Vier Strategien zur Eindämmung der Gefängniskosten
Über die Probleme der Massenhaft in den Vereinigten Staaten
Nachdem der fordistisch-keynesianische Gesellschaftsvertrag Mitte der siebziger Jahre aufgekündigt worden war und das schwarze Ghetto als Instrument der Sozialkontrolle abgedankt hatte, stürzten sich die Vereinigten Staaten in ein einzigartiges soziohistorisches Experiment: Sie begannen die wohlfahrtsstaatliche Regulierung der Armut und der durch wachsende soziale Unsicherheit und Rassenkonflikte bedingten Störungen des städtischen Lebens durch deren strafrechtliche Behandlung durch Polizei, Gerichte und Strafvollzug zu ersetzen.
Die bemerkenswerte Karriere, die der amerikanische Strafstaat in den vergangenen dreißig Jahren gemacht hat – eine notwendige Ergänzung zum Abbau des Sozialstaates und dessen logische Folge –, lässt sich grob in fünf Hinsichten charakterisieren1:
- Vertikale Ausdehnung des Strafstaates infolge einer Hyperinflation der Gefängnisse. Die Vervierfachung der Gefängnispopulation im Laufe von 25 Jahren, vor allem aufgrund höherer Einweisungsraten, hat den Vereinigten Staaten mit 2 Millionen Menschen hinter Gittern und 740 Häftlingen pro 100.000 Einwohner – sechs- bis zwölfmal so viel wie in allen anderen Industrieländern – den unangefochtenen Spitzenplatz bei Inhaftierungen eingetragen, obwohl die Kriminalitätsrate während dieser Zeit zunächst stabil blieb und dann sogar sank.
- Horizontale Ausdehnung durch verlängerte Bewährungsfristen, durch die Reform der bedingten Strafaussetzung und den Ausbau elektronischer und genetischer Datenbanken, die nun auch eine bessere Fernüberwachung ermöglichen. Die Folge dieser Ausdehnung des strafrechtlichen Netzes ist, dass sich heute 6,5 Millionen Amerikaner unter Aufsicht der Strafjustiz befinden: nämlich jeder zwanzigste erwachsene Mann, jeder neunte schwarze Mann und sogar jeder dritte junge schwarze Mann (im Alter von 18 bis 35 Jahren); die staatlichen Behörden haben schätzungsweise 55 Millionen Strafregister („rap sheets“) angesammelt – rund ein Drittel der männlichen Arbeiterklasse ist hiervon erfasst. Die in diesen Akten enthaltenen Informationen verbreiten sich, weil eine Überprüfung des Vorstrafenregisters (zum Beispiel bei Arbeits- oder Mietverträgen) zunehmend Routine geworden ist.
- Geburt des strafrechtlichen „big government“, während die Ausgaben für Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsysteme zur gleichen Zeit gekürzt wurden. Die finanzielle und personelle Ausstattung von Gefängnissen, die im Vergleich mit anderen öffentlichen Einrichtungen überproportional verbessert wurde, hat den Strafvollzug zum drittgrößten Arbeitgeber der Nation gemacht, mit 650.000 Angestellten und laufenden Kosten von über 40 Milliarden Dollar. So hat Kalifornien, das über das größte Gefängnissystem der Welt verfügt, seinen Etat für den Strafvollzug von 200 Millionen Dollar im Jahr 1975 auf 4,6 Milliarden im Jahr 2000 aufgestockt. Die Anzahl der im Strafvollzug Beschäftigten schnellte in den vergangenen zwei Jahrzehnten von 6.000 auf 41.000 hoch; seit 1994 übersteigen die Geldmittel der kalifornischen Strafvollzugsbehörde (California Department of Corrections) diejenigen der staatlichen Universitäten von Kalifornien.
