Virtueller Raum oder Weltraum?

Seite 3: 2. Die Ideologie des Cyberspace

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Wenig oder nichts von solchen durchaus realistischen Szenarios findet man in den Kolonisierungsbestrebungen des Cyberspace. Beherrscht von der kalifornischen Ideologie glaubt man auf rechter wie auf linker Seite, daß der Eintritt in den Cyberspace die Probleme wie von selbst lösen wird, oder man vergißt mehr oder weniger, daß der Cyberspace stets in der Wirklichkeit verankert ist und diese beeinflussen wird. Das von amerikanischen Konservativen (Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth, Alvin Toffler) im Umkreis von Newt Gingrich bereits 1994 verfaßte Manifest Magna Carta für den Cyberspace (A Magna Carta for the Knowledge Age) bringt wohl am besten die Suche nach einer neuen Frontier im Cyberspace zum Ausdruck. Obgleich der Cyberspace geographisch nicht verankert ist, verbindet sich mit seiner Kolonialisierung gleichwohl die Hoffnung auf Standortsicherung und Vorherrschaft der amerikanischen Nation. Seltsam jedenfalls ist zweifellos für uns Alteuropäer, was Richard Barbrook und Andy Cameron als Merkmal der kalifornischen Ideologie herausgearbeitet haben, daß sich hier individualistisches, liberalistisches und manchmal anarchistisches Gedankengut umstandslos mit einer Verherrlichung des Kapitalismus und seiner darwinistischen Prinzipien zu einem Amalgam verbindet, das die neue virtuelle Klasse jenseits aller übrigen Differenzen zu vereinen scheint.

Die weitreichende Anziehungskraft dieser Ideologen der Westküste resultiert nicht nur aus ihrem ansteckenden Optimismus. Vor allem sind sie leidenschaftliche Vertreter einer Haltung, die als eine unschuldige liberale Politikform erscheint

Sie wollen den Einsatz der Informationstechnologien, um eine neue Demokratie im Geiste Jeffersons zu schaffen, in der alle Individuen sich frei im Cyberspace zum Ausdruck bringen können. Während sie jedoch dieses anscheinend bewundernswerte Ideal feiern, reproduzieren diese Technikförderer gleichzeitig einige der teuflischsten Merkmale der amerikanischen Gesellschaft, vor allem jene, die aus dem schlimmen Vermächtnis der Sklaverei herstammen. Ihre utopische Vision von Kalifornien basiert auf einer willentlichen Blindheit gegenüber den anderen, viel weniger positiven Eigenschaften des Lebens an der Westküste

Der Cyberspace gilt als Lösung aller Probleme in der wirklichen Welt, die man vermeintlich durch das Überschreiten der technischen Schwelle hinter sich läßt, und zugleich als Fortsetzung des amerikanischen Traums, in dem der einzelne und seine Freiheit über allem anderen steht, wenn er erfolgreich ist. So wird gelegentlich von Cyberspace-Enthusiasten, vermutlich ohne groß nachzudenken, der freie Zugang zum Netz und die Freiheit der Meinungsäußerung in ihm als Einlösung der Demokratie verstanden, während die konkreten Lebensumstände im wirklichen Leben als vernachlässigenswert erscheinen oder schlicht ignoriert werden.

Der Erfolg des Cyberspace als neuer Utopie verdankt sich nicht allein den technischen Innovationen und den Versprechungen des Profits, die mit ihnen einhergehen. Der Eintritt in ihn ist verwoben vor allem mit der urbanen Wirklichkeit der Städte und dem Zerfall des öffentlichen Raums, mit der weiter voranschreitenden Suburbanisierung und der Errichtung der dualen Stadt. Die Städte sind nicht mehr geographische Verdichtungen des Kapitals, der Macht, der Kultur und des Wissens, sie sind zu Orten geworden, in denen man eingesperrt ist, aus denen man flieht oder in denen man abgeschlossene Räume einrichtet, Zonen der Apartheid, gesicherte High-Tech-Bunker, geschlossene Zonen, die durch eben jene Techniken überwacht werden, mit denen auch der Cyberspace erbaut wird. Ebenso wie man im Cyberspace in eine Welt des Innen geht, schließen sich auch Wohnungen, Häuser, ganze Stadtteile und neue Wehrdörfer vom Außen ab, werden als Ersatz Städte im Cyberspace und parallele Städte als Themenparks gebaut. Anstatt in den öffentlichen Räumen der Städte flanieren und arbeiten die Angehörigen der virtuellen Klasse im Cyberspace, der ihnen erlaubt, die schwarzen Löcher zu überbrücken und homogene Gemeinschaften zu bilden, die letztlich darauf ausgerichtet sind, sich in autonomen Inseln mit überwachten Korridoren zu verankern. Noch befinden sich solche Inseln auf der Erde und sind, wie Biosphäre II, vorerst noch mangelhafte Projekte, doch die Phantasie verstärkt sich, die Erde hinter sich lassen zu können und im Cyberspace oder im Weltraum neue Territorien zu erschließen.

