Viele interessante Begriffe haben eine Wanderungsgeschichte hinter sich
Der Philosoph Georg Toepfer über Wörter und ihre tieferliegenden Inhalte
"Troika", "Rettungsschirm", "sozial" oder "Alternative": Das sind Begriffe, die uns allen bekannt sind. Insbesondere wer die Berichterstattung der Medien verfolgt, hört sie immer wieder. Aber was heißt bekannt? Kennen wir die Begriffe wirklich? Der Philosoph Georg Toepfer hat in dem vor kurzem veröffentlichten Buch "Wörter aus der Fremde: Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte" gemeinsam mit anderen Autoren bekannte Begriffe im Hinblick auf deren Geschichte und Bedeutung beleuchtet. Im Interview mit Telepolis erklärt Toepfer, was es bedeutet, sich mit der Übersetzungsgeschichte von Begriffen auseinanderzusetzen und greift exemplarisch Wörter auf, über die es sich lohnt, genauer nachzudenken.
Herr Toepfer, Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte: Das hört sich erstmal etwas trocken an. Was ist damit gemeint?
Georg Toepfer: Das hört sich vielleicht trocken an, meint aber doch einen sehr lebendigen Vorgang: den Prozess des Wanderns von Begriffen und Wörtern zwischen verschiedenen Sprachen, zwischen verschiedenen Wissenschaften auch oder einfach zwischen verschiedenen Anwendungsfeldern.
Hinter dem Vorhaben steht die Einsicht, dass es häufig keinen Sinn macht, die Geschichte eines Begriffs innerhalb nur eines Bereichs zu formulieren, nur für eine Sprache oder nur für eine Wissenschaft. Viele interessante Begriffe haben eine Wanderungsgeschichte hinter sich. Und was sie so interessant und attraktiv macht, ist gerade ihre lange Geschichte, in der sie Färbungen oder Tönungen aus den verschiedenen durchwanderten Bereichen mitgenommen haben. Begriffe sind daher reicher als sie auf den ersten Blick erscheinen.
Der Wissenschaftsphilosoph Ian Hacking formulierte es so: "Begriffe haben Erinnerungen an Ereignisse, die wir vergessen haben". Klassisch ist auch die Formulierung Adornos, nach der Begriffe "Denkmäler von Problemen" sind. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte heißt also auch, die verdeckten Bedeutungen wieder sichtbar zu machen, die sich in höchster Weise komprimiert und latent immer noch wirkmächtig in Begriffen finden.
Worin liegt denn der Wert, wenn man sich durch die Begriffsgeschichte bestimmte Wörter, die wir gebrauchen, nähert?
Georg Toepfer: Der Wert besteht zunächst darin, überhaupt erstmal deutlich zu machen, dass Begriffe nicht nur theoretische Gebilde sind, die eine feststehende Definition haben, sondern auch eine Geschichte, dass ihre Bedeutungen sich gewandelt haben und diese, im Falle von Übersetzungen, durch das Umfeld einer jeweiligen Sprache mitgeprägt sind. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte zeigt damit auch, dass in verschiedenen Sprachen unterschiedlich gedacht wird und dass es ein Denken unabhängig von Sprachen nicht gibt.
Das Projekt liefert damit auch ein vertieftes Verständnis für die Vielfalt von Weltzugängen. Es geht dabei aber nicht nur um sprachlich geprägte Identitäten, sondern gerade der Aspekt der Übersetzungsgeschichte macht deutlich, dass viele Begriffe gleichsam international sind; sie gehören nicht exklusiv nur einer Sprache. Sprachen sind offen gegenüber Einflüssen von außen.
Nun sind Sie eigentlich Philosoph und Biologe, also kein Sprachwissenschaftler. Ihr Mitherausgeber ist Kulturwissenschaftler. Kann es sein, dass dieser interdisziplinäre Ansatz auch schon etwas Interessantes über das Grundprinzip, mit dem Sie sich bei der Thematik auseinandersetzen, aussagt? Anders gesagt: Geht Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte irgendwie alle an?
Georg Toepfer: Ja, das soll eine wesentliche Botschaft unseres Buches sein. Begriffsgeschichte ist einerseits für die Geschichtsschreibung interessant, weil sie sehr viel konkreter als abstrakte Ideengeschichte angeben kann, welcher Wandel sich im Denken vollzogen hat. Denn sie kann an den Begriffen festmachen, wie sich dieser Wandel vollzogen hat, wann und in welchen Kontexten neue Wörter geprägt wurden oder unter welchen Bedingungen bestehende Ausdrücke Bedeutungsveränderungen erfahren haben.
Noch wichtiger als diese Untersuchungen, die Begriffe als Indikatoren für historischen Wandel interpretieren, ist aber die Einsicht, dass Begriffe als Faktoren in gesellschaftlichen Prozessen wirksam sind. Das merken wir alle an solchen Begriffen, die politische Schlagworte geworden sind.