- Wiederaufleben einer privaten Gefängnisindustrie und deren rasantes Wachstum. In nur einem Jahrzehnt haben gewerbliche Betreiber, hinter denen ein halbes Dutzend großzügig von Wall Street unterstützter Firmen steht, 7 Prozent des „Marktes“ oder 140.000 Insassen erobert (das sind dreimal so viele wie die gesamte Gefängnispopulation von Frankreich oder Italien). Dadurch halfen sie dem Staat, seine Kapazitäten zur Bestrafung und Verwahrung unbequemer Teile des neuen Proletariats zu erweitern; diese Firmen bieten heute die gesamte Palette von Diensten an, die zum Strafvollzug gehören, und das auf jedem gewünschten Sicherheitsniveau. Zudem verfolgen sie eine aggressive Expansionspolitik ins Ausland – man findet sie bereits im Vereinigten Königreich, in Australien, Marokko, Südafrika, Korea und in Thailand.
- Eine Politik der affirmative action für das Gefängnis durch das strafrechtlich und räumlich differenzierte Anvisieren von Ghettos und ärmeren Stadtteilen. Besonders als sogenannter „Krieg gegen Drogen“ hat diese Politik zu einer nie dagewesenen demographischen Vorherrschaft der Afroamerikaner geführt (seit 1989 wurden jedes Jahr mehrheitlich schwarze Männer neu eingewiesen) sowie zu einer Verschärfung der Rassengegensätze und Feindseligkeiten in den Gefängnissen: Schwarze Männer bilden lediglich 6 Prozent der amerikanischen Bevölkerung und 7 Prozent der Drogenkonsumenten des Landes, doch sie machen 35 Prozent der wegen Drogendelikten festgenommenen Personen und 75 Prozent der deswegen verurteilten Staatsgefangenen aus.2
Doch die finanzielle Last der Masseninhaftierung, dieser absonderlichen Maßnahme zur Armutsbekämpfung und verdeckten Rassenkontrolle, erweist sich aufgrund der stetigen Zunahme und raschen Alterung der Gefängnispopulation sowie des Pro-Kopf-Preises für die Unterbringung von Häftlingen als astronomisch. Die Ausgaben für Bau und Finanzierung der Haftanstalten nicht eingerechnet, kostet jeder Gefangene den Staat Kalifornien 21.400 Dollar pro Jahr – dreimal soviel wie die Sozialhilfe, die einer vierköpfigen Familie nach AFDC maximal zugestanden hätte, bevor das Programm wieder gestrichen wurde (nämlich 7.229 Dollar, Verwaltungskosten inbegriffen).3
In den meisten anderen Staaten der USA, insbesondere den Südstaaten, sind die Kosten des Strafvollzugs natürlich viel geringer, das gilt aber auch für den dortigen Lebensstandard, Staatshaushalt und das Niveau der Sozialleistungen: In Mississippi beispielsweise belaufen sich die jährlich für einen Gefängnisinsassen aufgewendeten Gelder auf 13.640 Dollar. Die Summe beträgt allerdings fast das Zehnfache der jährlichen AFDC-Hilfen pro Familie, die im Durchschnitt bei fürstlichen 1.400 Dollar gelegen hätten. Der unkontrollierte Anstieg der staatlichen Ausgaben für Haftanstalten bedroht inzwischen unmittelbar und unübersehbar andere Kernaufgaben des Staates, von der Bildung über staatliche Sozialleistungen bis zum Gesundheitswesen, deren weitere Beschneidung wahrscheinlich zu Wählerprotesten der Mittelklassen führen würde. Um ihre Kosten zu senken, haben verschiedene Behörden in der Vergangenheit vier Strategien verfolgt – ganz abgesehen natürlich von der üblichen Augenwischerei, Ausgaben für den Strafvollzug als „Investitionen“ in den „Krieg gegen Verbrechen“ zu verkaufen.
