Vom Bauen in der vierten Dimension

Seite 2: Die Neugeburt der Architektur aus dem Geist der Malerei

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Die Villen, die der junge Mies van der Rohe vor 1914 entwarf, etwa Haus Werner und Haus Riehl, muten auf den ersten Blick konventionell an. Der Blick auf die Gartengestaltung offenbart hingegen den Bruch mit der Tradition. Der Garten ist proportional auf das Haus bezogen. Das Fließen des Raumes durch das ganze Haus setzt sich nach draußen fort, und sei es durch Verlängerung der Achse. Die Innenräume werden maßstäblich in der Geometrie der Beete widergespiegelt. "Raumbrücken", wozu Laubengänge und Pergolen (bei Muthesius) gehören, sorgen für Verbindung und Durchdringung der Flächen und Ebenen. Einen zentralen Aussichtspunkt und einen Fluchtpunkt gibt es nicht mehr.

Juan Gris: Harlekin mit Guitarre, 1919. Bild: Sailko / CC-BY-SA-3.0

Zugespitzt ging der Aufbruch in die Moderne von der Gartenreform aus. Der verschnörkelte, postromantische Garten wurde vom geometrischen, "architektonischen" Garten abgelöst, der als erweiterte "Wohnung im Freien", Salon im Freien usw. bezeichnet wurde. Muthesius brachte die funktionale Zuordnung der Räume des Hauses zu den Gartenkompartimenten auf die Agenda. Der "Drawing Room" war zum Beispiel zum Rosengarten ausgerichtet. Nicht nur in großbürgerlichen Landhäusern lag vor der Küche der Kräutergarten. Diese Zuordnung hielt sich von den Gartenstädten vor dem Weltkrieg bis zu den Siedlungen der Zwanziger Jahre. Muthesius resümiert:

Der heutige Garten bildet eine Auseinandersetzung von regelmäßigen Einzelteilen, die sich mit dem Grundriss des Hauses vergleichen lässt, nur dass die Räume nach oben offen sind.

"Wohnzimmer im Freien" lebten in der Nachkriegsmoderne (um die 60er Jahre) noch einmal auf in der verselbständigten Form "öffentlicher Wohngärten". Das waren Parks mit Wandscheiben und Nischen aus geometrischen Heckenpflanzungen. Auf diesen Parks lastet ein hoher Umbaudruck. Die Nischen gelten heute als Angsträume.

Bruno Taut / Hugo Häring / Otto Rudolf Salvisberg: Siedlung "Onkel Toms Hütte", Berlin 1926-32. Bild: Bernhard Wiens

Die Offenheit nach oben wirft die Frage nach dem Zusammenspiel von Horizontale und Vertikale auf. Sie wurde in der Moderne zum einen malerisch-abstrakt, zum anderen geometrisch-theoretisch beantwortet. Der moderne Raum wird zur Umsteigestation zwischen Malerei und Architektur. Die Vertikale geht in die Horizontale zurück, und diese kann umgekehrt zur Vertikalen extrahiert werden. Vorne und hinten rücken sich näher. Der bekannteste Vertreter der 1917 gegründeten Gruppe "De Stijl", der Maler Piet Mondrian, beschränkte sich am Ende einer Phase zunehmender Abstraktion auf die Grundfarben Rot, Blau und Gelb und die Polarität von Farbe zu Nichtfarben, als welche Schwarz und Weiß gelten. Die Polarität wird durch die formale Reduktion auf den rechten Winkel besiegelt.

Wie im Konzept des fließenden Raumes die inneren Räume ihren Rhythmus erst im Freien, im Einswerden mit dem Allraum der Natur entfalten, so drückt Mondrian in seinen Bildern das All der Natur in Beziehung zum menschlichen Empfinden aus. Das Allgemeine des Lebens wird in der bipolaren Opposition von Natur und Geist, Individuellem und Universalem, Weiblichem und Männlichen, Leben und Kunst vollzogen. Die Positionen stehen im rechten Winkel zueinander. Der Architekturraum als Volumen wird bei der elementaren Zerlegung zu ebenen Farbflächen aufgehoben. Die Innenräume sind keine in sich abgeschlossenen Raumzellen mehr. Sie gehen, beflügelt durch die avantgardistische holländische, aber auch russische Malerei (Suprematismus), ineinander über. Raumschichten überlagern sich, so bei Adolf Loos.

Die Bilder von Mondrian haben keine bestimmten Ränder. Sie weisen über sich hinaus, oder sie können additiv nebeneinander gelegt werden. Sie ergeben einen Rhythmus aus Hebungen und Senkungen. Hier hakt die moderne Architektur mit ihrem Zeilenbau und den zugehörigen Gärten ein. Sie erwächst aber auch aus den Farbflächen aufs Neue. Je nach Kombination scheinen manche Farben dem Auge näher zu liegen, manche ferner. Durch die Distanzwirkung der farbigen Differenzierung der Flächen entstehen wieder Tiefendimensionen, die vielfältig variabel sind. Die Zentralperspektive der Renaissance ist aufgelöst.