Ein Beispiel, mit dem ich mich gerade näher beschäftige, ist der Begriff der "Biodiversität". Das Wort bedeutet ja im Grunde nicht mehr als "Leben" in all seiner Vielfalt. Es ist nur angereichert und damit aufgewertet durch die reiche Kulturgeschichte der Vielfalt: von der antiken Freude an der buntschillernden poikilia über die christlichen Paradiese mit ihren mannigfaltigen Tieren bis zum postmodernen Multikulturalismus. Diese reiche Geschichte der Vielfalt hat dem an sich nichtssagenden Wort "Diversität" eine Kraft gegeben, die es für die Politik attraktiv werden ließ - so dass wir nun in der "UN-Dekade der Biodiversität" leben.
Der Erfolg der Diversitätsgeschichte zeigt auch, wie Begriffe Übersetzungen leisten, in diesem Fall, indem sie Diskurse, die erstmal nicht viel miteinander zu tun haben, wie der Kampf um Anerkennung sozialer Gruppen und das Anliegen des Schutzes von Natur, zusammenführen. Offenbar lässt sich für die Sache des Naturschutzes besser werben, wenn mit "Diversität" gleichzeitig die Geschichte sozialer Emanzipationsbewegungen und der Multikulturalismus mitschwingen. Begriffsgeschichte kann also die rhetorischen Strategien im Einsatz von Begriffen aufdecken. Diese zu verstehen, für Begriffspolitik einen Sinn zu entwickeln, ist für uns alle von Bedeutung.
Welche Rolle spielt dabei aber das Übersetzen von einer Sprache in eine andere? Es geht in Ihrem Buch doch viel auch um Fremdwörter im Deutschen?
Georg Toepfer: In unserer globalisierten Welt kommt Fremdwörtern insgesamt eine große Bedeutung zu. Mit ihnen können Entwicklungen oder Problemfelder benannt werden, die in verschiedenen Regionen der Welt parallel auftreten. "Diversität" wäre dafür wieder ein Beispiel. Fremdwörter können darüber hinaus einen distanzierenden Effekt gegenüber dem Bezeichneten haben.
In unserem Buch gibt es einen Eintrag zu "Coming-out", also zu dem Prozess der Wahrnehmung und Mitteilung der eigenen sexuellen Orientierung. Der Verfasser des Beitrags, Dirk Naguschewski, weist darauf hin, dass noch im emanzipatorischen Sprechen über diese intimen Verhältnisse mit dem Fremdwortgebrauch eine anerzogene Scham zur Sprache kommt. Es war offenbar einfacher - oder vielleicht auch cooler -, etwas über lange Zeit sozial Geächtetes mit einem Fremdwort zu bezeichnen und dadurch eine gewisse Distanz zur bezeichneten Sache zu bewahren. Fremdwörter sind darüber hinaus für die öffentliche Sprache von Bedeutung, weil sie Aufmerksamkeit erzeugen und häufig eine mit historischen Ereignissen verknüpfte Prägnanz besitzen.
Wie sieht es mit dem Begriff "Troika" aus?
Georg Toepfer: Mit diesem Begriff hat sich in unserem Buch Franziska Thun-Hohenstein auseinandergesetzt. Ursprünglich ist Troika die Bezeichnung für ein nur in Russland übliches Pferdedreigespann. Dann wurde das Wort in der frühen Sowjetunion zum Namen für ein politisches Leitungsgremium und zugleich auch für ein neu eingerichtetes Straforgan. Uns allen ist es aber vor allem bekannt als ein überstaatliches Aufsichtsgremium zur Kontrolle der Finanzpolitik von EU-Staaten. In dem Wort "Troika" überlagern sich die romantische Idealisierung vergangener Zeiten, sowjetische Revolutionsrhetorik und das Misstrauen gegenüber der Finanzpolitik anderer Staaten - und diese Verhältnisse aufzudecken, ist ein schönes Beispiel für die Potenziale des Ansatzes, Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte zu untersuchen.
Lassen Sie uns doch noch auf weitere Begriffe, die in Ihrem Buch behandelt werden, näher eingehen. Was fällt Ihnen zu dem Begriff "alternativ" ein?
Georg Toepfer: Das ist auch so ein Begriff der politischen Sprache mit einer langen, verschlungenen Geschichte. Bei ihm ist besonders auffallend, wie er die politischen Lager gewechselt hat. Wolfert von Rahden gliedert seinen Beitrag in unserem Buch in vier Abschnitte: Der erste dreht sich um die politische Kernbedeutung: tertium non datur - was im Grunde eine Absage an Politik ist, insofern Politik doch, worauf der Verfasser verweist, die "Kunst des Möglichen" ist.
Der zweite Abschnitt behandelt die "Alternative von links: die politisch-semantische Erstbesiedlung" des Ausdrucks in den endsechziger Jahren. Im dritten geht es um den "Verlust der Alternative: die semantische Neutralisierung" durch Behauptung der "Alternativlosigkeit" der eigenen Politik, angefangen in den frühen 1980er Jahren mit Margaret Thatchers TINA-Prinzip ("There Is No Alternative") und in diesem Sinne ins Deutsche übernommen sowohl von Schröder als auch Merkel. Der vierte Abschnitt handelt von der "semantischen Umbesetzung" des Wortes im Zuge der "politischen Renaissance der Alternative von rechts", die wir in den letzten Jahren mit der AfD erleben.