1. Senkung des Lebensstandards
Die erste Strategie besteht darin, die Anzahl der Dienstleistungen und den Lebensstandard in den Vollzugsanstalten zu senken, indem man verschiedene „Privilegien“ oder Angebote einschränkt oder abschafft, die ihren Insassen zuvor zugestanden wurden: Fortbildungsprogramme, Sport, Unterhaltung und Rehabilitationsmaßnahmen wie etwa Umschulung und Berufsberatung. Obwohl es erwiesen ist, dass höhere Bildung zur Ordnung in den Gefängnissen ebenso beiträgt wie zur Verringerung der Rückfallquoten, wurden (mit dem Ausschluss der Strafgefangenen aus dem bundesstaatlichen Stipendienprogramm der „Pell Grants“ im Jahr 1994) College-Programme für Strafgefangene praktisch abgeschafft. Strafgefangene, hieß es, beuteten die Staatsfinanzen aus.4
Eine verwandte Sparmaßnahme bestand darin, verschiedene Unterhaltungs- und Konsumgüter zu verknappen. Als die Strafbehörde von Alabama 1996 wieder damit anfing, Gefangene aneinanderzuketten, schaffte sie auch Fernseher und Radios ab und verbot die Ausgabe von Tabak, Süßigkeiten, Erfrischungsgetränken und Keksen. Als sich die Strafbehörde von Arizona im selben Jahr anschickte, ihren etwas über 23.000 Häftlingen den Empfang von Weihnachtspaketen zu verbieten, rechtfertigte sie diese Maßnahme mit dem Hinweis auf Sicherheits- sowie Gesundheits- und Hygienerisiken. In Wirklichkeit ging es der Behörde lediglich darum, die 254.000 Dollar für Überstunden einzusparen, die zur Untersuchung der 35.000 am Jahresende in ihren Einrichtungen eintreffenden Pakete anfielen: „Unser Ziel ist, sichere und effiziente Haftanstalten zu betreiben und immer zu schauen, was unterm Strich übrigbleibt“, erklärte sein Sprecher, „nur darum geht’s“.5
Kosten für einen Staatsgefangenen in Kalifornien
Nach offiziellen Angaben der kalifornischen Strafbehörde belaufen sich die unmittelbaren Kosten für die Verwahrung eines Verbrechers in einer staatlichen Haftanstalt – nicht eingerechnet die Kosten für den Bau der Anstalt – auf 21.470 Dollar im Jahr (diese Summe ergibt sich, wenn man den Jahresetat für die laufenden Kosten der gesamten Verwaltung des staatlichen Strafvollzugs durch die am Tag durchschnittlich einsitzenden Gefangenen teilt). Davon wird die Hälfte zur Entlohnung der Angestellten aufgewendet (wegen ihrer mächtigen und politisch gut vernetzten Gewerkschaft sind die kalifornischen Gefängniswärter im nationalen Vergleich mit Abstand die am besten bezahlten), ein Viertel für die Grundbedürfnisse der Häftlinge (Nahrung, Kleidung, medizinische Versorgung). Maßnahmen zur Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft wie etwa Fortbildung, Arbeit oder Berufsausbildung machen nicht mehr als fünf Prozent der jährlichen Ausgaben des Strafvollzugs aus.
Quelle: Schätzung des California Department of Corrections, The Cost of Housing an Inmate 1997-98, Sacramento: CDC 1998
Doch dieser Ansatz wird kaum zu erheblichen Einsparungen führen, da die Ausgaben im Zuge einer allgemeinen Durchsetzung des „harten Strafvollzugs“ längst auf das Allernötigste reduziert wurden (weniger als 5 Prozent des Etats der kalifornischen Strafbehörde sind für Berufs- und Weiterbildungsmaßnahmen vorgesehen).6 Nach Jahrzehnten völliger Vernachlässigung haben die Gerichte nun auch ein waches Auge auf Haftanstalten. Sie zögern nicht, Geldstrafen gegen Counties zu verhängen oder Behörden des staatlichen Strafvollzugs juristisch zu einer Verbesserung der Haftbedingungen zu zwingen, wenn diese offensichtlich mit verfassungsmäßigen Grundrechten in Konflikt geraten.7 Und tatsächlich haben die meisten großen Stadtgefängnisse und Dutzende von staatlichen Gefängnissystemen seit Jahrzehnten unter Androhung schwerer Sanktionen die Auflage erhalten, Überbelegung abzubauen und die medizinische Versorgung zu verbessern.
