne die Produkte der Bauern in den Läden aussehen würde.

Verwüstungen und Schüsse

Vereinzelte Aktionen richteten sich direkt gegen Regierungsmitglieder. Beim Privathaus der Stickstoffministerin Van der Wal durchbrachen Bauern sogar die Polizeiabsperrung und leerten einen Gülletank aus. Dabei wurde auch ein Polizeiwagen verwüstet. Im Zusammenhang hiermit kam es inzwischen zu acht Festnahmen.

Gegen die übrigen Blockaden geht die Polizei vermehrt mit Bußgeldern vor. In der Nacht auf den 6. Juli erreichte die Eskalation dann die nächste Stufe: An der Auffahrt zur A32 in der Nähe von Heerenveen gaben Polizeibeamte erst Warnschüsse und dann auch zwei gezielte Schüsse auf einen heranfahrenden Traktor ab.

Laut Angaben der Polizei hat der Fahrer versucht, Polizisten und Polizeifahrzeuge anzufahren. Drei Verdächtige seien festgenommen worden. Wie bei gezielten Schüssen durch Polizeibeamte üblich, untersucht die Landespolizei nun den Vorfall. Ein auf Twitter vielfach geteiltes Video zeigt den Eklat.

Wie weiter?

Die Intensität der Aktionen scheint am heutigen 6. Juli nachzulassen. Die kleineren Flughäfen in den Provinzen Drenthe und Groningen wurden blockiert. Zum Teil sind die Aktionen schon wieder vorbei. In Groningen hätten die Landwirte Vereinbarungen mit der Uniklinik getroffen, dass mit dem Helikopter gelieferte Spenderorgane durchgelassen würden.

Im friesischen Drachten wurde das Verteilzentrum von Aldi blockiert. Doch nach einigen Stunden zogen die Bäuerinnen und Bauern wieder ab.

Wie die Situation ausgeht, ist zurzeit unklar. Von Seite der niederländischen Regierung ist bisher keine Bereitschaft zum Einlenken sichtbar. Am 3. Juli wurde der 71-jährige Politiker Johan Remkes als Vermittlungsperson bestimmt. Dieser gehört Mark Ruttes VVD an und war bis 2007 Innenminister. Manche Bauern halten ihn deshalb für zu regierungsnah.

Die niederländische Greenpeace-Sektion verweist darauf, dass schon seit den 1960er-Jahren vor den Folgen der zunehmenden Düngerverwendung für die Natur gewarnt werde. Man habe jetzt keine Zeit mehr für kleine Schrittchen, sondern müsse umgehend wirksame Maßnahmen treffen. In Belgien habe man sich beispielsweise auf eine Reduktion der Schweinebestände um 30 Prozent bis zum Jahr 2030 geeinigt.

Die Bauern berufen sich demgegenüber auf ihr Demonstrationsrecht, wie etwa die "Farmers Defence Force" am heutigen 6. Juli verlauten ließ. Man zeigt sich kämpferisch: "Zieht dem heutigen Kabinett den Stecker raus. Stoppt den Wahnsinn. Jetzt. Bevor es wirklich zu unwiderruflichen Dramen kommt." Beispielsweise wolle man einem Gefängnis in der Landeshauptstadt Leeuwarden, in dem ein 16-jähriger Traktorfahrer festgehalten wird, einen Besuch abstatten.

Wie das öffentlich-rechtliche Nachrichtenportal NOS berichtet (mit Videomaterial), ist der dort in einer Zelle festgehaltene 16-Jährige der Traktorfahrer, auf den in der Nacht geschossen wurde. Die Polizei hat die Zufahrt mit Polizeifahrzeugen gesperrt. Dort haben sich nun zahlreiche Landwirte mit ihren Fahrzeugen versammelt.

Laut der Mutter des Betroffenen hat der Traktor eine Einschussstelle an der Fahrerkabine. Um das Fahrzeug zu stoppen, hätte der Polizist auf die Reifen zielen sollen. Sie habe ihren Sohn vor der Teilnahme an den Protesten gewarnt, doch Jugendliche hätten ihren eigenen Kopf.

Die Bäuerin erzählt, dass ihr Betrieb 120 Kühe habe. Nach den neuen Plänen der Regierung müsse man den Stickstoffausstoß in ihrem Gebiet aber um 87 Prozent reduzieren. Der Junge protestiere für die Zukunft des Betriebes.

Die Bauern in Leeuwarden fordern nun die Freilassung des 16-Jährigen. Laut einem Sprecher der "Farmers Defence Force" habe der Junge die Polizei nicht bedroht. Der schießende Beamte gehöre hinter Gitter. Der Sprecher sieht hinter den Schüssen "einen Auftrag von oben, um die Situation zu eskalieren." Die Polizei Nordholland will sich später mit einer ausführlichen Reaktion zu dem Vorfall äußern.