Volkssouveränität: Aalglatte Politiker und die Krise der Repräsentation

Hände mit Wahlzetteln und Hand in Erwartung, etwas zu bekommen

Legitimationskrise der Demokratie: Historikerin Claudia Gatzka präsentiert wichtige Einsichten über Illusionen und die Selbstüberschätzung vieler Wähler. Eine Analyse.

"Wir können es nicht selbst machen. Wir müssen uns verabschieden von der Idee, dass wir alle selbst regieren können. Das ist in einem Flächenstaat von bald 85 Millionen Menschen total abwegig. Wir brauchen politische Repräsentanten."

Man könnte es ein Plädoyer für mehr Wählerbescheidenheit nennen, was Claudia Gatzka jetzt in einem umfangreichen Interview im Deutschlandfunk entfaltete.

Zugleich war ein gewisser Überdruss der Politikwissenschaftlerin unüberhörbar. Ein Überdruss an der Servicementalität vieler Wähler, die Politik offenbar mehr und mehr als eine Dienstleistungsagentur zur schnellen Erfüllung persönlicher Wünsche begreifen, nicht mehr aber als mühsamen Interessenausgleich und Kompromissfindung, als harte Arbeit am Gemeinwohl.

Was heißt "repräsentiert fühlen"?

Es begann mit einigen gewagten Behauptungen, die einmal mehr diffus an das Gefühl der Hörer appellierten und deren Intellekt unterforderten: "Immer weniger Menschen" "fühlten" sich innerhalb der "klassischen" Demokratie und ihrer Verfahren repräsentiert.

Man muss hier sofort gegenfragen: Was denn "repräsentiert" überhaupt heißt, was unter "fühlen" genau zu verstehen ist, und was am Gefühl "der Menschen" denn eigentlich relevant und aussagekräftig sein soll?

Selbst wenn man sich auf die Beobachtung konzentriert, dass in der Bundesrepublik die Parteien an den demokratischen Rändern in den letzten Jahren stärkeren Zuspruch haben – dann folgt daraus doch zunächst nichts anderes, als die Feststellung, dass manche Wähler aus der Mitte des Parteienspektrums an die Ränder ausweichen.

Ist dies bereits als solches zu kritisieren? Und falls ja: in wessen Namen?

Müssen sich alle Parteien in der Mitte drängeln?

Auch hier lässt sich sofort gegenfragen: Müssen sich denn alle Parteien in der Mitte drängeln? Und müssen alle Wähler die Parteien "der Mitte" wählen? Oder geht es nicht in der modernen Demokratie gerade darum, dass sich die Bevölkerung ausdifferenziert und dies auch in ihren Wahlentscheidungen? Ist diese Ausdifferenzierung nicht eher ein Zeichen einer – falls dieser Ausdruck erlaubt ist – gesunden Demokratie?

Denn eine der zentralen Aufgaben von Parteien ist schließlich schon demokratietheoretisch unter anderem auch die, der Kritik an den Regierenden ein Forum und eine parlamentarische Repräsentation zu geben, in Form der Opposition institutionelle Gegenmacht zu entfalten.

Maßstäbe für Demokratie und Sonderwege

Die kecken Fragen waren der reichlich diffuse Auftakt zu einer im Folgenden ungewöhnlich interessanten halben Stunde im Deutschlandfunk.

Dass es so interessant wurde, lag an der Historikerin Claudia Gatzka (geb. 1985), die an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg lehrt. Sie leitet dort das Forschungsprojekt "Verborgene Stimmen der Demokratie", veröffentlicht im kommenden Frühjahr ein Buch über das Verhältnis von Demokratie und Diktatur und beschäftigt sich in ihrer Forschung mit Theorien der Repräsentation und der repräsentativen Demokratie.

Im DLF-Gespräch bot sie Erklärungen für den Wandel des Politischen.

Wüsste man nicht, dass sie in Leipzig geboren ist, so hätte man beim Zuhören mehr als einmal auf den Gedanken kommen müssen, dass die Historikerin westdeutsch sozialisiert ist – so sehr rekurrierte sie die Geschichte der sehr besonderen westdeutschen Demokratisierung.

Sie sprach von "den Deutschen", wo sie die Westdeutschen meinte, und sparte zugleich die ostdeutschen Sonderwege aus, wodurch sie deutlich machte, dass die Maßstäbe für Demokratie und Demokratisierung weiterhin vor allem in Westdeutschland und Westeuropa zu finden sind – dass Demokratisierung und Modernisierung in den Gebieten jenseits des früheren "Eisernen Vorhangs" verspätete und nachgeholte Prozesse sind.