2. Ausnutzung des technischen Fortschritts zur Kostenminimierung und Produktitätssteigerung
Die zweite Strategie besteht darin, den technologischen Fortschritt, unter anderem in den Bereichen Elektronik, Informatik, Biometrik und Medizin, dafür zu nutzen, die allgemeine Produktivität der Gefängnisarbeit zu erhöhen, also mehr Sträflinge von weniger Wärtern bewachen lassen zu können. Der technologische Fortschritt kann sich in so unterschiedlichen Neuerungen bemerkbar machen, etwa einem interaktiven Video, das es erlaubt, den Gefangenen ohne Hin- und Rücktransport einem Richter vorzuführen; der Verwendung von Barcode-Abzeichen oder -Armbändern, von Bewegungssensoren und anderen fiberoptischen Geräten, um die Bewegungen und Aktivitäten von Gefangenen und Wärtern innerhalb einer Einrichtung verfolgen und jederzeit automatische „Insassenzählungen“ durchführen zu können; in der Elektrifizierung von Grenzzäunen (mit tödlicher Voltzahl), um die Anzahl bewaffneter Wärter auf den Wachtürmen zu minimieren; im Einsatz von Detektoren, die versteckte Gegenstände durch rückstreuende Röntgenstrahlen erkennen können und so das zeit- und personalaufwendige Abtasten und Ausziehen der Besucher ersparen; in der Ausstattung der Systeme zur Identifikation, Kommunikation und Datenverwaltung mit Software zur Bildbearbeitung und zur Stimmen- und Gesichtserkennung; im Gebrauch von satellitengestützten Überwachungs- und Ortungssystemen zum Lokalisieren von bedingt Haftentlassenen innerhalb ihrer Gemeinde; ganz zu schweigen von nicht-tödlichen Waffen zur Verhaltenskontrolle bzw. zur Kontrolle von Menschenmengen wie „Stun Belts“ (am Körper zu tragende Gürtel, die Hochspannungsimpulse auslösen können), teflonartigen Schmiermitteln (mit denen sich zum Beispiel Bergstraßen unpassierbar machen lassen) und „optischer Munition“ (die einen Angreifer mit einem Laserstrahl blenden und desorientieren kann).
In Anbetracht der Tatsache, dass die medizinische Versorgung zwischen 10 und 20 Prozent des Etats staatlicher Gefängnisse verbraucht, ist die erfolgversprechendste Komponente dieser Strategie wohl die medizinische Fernkonsultation mittels Telekommunikation. In den Jahren 1996 und 1997 führte die Bundesbehörde für den Strafvollzug (Federal Bureau of Prisons) eine Untersuchung zur Anwendung der sogenannten Telemedizin in Psychiatrie, Dermatologie und Orthopädie an drei Einrichtungen des Staates Pennsylvania durch. Die Behörde kam zu dem Ergebnis, dass Fernkonsultationen die Kosten des Gesundheitswesens um 30 Prozent senkten, und empfahl, diese Technologie auch in Gefängnissen zu testen.7
Das Justizministerium hat eine Absprache mit dem Verteidigungsministerium getroffen, um neue Technologien zu entwickeln, die Aussicht auf gemeinsame Nutzung durch das Militär wie durch den Strafvollzug haben. Dessen Wissenschafts- und Technologieabteilung bietet Staaten und Counties aktive Hilfe bei der Anwendung dieser Technologien an, damit der „Strafvollzug im 21. Jahrhundert ankommt“.
