Vom Chaos, der Virtuellen Realität und der Endophysik

Seite 2: Die Karamelmaschine, das Chaos und die Position des Beobachters

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Die Chaostheorie untersucht komplexe Systemn, die unvorhersagbar in andere Ordnungszustände durch Rekursion oder andere Prozesse umkippen. Warum verbinden Sie nun ausgerechnet die Chaostheorie mit einer absoluten Konsistenz? Das überrascht mich.

RÖSSLER: Das Chaos wird mit der Bifurkationstheorie, die hier auch anwendbar ist, zusammengebracht. Ich neige zu ungewöhnlich anschaulichen Bildern, die ich im Kopf ablaufen lasse. Ich habe einmal eine Maschine gesehen, die Karamelmasse auf zwei rotierenden Armen immer wieder in die Länge zieht und aufeinanderlegt. Das sieht sehr hübsch aus und ist zufällig eine der besten Illustrationen von Chaos.

Man kann diese ganze Maschine, bei der sich die Arme drehen, noch zusätzlich auf eine rotierende Plattform stellen. Dann kann man einen kleinen Kristall in diese Masse hineinstecken, der fluoresziert. Wenn man dann das Licht aus- und eine UV-Lampe anschaltet, sieht man einen Lichtpunkt im Raum wandern. Das ist das schönste Beispiel von Chaos. Im übrigen ist dieses Bild noch nie realisiert worden.

Was hieße dann Chaos? Daß die Bewegung des Lichtpunktes nicht voraussagbar ist?

RÖSSLER: Richtig, denn wenn ich ihn in eine ganz geringfügig verschiedene Anfangslage bringe, dann würde er nach kurzer Zeit eine ganz andere Bewegung über der Plattform ausführen. Dieses Bündel kann man ebenso fotografieren wie Autos bei offener Blende in der Nacht auf einer Straße. Das wunderschöne Lichtgebilde, das dabei entstehen würde, illustriert das Chaos. Es ist so durcheinander, wie sich das Anaxagoras vorgestellt hatte. Es ist auf der einen Seite wie die perfekte Mischung des Universums, auf der anderen Seite sind die Bewegungen, wenn man sie sich genau anschaut, lokal parallel. Die Lichtbahnen sind wie Nudeln, die parallel liegen, und der Geist kann tatsächlich einer einzigen solchen Bahn mit transfiniter Genauigkeit und über beliebig lange Zeit folgen, wenn man daran glaubt, daß unsere Welt so genau aufgebaut wäre.

Diese Karamelmischmaschine ist für mich eine Metapher dafür, daß man glauben darf, die Welt sei tatsächlich sorgfältig konstruiert, und zwar so sorgfältig oder mit soviel Liebe, daß sie sogar transfinit genau ist. Von dieser, wenn Sie wollen, metaphysischen Vorstellung her kann man den Mut kriegen, auch daran zu glauben, daß das, was angeblich in unserer Welt nicht verständlich ist, aus Gründen, die man nicht verstehen kann, doch verständlich sein kann. Es wäre also vielleicht möglich, Gründe dafür anzugeben, warum man, wenn man im Inneren einer im Prinzip verständlichen Welt sich befindet, auf Schranken stößt, die nicht überschritten werden können, die aber dann doch, wenn man sich in eine äußere Perspektive stellt und das Ganze wie einen Kasten ansieht, in dem das alles abläuft, im Prinzip verständlich werden könnte.

Wir haben diesen Superbeobachter nicht, wir sind selbst nicht in dieser Situation, die einem Programmierer ähnlich ist, wo wir die Welt in einem Kasten vor uns haben: Wir sind nicht draußen. Aber wir können uns immerhin vorstellen, wir wären draußen. Dann könnten wir sehen, welche Konsequenzen es hätte, wenn wir in einem so unendlich feinen Aquarium wären. Und dann könnte man überlegen, ob diese Konsequenzen in unserer Welt zutreffen.