Die Autoren des Manifests geben zwar zu, daß auch in den USA die dritte Welle der Menschheitsentwicklung nach der Etablierung der Agrikultur und dem industriellen Zeitalter noch keineswegs angekommen sei, daß man ein neues Territorium betrete, in dem es noch keine Regeln gebe. Doch sie wissen, was Bedingung für den Eintritt in den Cyberspace als Erfüllung des American Dream - und der amerikanischen Wirtschaft - definitiv sein müsse: Deregulierung, Konkurrenz, Privatisierung, Dezentralisierung und demassifying aller Institutionen und der Kultur um jeden Preis, was nur heißen kann, wenn allein die staatliche Bürokratie im Kreuzfeuer steht, Kommerzialisierung von allem für jene, die es sich leisten können, und Gleichgültigkeit gegenüber denen, die aus der Informationsgesellschaft herausfallen Niemand wisse, wohin die entmassten Individuen und Gesellschaften treiben werden, aber die isolierten Einzelnen werden sich in verschiedenartigen Gemeinschaften von elektronischen Nachbarschaften zusammenfinden, die nur noch durch gemeinsame Interessen zustande kommen, nicht mehr durch geographische Nähe und gemeinsame Verpflichtungen, abgesehen vielleicht von jener auf die amerikanische Idee des Lebens, die von den Autoren bedingungs- und kritiklos gepriesen wird.

Verkleinerung und Homogenisierung der Gemeinschaften ist das große Ideal hinter der Cyberspace-Ideologie. Die Macht der Computer liege, wenn nur die Deregulierung konsequent betrieben werde, in den Händen ganzer Bevölkerungen, und das werde dann schon dafür sorgen, daß keine Unterdrückung auf den Datenautobahnen herrsche, daß die Luftverschmutzung sich verbessere, daß - und hier scheint die amerikanische Wirklichkeit kurz durch - die Menschen nicht mehr in übervölkerten und gefährlichen urbanen Regionen leben müßten, sondern ihr Familienleben - privat, zuhause und sicher - ausbauen können.

Der Cyberspace wird mehr und mehr, wie die Autoren des Manifests sicher richtig schreiben, ein Marktplatz, auf dem Wissen in Form von Hardware, Software, Kompetenz und Informationen zur Ware wird und an dem sie die erneute Einlösung des American Dream sowie des Versprechens des American life festmachen, als ob die sozialen Verhältnisse in den USA zum Vorbild für die ganze Welt gereichen würden. Die Gefahr besteht, daß öffentliche Räume und Öffentlichkeit noch weiter als bisher zerfallen.