3. Abwälzung von Kosten auf die Häftlinge
Eine dritte Strategie zur Verringerung der finanziellen Lasten, die durch die Bestrafung der Armut entstehen, versucht einen Teil der Haftkosten auf die Häftlinge und ihre Familien abzuwälzen. Seit Mitte der neunziger Jahre haben rund zwanzig Bundesstaaten und Dutzende von Kreisstädten damit begonnen, ihren Häftlingen Kost und Logis in Rechnung zu stellen. Sie verlangen „Bearbeitungsgebühren“ bei der Aufnahme, lassen sich Mahlzeiten bezahlen und fordern eine „Mitfinanzierung“ bei Aufenthalten in der Krankenstation sowie zusätzliche Umlagen für verschiedene Versorgungsleistungen im Gefängnis (Uniformen, Bettwäsche, Wäsche, Elektrizität usw.).8 Manche gehen sogar so weit, ihre ehemaligen „Kunden“ vor Gericht zu zitieren, um die Schulden einzutreiben, die sie bei ihrem unfreiwilligen Aufenthalt hinter Gittern angehäuft haben.
So hält man es beispielsweise in Macomb County, Michigan, einem Kreis in der Greater Detroit Area. In Person von Leutnant Nyovich, der in der Kostenerstattungseinheit des Gefängnisses amtiert, brüstet sich dieser Bezirk, „das erste und erfolgreichste“ Gefängnis-Kostenerstattungsprogramm des Landes zu besitzen. Macomb County bittet Strafgefangene nach einem gestaffelten Tarifsystem zur Kasse und verlangt, abhängig von den finanziellen Möglichkeiten des einzelnen, die bei der Gefängniseinweisung ermittelt werden, zwischen 10 und 56 Dollar pro Tag; zudem berechnet der Kreis 15 Dollar für jeden Arzt- oder Zahnarztbesuch und 5 Dollar für Rezepte. Wenn die Gefangenen Gelder auf ihren Guthabenkonten haben, werden ihnen die Beträge direkt abgezogen; wenn sie außerhalb der Gefängnismauern arbeiten, erhalten sie alle fünf Wochen eine Rechnung. Wer seine Gefängnisrechnung nicht begleicht, wird von der Kostenerstattungseinheit vor Gericht zitiert – sie erhebt über sechshundert Anklagen im Jahr – oder sieht sich einem Inkassobüro konfrontiert, angeblich alles nur aus Sorge um Gerechtigkeit: „Wir verklagen sie oder schicken ihnen ein Inkassobüro auf den Hals. Du kannst nicht einfach sagen: ‚Weil ich arm bin, kann ich Dir nichts zahlen‘. Man muss jeden gleich behandeln.“9
Obwohl drei von vier Gefangenen gar nichts zahlen, treibt der County doch immerhin über eine Million Dollar im Jahr ein, die in seine allgemeine Finanzkasse zurückfließen (in den vergangenen Jahren wurden diese Gelder für neue Schusswaffen und den Bau eines Nachtgefängnisses (work-release unit) mit 200 zusätzlichen Betten ausgegeben). Unnötig, darauf hinzuweisen, dass „die Insassen darüber nicht sehr glücklich sind“, während „es die Bevölkerung liebt! Alle tragen Buttons mit Sheriff Hackells Motto: ‚Er bittet die Gefangenen zur Kasse‘. Er bestritt seinen Wahlkampf mit diesem Thema und gewann.“