Piet Mondrian: Komposition mit Rot, Gelb, Blau und Schwarz, 1921. Bild: Hannolans / CC-BY-SA-3.0; Theo van Doesburg: Rhythmus eines russischen Tanzes, 1918. Bild: SolssetEben! / CC-BY-SA-3.0

Der aus den geometrischen Formen und Farben neu komponierte Raum ist nichts mehr, was durch das Schlüsselloch betrachtet wird, so El Lissitzky. Die Farben und Flächen sind in Bewegung gesetzt. Raum und Zeit nähern sich an. Theo van Doesburg, ebenfalls zu De Stijl gehörend, zog in "axonometrischen Projektionen" die geometrischen Gebilde Mondrians quasi in die dritte Dimension. Sie wirken wie Architekturbild-Vorlagen für die "Bauhäusler". Gerrit Rietveld stattete mit den Farben und Formen ein ganzes Haus aus. Die raumbildende Funktion der Farben wird bei Bruno Taut ganz augenscheinlich.

Geist der Musik und Landschaftsmalerei

In seinem Entwurf für ein "Landhaus in Backstein" von 1924 hat Mies van der Rohe die Malerei in die Architektur geklappt und die Architektur in die Landschaft gezogen. Das Raumgefüge des Bauwerks besteht aus der freien Disposition gliedernder Wandscheiben, die vom überkragenden Dach gelöst sind. Asymmetrisch organisierte Mauerabschnitte öffnen sich zum Außenraum durch raumhohe Glaswände. Ulrich Müller:

Zentrifugale Mauerzüge, die sich aus der rechtwinkligen Struktur des Baukomplexes lösen und in drei Himmelsrichtungen streichen, verspannen das schwebende Gebilde aus Wandfeldern und Mauerwinkeln, indem sie über den vorgegebenen Rahmen der Zeichnung hinausweisen.

Durch wiederholte Unterbrechung der Massen wird der Raum rhythmisiert. Die schwebende Bewegung des Baukörpers bei Gleichzeitigkeit der Teile vermittelt Ulrich Müller den Eindruck der Musikalität des Gebäudes, die Hans Soeder bis zur "Raumfuge" gesteigert sah. Dieser Steigerung bzw. Sublimierung zur Musik entspricht ein gegenläufiger Prozess. Van Doesburg hatte den "Rhythmus eines russischen Tanzes" malerisch-graphisch visualisiert. Das Liniengefüge weist deutliche Analogien zum von Mies gezeichneten Grundriss auf.

Ludwig Mies van der Rohe: Haus Tugendhat, Brünn 1929/30. Bild: Justraveling.com / CC-BY-SA-3.0

Mit dieser Vermischung der Künste war die Moderne bei sich angekommen, wie bereits bei der Eröffnung des Festspielhauses Hellerau am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Der Lebensrhythmus der Zeit war gebildet aus Tanzkunst und Architektur. Dieser Lebensrhythmus flackert heute wieder auf. Die Elbphilharmonie wurde durch die Tanzkompanie von Sasha Waltz eingeweiht.

Die plastisch wirkenden Raumbilder Mondrians werden zu Bildräumen, wo Mies van der Rohe die Realisierung seiner Vorstellungen vom Raumkontinuum gelingt. Aus Malerei wird ein panoramatisches Bild der realen Landschaft. In der Villa Tugendhat (Brünn 1929/30) inszenierte Mies ein Gesamtkunstwerk aus Architekturbild und Landschaftsbild. Alle überbauten Flächen fügen sich in ein Raster von Quadern. Den Wintergarten legte der Architekt auf die Tiefe dreier Rasterquadrate fest und führte ihn über die gesamte Breite des Hauses.1

Haus Tugendhat: Links die kostbare Onyxwand. Bild: Simonma / CC-BY-SA-3.0

Die privilegierte Lage am Hang gewährt einen Blick über das Tal und die Stadt. Die Inszenierung der über den Hauptraum gestreuten Wohnelemente, auch der Wände, macht die im Blickfeld liegende Landschaft zum Gemälde wie auf einem vorbeiziehenden Theaterprospekt. Der landschaftliche Raum ist aus dem Nächstliegenden und dem Entferntesten zusammengezogen. Wer den Wohnraum betritt, ist zunächst vom Fensterbereich abgeschirmt. Er befindet sich "hinter der Bühne".2 Man muss sich in diesem "Raum bewegen, sein Rhythmus ist wie Musik", vermerkt Ludwig Hilberseimer.

Die Rasenfläche des Gartens ist, um im Bild zu bleiben, die Vorderbühne. Der Wohnraum wird zum Belvedere, und die Aussicht bietet eine "Stadtvedute". Bereits von der dem Garten abgewandten Straßenseite eröffnet sich eine Sichtachse auf das Panorama. Villa Tugendhat steht für die Verträglichkeit einer streng architektonischen Außenraumgestaltung mit Landschaftlichkeit. Das ist das Novum der Zwanziger Jahre.3