Die Autoren der Magna Carta zeichnet eine ebenso bedingungslose Individualismus-Euphorie wie eine alternativenlose Verherrlichung des kapitalistischen, von allen sozialstaatlichen Interventionen befreiter Konkurrenzkampf aus. Der Cyberspace gehöre dem Volk, nicht der Regierung, aber das Volk in seiner ganzen gefeierten Diversität, aus der die sozialen und/oder ethnischen Konflikte ausradiert wurden, verengt sich auf Benutzer derjenigen Technologien, die von multinationalen Konzernen angeboten werden und zwischen denen sie nun endlich so auswählen dürfen, wie zwischen Dutzenden von Fernsehprogrammen. Der dritten Welle in der Geschichte der Menschheit, der die Autoren dieses individualistischen und liberalistischen Manifests Nachdruck verleihen wollen, gehören die Computerfirmen und biotechnologischen Unternehmen, die informationsbasierten Produktionsstätten und mit Informationen handelnden Banken und Softwarehersteller, die Angehörigen des Unterhaltungs-, Medien-, Kommunikations-, Ausbildungs- und informationellen Dienstleistungssektors an. Sie werden, so die Autoren, die Gesellschaft der Zukunft bestimmen. Alles andere fällt den schwarzen Löchern anheim, den abgehängten gesellschaftlichen und geographischen Dritte-Welt-Orten, die mehr und mehr auch in den hochentwickelten Ländern zu finden sind, oder den reaktionären Vertretern der überlebten Massengesellschaft. Jetzt handeln nicht mehr große gesellschaftliche Gruppen, die durch Repräsentation oder Herrschaft unterdrückt werden, sondern hoch differenzierte Gemeinschaften, gebildet aus Einzelnen, die ihre Unterscheide preisen. Diese Einzelnen, wer denkt da nicht an Stirner, sind schwer zu vereinen und ordnen sich nicht den Bestimmungen, Steuern und Gesetzen unter, die den Industriebaronen und Bürokraten der Vergangenheit dienten. Man fragt sich nur, ob das Volk der einzelnen jetzt von Konzernen repräsentiert wird, die wie etwa Microsoft weltweit in ihrem Sektor beherrschend sind, auch wenn es sich nicht mehr um solche gigantischen Unternehmen handelt, die noch das Industriezeitalter bestimmten.

Zwar propagiert man die Notwendigkeit, daß die Eigentumsverhältnisse sich verändern werden, aber man spricht nur davon, daß das Copyright für geistige Hervorbringungen am Ende sei, während man für schnellere Abschreibungsraten der Steuern für Hardware und Software ist und die neuen Monopole der Konzerne, die immer stärker erfolgende Konzentration durch Fusion der Giganten im elektronischen Bereich als quantité négligeable außer Acht läßt. Zwar sollen Regulierungsmaßnahmen völlig entfallen, die dem Zeitalter der Massen angehören, doch die mit den multimedialen, interaktiven und breitbandigen Computernetzen wieder aufgewärmte Ideologie des Liberalismus kümmert sich nicht um die Standardisierungen und Zwänge, die direkt in die Hardware und Software eingebaut werden.

Die Computertechnik habe, so formuliert es das Manifest überschwenglich, mehr als nur eine Maschine hervorgebracht. Der Cyberspace sei vielmehr eine bioelektronische Umwelt, die buchstäblich universal ist. Doch es ist eine Umwelt, in die man sich nicht freundlich hineinbegibt oder die man zu bewohnen lernt, sie lädt zur Eroberung ein und ist ein bioelektronisches Grenzgebiet. Endlich gibt es wieder, nachdem der Kalte Krieg vorbei und Programme wie Star Wars erledigt sind, eine New Frontier, Traum und Trauma der Amerikaner, die das einstige Go West nun mit Go Cyberspace ausgetauscht haben: Cyberspace is the latest American frontier. Hacker werden wie einst die Landeroberer und Outlaws gefeiert, zumindest wenn diese sich schließlich nach dem Ausleben im Wilden Westen in die Wirtschaftsordnung integrieren, sie zu Technikern oder Erfindern und dann zu Schöpfern eines neuen Reichtums in der Form von Baby-Unternehmen werden, die den Cyberspace trotz allen Geredes von Universalität zum wirtschaftlichen Eigentum der Amerikaner machen. Die Eroberung des Cyberspace aber folgt dem Bild der Siedler, Cowboys, Wild-West-Helden und Soldaten, die sich einen Kontinent unterwerfen, der in ihren Augen niemandem niemandem gehört - Kolonialismus pur. Vergessen wir die Indianer, das Blut, das geflossen ist, die Sklaven, die im Namen der individuellen Freiheit geschuftet haben: Der bioelektronische Grenzbereich (Frontier) ist eine angemessene Metapher dafür, was im Cyberspace geschieht, wenn man sich an den Geist der Erfindung und Entdeckung erinnert, der die früheren Seefahrer dazu antrieb, die Welt zu erkunden, und Generationen von Pionieren, den amerikanischen Kontinent zu zähmen, und der in der jüngsten Zeit zur ersten Erkundung des Weltraums führte.