Als wichtigste Verbindung zur Außenwelt sind Telefone für Strafgefangene von existentieller Bedeutung, doch auch von ihnen profitieren die Strafvollzugsbehörden gehörig: Viele vergeben das Recht, Telefonleitungen legen und betreiben zu können, nicht etwa an Firmen, die das konkurrenzfähigste Angebot unterbreiten, sondern verlangen umgekehrt von den Betreibern, die Kommunikationskosten in die Höhe zu treiben und die Mehreinnahmen an die Gefängnisse weiterzugeben. Der Staat New York häufte im Jahr 1997 über 20 Millionen Dollar aus seinem Exklusivvertrag mit MCI an, weil er einen Preisaufschlag von 40 Prozent über den regulären Telefontarifen abschöpfte; Florida war fast genauso erfolgreich mit einem Aufpreis von 50 Prozent und einem Gewinn von 13 Millionen Dollar.10
1997 verabschiedete Illinois ein Gesetz, das seine Strafvollzugsbehörde berechtigt, von den Strafgefangenen die gesamten Kosten ihrer Haft – bis zu 16.700 Dollar im Jahr – zurückzuverlangen und sie notfalls zu verklagen. Die Behörde strengte in der Folge Prozesse gegen drei Dutzend Sträflinge an mit dem Ziel, rund 4,6 Millionen Dollar wiederzubekommen. Sie musste allerdings feststellen, dass die meisten Häftlinge arm oder mittellos waren, das heißt, dass ihr gesamtes Vermögen jeweils weniger als 4.000 Dollar betrug und somit – nach der Landesverfassung– nicht angetastet werden durfte. Die Kosten, die es verursachte, Gefangene juristisch zur Zahlung zu bewegen, wogen am Ende die erwarteten Vorteile auf.11
Das ist typisch für die „Kostenerstattungs“-Programme im Strafvollzug und macht verständlich, warum man es mit ihrer Umsetzung in den meisten Fällen nicht so genau nimmt. Ganz abgesehen davon sind solche Maßnahmen strafpädagogisch kontraproduktiv: Sie unterminieren den Arbeitswillen der Häftlinge, weil sie ihre mageren Einkünfte in der Anstalt (falls sie dort eine Beschäftigung haben) konfiszieren oder ihren Lohn nach der Entlassung pfänden lassen. Dies schafft zusätzlichen Anreiz, später schwarz oder in anderer Form illegal zu arbeiten.
4. Einfache Arbeiten im Gefängnis
Die vierte Strategie zur Kostendämpfung im Strafvollzug aber stimmt optimistisch: Sie sieht vor, massenhaft einfache Arbeit in den Gefängnissen verrichten zu lassen. In einigen Haftanstalten wird zwar schon für Lohn gearbeitet, und verschiedene Großkonzerne wie Microsoft, TWA, Boing, Toys’R’Us und Konica greifen unter der Hand auf diese Möglichkeit zurück – oft über Subunternehmer, um schlechte Presse zu vermeiden.12 Zwar wurde diese privatwirtschaftliche Inanspruchnahme der Arbeitskraft der Insassen von Gefängnisaktivisten scharf kritisiert und auch von den Medien immer wieder thematisiert, sie ist aber für die genannten Unternehmen, und mehr noch für die Gefängnispopulation insgesamt, eine zu vernachlässigende Größe.
Obwohl das „Private Industry Enhancement Program“ – eine bundesstaatliche Initiative, die 1989 mit dem Ziel eingerichtet wurde, über die im Gefängnis anfallenden Arbeiten (Wäscherei, Ernährung, Büroarbeiten, Wartung und Instandsetzung) hinaus eine Anstellung der Sträflinge bei privaten Unternehmen zu befördern – stetig ausgeweitet wurde, arbeitete aufgrund der strengen rechtlichen und praktischen Einschränkungen, die mit Strafgefangenenarbeit immer noch verbunden sind, 1998 nur einer von dreizehn Insassen für regulären Lohn; weniger als 2.000 Gefangene in Landes- oder Bundesgefängnissen standen auf den Gehaltslisten externer Firmen.