Gegen das modische Krisengerede: Die Talkshowisierung der Politik muss nicht schlecht sein

Besonders bemerkenswert war, wie Gatzka sich konsequent weigerte, der Versuchung nachzugeben, den augenblicklich in der Bundesrepublik besonders in Mode stehenden Krisendiskurs weiterzuführen.

Das belegt etwa ihre Antwort auf die Frage nach dem negativen Einfluss von Medien auf die heutigen Verhältnisse.

Ja, ich denke schon, dass die sogenannte Mediokratie, wie manche Politikwissenschaftler das abschätzig genannt haben, dieser Einflussgewinn des Fernsehens und die Talkshowisierung auch Eventisierung, der Showformate in der Politik, eine Rolle spielt.

Ich würde aber gar nicht sagen, dass das per se an negativer Einfluss sein muss – man könnte sich schon Formate ausdenken, in denen Bürger und Politiker dauerhaft permanent in irgendeiner Weise ins Gespräch kommen. Und die Idee, dass man Bürger und Politiker im Fernsehen in einen Dialog bringt, die gab es seit Ende der 60er-Jahre in ganz Europa.

Man nutzte das neue Medium des Fernsehens sehr früh für politische Kommunikation. Das funktionierte im Grunde nicht schlecht, wenn man nicht vergaß, daneben die direkten politischen Kommunikationskanäle zu nutzen.

Vor allem aber auch massenmediale Kanäle, die weiter unten angesiedelt sind, näher am Alltagsleben der Menschen. Radio, Lokalzeitungen spielten in den Blütezeiten der Kommunikation eine große Rolle.

Indirekte politische Kommunikation ist also nichts Neues. Gatzka betonte, dass die Kommunikation zwischen Politik und Wählern in der Demokratie immer schwierig gewesen sei, dass es allerdings einst hierfür kaum eine Nachfrage unter den Bürgern gegeben habe.

Die Bürger hätten in früheren Zeiten offenbar das Gefühl gehabt, "in anderen Formaten schon sehr gut abgebildet zu sein. Dieser Wunsch danach, selbst zu sprechen, tritt ja immer dann auf, wenn ich mich nicht bereits gut vertreten fühle durch Politiker und durch Medien".

Erst in den 1960er- und 1970er-Jahren sei die repräsentative Demokratie, zuvor eine eher lästige Pflicht, für die Bürger überhaupt "so richtig faszinierend" geworden.

Jeder hört nur sich selbst

Das habe sich geändert. In der Gegenwart sei das Verhältnis von Repräsentation und Demokratie, zwischen Repräsentanten und Bürgern "gestört". Gatzka schickte die Bemerkung voraus, dazu gebe es wenig Vorarbeit. Das Thema sei in der Wissenschaft "untertheoretisiert".

"Es ist aber auch unterdebattiert in der Öffentlichkeit."

Dies liege nicht an der genannten Talkshowisierung und Eventisierung der Politik, und neuen politischen Showformaten – wichtige Stichworte zum Verständnis der Gegenwart.

Wichtiger aber als Veränderung und Verhalten der Medien sei das veränderte Medienverhalten der Bürger: Das "riesige Problem" für die repräsentative Demokratie und die politische Kultur, das man im Augenblick erlebe, liege darin, dass Lokalzeitungen, für Gatzka durch intensive konkrete Berichterstattung ein zentrales Bindeglied zwischen Politik und Bürgern, heute kaum noch gelesen werde.

Die Lokalzeitungen bilden Wahlkämpfe ganz intensiv ab und pushen vor allem die lokalen Kandidaten. Sie berichten ganz viel darüber, was die Wahlkreiskandidaten und direkten Kandidaten tun. Sie inszenieren damit auch eine Legitimität der repräsentativen Demokratie. Das können die sozialen Medien heute gar nicht leisten.

Die Idee der Volkssouveränität besteht weniger darin, mitzumachen, als darin, gehört zu werden. Und heute hört der eine Teil der Wählerschaft den anderen nicht mehr, hört jeder nur sich selbst.

Komplexe Politik erzeugt aalglatte Politiker

Gatzka konstatiert etwa ab dem Jahr der deutsch-deutschen Vereinigung 1990 eine Veränderung beim politischen Personal. Sie beobachte im Gegensatz zur alten Bundesrepublik,

(...) dass sich die Parteien in einer Weise professionalisiert haben, auch in der Personalrekrutierung, dass sie einerseits sehr professionell vorgehende agierende Politikerinnen und Politiker hervorbringen – das sieht man heute an der jüngeren Generation –, diese aber so aalglatt geschmiedet sind, dass sie als Persönlichkeiten kaum mehr verfangen.

Die Politik der Gegenwart wird immer komplexer. Und komplexe Politik erzeugt derart aalglatte Politiker.