Deregulierung und Rückzug des Staates als Kontrollmacht sind seit je die Zauberworte des wirtschaftlichen Liberalismus gewesen - abgesehen natürlich von der Sicherung des Eigentums, der Verträge und des Profits, wofür man stets gerne auf den Staat zurückgegriffen hat. Nun also schwärmt man von der staaten- und bürokratielosen Freiheit des Cyberspace, der einerseits dem Volk gehören und andererseits den Standort USA mit seinen Konzernen sichern soll. Die Europäer sollten sich fragen, ob sie, trotz aller Ängste, als Standort nicht mehr attraktiv zu sein, dieser seltsamen Mischung aus liberalem und individualistischem Sendungsbewußtsein mit nationalem Pathos und ökonomischem Herrschaftswillen wirklich folgen wollen, was vermutlich heißen könnte, soziale und territoriale Inseln der High-Tech-Kultur gegenüber der restlichen Gesellschaft abzuschließen und eine Vielfalt zu feiern, für deren Sicherung es keine politischen Instrumente mehr gibt. Computernetze bringen die Gefahr mit sich, daß die Vermittlungs- und Repräsentationsebenen eingeschliffen werden, und suggerieren möglicherweise den Traum einer direkten, anarchistischen Demokratie, die bislang territorial - in Kommunen, Ländern und Staaten - definiert war. Wir erleben tatsächlich den allmählichen Verfall der repräsentativen und nationalstaatlich verankerten Demokratie, der sich die Menschen ebenso wie die globalisierte Ökonomie und die vernetzten Medien entziehen.

Die Europäer haben durch ihre Geschichte - eher? - gelernt, daß Utopien, in die man sich hineinstürzt, nur neuen Schrecken hervorbringen. Cyberspace oder Telepolis eröffnen eine neue Lebenswelt, doch es wird davon abhängen, welches Gemeinwohl, welche Öffentlichkeit, welche Kultur der Differenz hier zum Zuge kommt, um eine Lebenswelt zu schaffen, in der alle existieren können und in der auch das biologische Überleben auf diesem Planeten nicht weiter gefährdet ist. Cyberspace oder Telepolis scheinen, weil sie eine neue Lebenswelt anbieten, die Chance zu bieten, alles neu zu machen, die Vergangenheit und die sozialen Probleme der Gegenwart hinter sich zu lassen. Investitionen von Kapital, Zeit und Leidenschaften in den Cyberspace werden möglicherweise jene reduzieren, die man für die Gestaltung der wirklichen Welt einsetzt. Arbeitsplatz- und Standortsicherung in einer globalen Ökonomie können ebenso wie die Faszination, die von der neuen virtuellen Lebenswelt und ihren neuen Handlungs- und Kommunikationsformen ausgeht, dahin führen, daß wir die Wirklichkeit der Gleichgültigkeit überlassen, daß das Leben im Raum der Orte und das im Raum der Datenströme immer weiter auseinander driftet.

Doch Telepolis oder Cyberspace ist kein unschuldiger Ort jenseits der Welt. Ebenso verankert in der wirklichen Welt wie die Menschen mit ihren Körpern, wirkt die Ordnung der neuen Welt auf die alte zurück. Das liberalistische Manifest ist nur eine Spielart des überall erwachenden Fundamentalismus, der sich in Orten, seien es Slums oder gesicherte Wohnstätten, verankert. Der Raum der Orte, der Raum der Standorte, wird durch Telepolis nicht eliminiert, in ihm werden die Kämpfe während der Kolonialisierung des Cyberspace ihren Niederschlag finden. Die Rede von der Ortlosigkeit, von der Vernichtung des Raums täuscht nur darüber hinweg, daß nicht nur im Cyberspace neue Räume, neues Eigentum und neue Machtformen entstehen, sondern daß diese sich im realen Raum abbilden.