In den vergangenen zehn Jahren aber wurde unter Juristen, Ökonomen, Strafrechtsexperten und Politikern immer lauter darüber diskutiert, ob man diese Hindernisse nicht beseitigen sollte. Zunehmend wurde erwogen, das auf die Produktion besonderer Güter für einen geschlossenen öffentlichen Markt (wie etwa Nummernschilder, Büromöbel, Uniformen und Nahrungsmittel) beschränkte „State-Use“-System der Strafgefangenenarbeit wieder durch das normale Vertragssystem zu ersetzen, das es privaten Unternehmen ermöglichen würde, Insassen zu gängigen Konditionen einzustellen und alle von ihnen produzierten Güter auf dem freiem Markt zu verkaufen.13 Das Einkommen der angestellten Gefangenen würde dann abgeschöpft, um die Kosten ihrer Haft zu decken, Verbrechensopfer zu entschädigen und durch Steuern und Abgaben zusätzliche öffentliche Einnahmen zu erzielen.
Ein weit verbreiteter und intensiv diskutierter Bericht mit dem Titel Fabriken hinter Gittern, den das National Center for Policy Analysis, ein Think Tank des freien Unternehmertums, 1998 veröffentlichte, pries den ökonomischen Wert und moralischen Nutzen der Strafgefangenenarbeit. Er gab die Losung aus, innerhalb der nächsten zehn Jahre möglichst jeden vierten Gefangenen des Landes in Lohnarbeit zu bringen und 60 Prozent ihrer Löhne zur Entlastung der Steuerzahler einzubehalten. Der Bericht schätzte die dadurch möglichen Mehreinnahmen pro Jahr bei einem Stundenlohn von fünf Dollar, einer Arbeitswoche von 40 Stunden und einer jährlichen Arbeitszeit von 50 Wochen auf 2,4 Milliarden Dollar oder anders gesagt: auf 10 Prozent der gesamten laufenden Gefängniskosten.14
Die frühkapitalistischen Zustände des 19. Jahrhunderts verherrlichend, als sich drei Viertel der Häftlinge abrackerten, davon zwei Drittel für private Unternehmer, drängte der Bericht die Regierung, mit der „Verschwendung“ des „enormen Kapitals“ der Gefangenenarbeit aufzuhören und endlich „Gefängnisse zu Bienenkörben der produktiven Arbeit“ zu machen. Als notwendige Mittel zu diesem Zweck nannte der Bericht die Aufhebung der einzel- und bundesstaatlichen Gesetze, die den Einsatz der Strafgefangenenarbeit beschränken, die Beschneidung von Rechtsansprüchen der Insassen gegen Gefängnisarbeit und die finanzielle Belohnung von Gefängnisdirektoren, die ihre Einrichtungen wirtschaftlich unabhängig machen und flexible Produktions- und Vertriebsprogramme einführen. Der Bericht empfahl, kurz gesagt, „Gefängnisse wie Unternehmen zu führen“.15
Kommunale Gefängnisse scheinen aus dieser Perspektive eine sogar noch größere Fundgrube für billige Industriearbeit zu sein: Anders als die staatlichen Gefängnisse sind sie in städtische Counties eingebunden und deshalb mit dem örtlichen Wirtschaftsleben verquickt; sie verfügen über zwanzigmal mehr Gefangene als die staatlichen Gefängnisse (nämlich mehr als zehn Millionen im Jahr); nur 18 Prozent der in kommunalen Gefängnissen Internierten arbeiten bisher; und schließlich wird die Umsetzung innovativer Arbeitsmaßnahmen auf lokaler Ebene leichter sein, wo die Kosten des Strafvollzugs heute bis zu 15 Prozent des öffentlichen Haushalts verschlingen.