Die parlamentarische Demokratie habe gerade in Deutschland ein Arbeitsparlament hervorgebracht, "das gewisse Forderungen an die Abgeordneten stellt", zu denen vor allem juristisches Fachwissen und Kenntnisse im Umgang mit "der sich immer weiter ausbreitenden Bürokratie" gehören.

"Das kann eben heute nicht mehr so ohne Weiteres jeder Otto Normalverbraucher leisten; so wie es noch in den 50er, 60er Jahren ging, als ein Handwerksmeister aus Bayern noch in den Bundestag ging, um dort seine Zunft zu vertreten. Damals war es noch nicht so komplex."

"Social Media und Rechtspopulismus haben sich gefunden."

Gatzka beschrieb heutigen Rekrutierungsmechanismen des politischen Personals: Immer früher würden Politiker auf ihre Arbeit im Politikbetrieb vorbereitet. Schon sehr früh trete man in die Jugendorganisationen der Parteien ein.

Für meine Begriffe ist das immer ein Problem: Denn wenn Sie jemanden haben, der mit 15 in die Junge Union gegangen ist oder zur Grünen Jugend – wie soll der sich mit 35 oder 55 noch vorstellen können, wie jemand aus einer anderen Partei tickt? Der ist so stark in seinem Kosmos drin.

Normale Bürger, die in ihren Wahlentscheidungen weitaus weniger gefestigt sind, und zwischen den Parteien wechseln, bleiben hier unverstanden zurück.

Der Rechtsextremismus löse dieses Repräsentationsproblem mit einer Kombination aus Medienprofessionalität und einfachen Antworten:

Indem sie die sozialen Medien in einer Weise bespielen können, die für andere Parteien deswegen gar nicht erreichbar sind, weil die sozialen Medien durch ihre Eigendynamik gewisse Inhalte brauchen und diese Inhalte liefern Rechtspopulisten.

Deswegen diese Idee, dass man mit rationaler Politik den Rechtspopulisten auf Social Media ernsthaft Konkurrenz machen könnte, total naiv. Social Media und Rechtspopulismus haben sich gefunden.

"Ein Stück weit das, was in den 1970er-Jahren noch die CDU/CSU angeboten hat"

Zugleich lieferten die Rechten jene einfachen Antworten auf komplexe Fragen, nach denen sich viele Wähler sehnten. Die hätten vor der Kompromissstruktur einer gewachsenen Demokratie kapituliert.

Schließlich müsse man zugeben, so Gatzka, dass

(….) Populisten, die Rechte vor allem, aktuell Inhalte bieten, die tatsächlich von einer nicht zu unterschätzenden Zahl und Menge der westeuropäischen Wähler vertreten wird, einer wachsenden Zahl sogar. Dazu gehört eine restriktive Migrationspolitik, dazu gehören auch weniger Steuern und weniger Abgaben für Bürgerinnen und Bürger. Also: die Inhalte verfangen auch.

Das hat man glaube ich lange nicht gesehen, man hat gedacht, das sind Protestwähler oder so. Aber man muss eben sehen, dass das was Populisten heute anbieten, ein Stück weit das ist, was in den 70er Jahren noch die CDU/CSU angeboten hat.

Der Stimmenzuwachs für extremistische Parteien, so Gatzka, habe auch damit zu tun, dass sich gewisse Wählerschichten offenbar von den neuen politischen Kräften angezogen fühlten:

Ich glaube, das hat auch ein bisschen was mit Faszination zu tun – das ist nicht zu unterschätzen, wie sehr man auch in der Politik gerne mit dem Feuer spielt. ... Und je mehr wir darüber reden und je mehr wir das verteufeln aus der Position der liberalen Demokratieverteidigung, desto attraktiver werden diese Parteien. Ich glaube, da gibt es auch einen Zusammenhang.

"Wir unterhalten uns nur noch über nationale oder übernationale Themen"

Wie könnte eine liberale Politik der Mitte und die klassischen Parteien, die sie vertreten, wieder neue Attraktivität entfalten? Für Straßenwahlkampf und Wahlkampf an den Haustüren reichten die Ressourcen nicht aus.

Gatzka plädiert für eine neue Lokalisierung von Politik. Das sei ein zentraler Modus für demokratischen Zusammenhalt und Solidarität.

Wir sind abgedriftet von diesem Lokalen, wir unterhalten uns nur noch über nationale oder übernationale Themen. Aber das sind ganz klassische Themen des Staates. Die müssen nicht demokratisch verhandelt werden, das haben Staaten auch gemacht, bevor sie Demokratien waren. Demokratien leben von der Frage: "Wie wollen wir leben?" und die ist lokal verankert.