Wie sieht es mit dem Begriff "Rettungsschirm" aus?
Georg Toepfer: Dazu enthält unser Buch einen wie ich finde sehr witzigen Beitrag von Alexander Friedrich. Auch bei diesem im Bereich des Politischen erfolgreichen Begriff geht es um semantische Besetzungen und Umbesetzungen - die allerdings häufig die Metaphorik des Schirms sehr strapazieren: Wie der Beitrag belegt, erscheint der Rettungsschirm - gemeint sind Maßnahmen zur wirtschaftlichen Stabilisierung von Ländern der Eurozone - wahlweise als etwas, unter das man "schlüpft" oder "flüchtet", "sich quetscht" oder "gedrängt" wird. Gleichzeitig soll der Rettungsschirm aber vor einem "Absturz" in den "Abgrund" bewahren.
Der bildspendende Bereich schwankt also zwischen "Regenschirm" und "Fallschirm" - mit entsprechender Ambivalenz der Übersetzungen (umbrella versus parachute). Wenn dann noch von der "Hebelwirkung" und "Schlagkraft" des Rettungsschirms die Rede ist, gerät die Metaphorik völlig außer Kontrolle. Deutlich wird darin auch, dass es nicht um die genaue Bedeutung der Wörter geht, sondern vielmehr um die positiven Konnotationen von "Rettung" und "Schirm", auch wenn die an sie anschließenden Assoziationen nicht miteinander kompatibel sind.
Was gibt es aus der Perspektive des Buches zu dem Wort "sozial" zu sagen?
Georg Toepfer: Der Verfasser, Clemens Knobloch, bezeichnet das Adjektiv als einen "heimlichen politischen Grundbegriff der vergangenen 150 Jahre". Ein Grundbegriff ist das Wort, weil es viele drängende Probleme, die sich aus der rasanten kapitalistischen Industrialisierung ergaben, zu bündeln vermochte. Inhaltlich heterogene Fragen wie Landflucht, Proletarisierung und Analphabetismus wurden auf einen begrifflichen Nenner gebracht und damit politisch schlagkräftig benannt. Über das Wort erhielt der Komplex all dieser Fragen eine "Adresse", wie Knobloch es ausdrückt.
Für das unscheinbare Wort "sozial" kam diese Karriere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus nicht selbstverständlich, denn es bezog sich zuvor vor allem auf die gepflegte Geselligkeit der herrschenden Oberschichten. Vom Zweckbündnis zwischen Individuen bis zum "Sozialstaat" und zur "sozialen Marktwirtschaft" war es ein langer semantischer Weg, der von dem Wörtchen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zurückgelegt wurde. Heute hat der Begriff alles politisch Aufwühlende verloren; er ist, in den Worten Knoblochs, "weitestgehend einwandsimmun". Gegen "sozial" hat niemand etwas.
Was ist denn in Zeiten des Neoliberalismus aus dem Begriff "sozial" geworden?
Georg Toepfer: Es ist etwas für politische Begriffe Typisches geschehen: Der Begriff hat seine positive Konnotation bewahrt; "sozial" ist weiterhin ein starker Wertbegriff. Er wird aber doch erheblich anders akzentuiert. Knobloch schreibt, dass es heute mit dem Begriff vor allem darum geht, den Einzelnen in die Lage zu versetzen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Also nicht mehr Solidarität und Armenfürsorge stehen im Mittelpunkt des Sozialen, sondern "Maßnahmen, die den Einzelnen in die Marktatomisierung zwingen".
Gibt es etwas, was Sie unseren Lesern im Hinblick auf die Betrachtung von Begriffen raten? Worauf sollten sie, gerade auch aus einem kritischen gesellschaftspolitischen Blickwinkel, achten?
Georg Toepfer: Wichtiger als die im Lexikon nachschlagbare Bedeutung scheint mir bei vielen Begriffen ihre Konnotation zu sein, ihre Aura und emotionale Färbung. Auf diese ist zu achten; denn sie macht Wörter für ihren rhetorischen Einsatz geeignet oder ungeeignet. Weit über Etymologie hinausgehend, ist Begriffsgeschichte wichtig, weil sie einen begründeten Zugang zur Entstehung dieser Konnotationen von Wörtern ermöglicht.
Begriffsgeschichte kann die Assoziationen und Evaluationen, die im etablierten Sprachgebrauch, auch der Wissenschaften, ausgegrenzt und verschüttet, bereinigt und verdrängt wurden, wieder freilegen und in ihrer Genese klären. Sie leistet damit eine Wiedereinbettung der Begriffe in die verschiedenen Kontexte, die sie geprägt haben, vor allem in ihren Wertaspekten. Begriffsgeschichte kann die Begriffe gleichsam wieder öffnen, ihre denotative Verengung überwinden und das freilegen, was der verborgene Grund für ihre Wirksamkeit ist.