Die Kombination von „Standort + Verfügbarkeit + Sichtbarkeit“ wird die Ausbeutung der Arbeitskraft kommunaler Gefängnisse sicherlich zu einer „wichtigen Kostendämpfungsmaßnahme“ für die Counties machen.16 Nicht nur rechnet man damit, dass Strafgefangenenarbeit dem Müßiggang entgegenwirkt, die Anpassung an die Institution erleichtert und disziplinierend wirkt, sie stellt auch eine „langfristige Lösung für das Überbelegungsproblem“ des amerikanischen Strafvollzugs in Aussicht, weil sie erfolgreicher auf das Leben nach der Haft vorbereitet und dadurch die Rückfallquoten verringert.17
Es überrascht also nicht, dass in letzter Zeit zahlreiche Gesetzesentwürfe mit dem Ziel, die Beschränkungen der Strafgefangenenarbeit aufzuheben, in den Kongress wie auch in die Parlamente der Bundesstaaten eingebracht wurden. Wenn die Armen „draußen“ durch ‚Sozialhilfe nur gegen Arbeit‘-Programme zur Arbeit verpflichtet werden, scheint es nur konsequent, auch die Armen „drinnen“, nämlich die Häftlinge, dazu anzuhalten. Doch wird man abwarten müssen, ob diese Entwürfe verabschiedet und auch in einem solchen Umfang umgesetzt werden, dass sie zu der anvisierten Verbindung von Gefangenen- und Niedriglohnarbeit führen können. Denn auch eine wiedergefundene ideologische Entschlossenheit reicht nicht aus, um so mächtige Hindernisse wie etwa die Nicht-Steuerbarkeit der Strafgefangenenarbeit (Strafgefangene sind zu einem Großteil Analphabeten, nicht ausgebildet und wenig zuverlässig; hinzu kommt, dass der störende Einfluss von Erfordernissen des Strafvollzugs, wie zum Beispiel des Sicherheitsgebotes, die Gefangenenarbeit erstaunlich unflexibel macht), den allgemeinen Zustand des Arbeitsmarktes und die Hürde des Prinzips der „zweiten Wahl“ zu beseitigen – letzteres gebietet, dass der am besten gestellte Häftling immer noch nach dem schlechtestgestellten Arbeiter kommen müsse.18
Am Ende kann wohl keine dieser vier Strategien, für sich oder zusammengenommen, die steigenden Kosten der Massenhaft als strafender Sozialpolitik wirksam eindämmen. Noch weniger lassen sich auf diesem Weg die sozialen und ökonomischen Belastungen verringern, die ihre zerrüttende Wirkung armen Menschen, Familien und Gemeinschaften aufbürdet. Wie die Privatisierung, deren verdinglichende Ideologie diese Strategien übernehmen und auf den öffentlichen Bereich des Strafvollzugs ausweiten, können sie nur punktuell „Verschnaufpausen“ schaffen.
Die Widersprüche, die dadurch entstehen, dass die Bekämpfung sozialer Ungleichheit und Unsicherheit besonders am unteren Ende der Klassen- und Kastenstruktur vom Sozialsystem auf den Strafvollzug umgestellt wird, lassen sich so vielleicht eine Zeitlang entschärfen, aber nicht auflösen. Deshalb zeigt auch gerade der Versuch, eine bestimmte Phantasie der herrschenden Klasse am Leben zu erhalten, nämlich die Phantasie, die Armen hätten für die (strafrechtliche) Versorgung ihresgleichen selbst zu bezahlen, dass diese Vorstellung eben nichts anderes als eine Phantasie ist – allerdings eine mit realen Konsequenzen, die zu einem der grausamsten Sozialexperimente gehören, das jemals von einer demokratischen Gesellschaft durchgeführt wurde.
Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Engels und Michael Adrian
Das Kapitel wurde aus dem eben erschienenem Buch von Loïc Wacquant entnommen: Das Janusgesicht des Ghettos und andere Essays.. Band 134 der Reihe Bauwelt Fundamente im Birkhäuser Verlag. 208 Seiten. 24,90€
Loïc Wacquant ist Professor für Soziologie am Institute for Legal Research der University of California at Berkeley. Der hier veröffentlichte Beitrag wurde 2002 veefasst.