Vom Gartenhaus nach Buchenwald

Seite 2: Krieg der Dächer

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Die Lebensreform mit ihren sozialen Ansprüchen hielt Architekten aller Schulen so lange zusammen, wie die frühen Gartenstädte errichtet wurden. Licht, Luft und Sonne sowie sanitäre Einrichtungen und Gärten sollten den Arbeitern zuteil werden. Das Programm der Moderne wurde erstmals erprobt, so 1909 in Hellerau bei Dresden. Haus und Garten, Innen und Außen waren ein engverschmolzenes Ganzes. Die Räume des Hauses waren nicht nur bei Klein-, sondern auch bei städtischen Landhäusern entsprechenden Kompartimenten des Gartens zugeordnet. Die Küche ging nach dem Kräutergarten hinaus. Die Gartenstadt-Häuser standen häufig in Reihe, doch wurde die Serie intermittiert durch gelegentlichen Wechsel von Trauf- und Giebelständigkeit.

Die sozialen Siedlungen der Zwanziger Jahre waren im Kern vorbereitet. Aber so geometrisch, wie der Engländer Ebenezer Howard die ideale Gartenstadt 1898 entworfen hatte, sah es in Hellerau nicht aus. Die Straßen und Plätze waren der Topographie angepasst, und der Stadtplaner Camillo Sitte schrieb: "Vor allem durch Variationen in Straßenführung und -belag, Begrünung, Ruhezonen usw. sowie eine unregelmäßige Gruppierung der Baumassen versuchte man, individuell gestaltete Lebensbereiche zu schaffen." Was Friedrich Ostendorf als "geschickt aufgebaute Theaterkulisse" brandmarkte, ist gemäß Sittes Beschreibung eine überzeugende Variante des Heimatschutzstils.

Konfrontation der Dächer am Fischtalgrund in Zehlendorf, um 1928. Bild: Bildarchiv Foto Marburg

Diesem Stil stand der Chefplaner Helleraus, der Münchener Richard Riemerschmid, nahe, während Hermann Muthesius, der mitwirkender Architekt war, die Grundsätze einer funktionalistischen Moderne vorformuliert hatte, weg vom "Fassadenstil". Die verschiedenen Richtungen trafen sich friedlich in Hellerau. Der Heimatschutzstil sah sich jedoch im Zwiespalt, die Ziele der Moderne mit rückwärtsgewandtem Rüstzeug zu verfolgen. Ihm wurde das Etikett "antimoderne Moderne" verpasst.

Im Untergrund hatte sich bereits eine andere, mehr und mehr mitreißende Strömung entwickelt. Zwei Jahre vor dem englischen Gartenstadtpionier Howard hatte Theodor Fritsch weitgehend unbeachtet "Die Stadt der Zukunft" veröffentlicht. Das enthaltene Gartenstadt-Konzept geht von der Organisation der Gemeinden in Nachbarschaften aus, hinter der sich jedoch eine hierarchisch-ständische Gliederung der Volksschichten durch deren räumliche Segregation verbirgt. Das erstaunt wenig in Anbetracht des "Antisemiten-Katechismus", den Fritsch bereits 1887 herausgebracht hatte. Er wurde zu einem führenden theoretischen Wegbereiter des Nationalsozialismus.

Die emanzipatorische Gartenstadtidee konnte nun durch eine Blut- und Boden-Ideologie untermauert werden. In der "Obstbaukolonie Eden" ging es los. Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es dort Stimmen, die den Vegetarismus zur "Abwehr der Rassenverschlechterung" einsetzen wollten.

Spätestens 1928 war der Bruch zwischen dem gemäßigten Klassizismus des Heimatstils und der Neuen Sachlichkeit der um das Bauhaus gruppierten Architekten vollzogen. Bruno Taut, Hugo Häring und Otto Salvisberg hatten den Bau der modernen, aus kubischen Baukörpern bestehenden Siedlung "Onkel-Toms-Hütte" in Berlin-Zehlendorf bis zu einer Straßenkante vorangetrieben, von der aus der Blick der Bewohner über eine liebliche Grün-Landschaft schweifen sollte. Ein führender Vertreter der anderen Fraktion, Paul Schultze-Naumburg, glaubte hingegen ein Nichts zu sehen, wenn er auf Häuserzeilen im Stile Tauts blickte. Ihm waren die Häuser "dachlos". Flachdächer waren im gutbürgerlichen Zehlendorf eine Provokation. Der "Zehlendorfer Dächerkrieg" entbrannte.

Eine auf eine mittelständische Klientel ausgerichtete Wohnungsbaugesellschaft setzte den Bewohnern der Taut-Siedlung eine "Versuchssiedlung" vor die Nase, deren Steildächer vollends die Sicht aufs Grün versperrten. Auf dieser konservativen Seite der Straße wurde alles an Heimatstil-affinen Architekten aufgeboten, was Rang und Namen hatte, darunter Heinrich Tessenow, Paul Mebes und Paul Schmitthenner. Letzterer brandmarkte die flach gedeckten Häuser als nomadische Araber- und Palästinenserdörfer.

Schultze-Naumburg montierte in eine Postkarte der heute berühmten Weißenhof-Siedlung in Stuttgart, welche die Koryphäen des Neuen Bauens versammelt hatte, Beduinen, Kamele und Löwen hinein. Der Soziologe Werner Sombart steuerte eine originelle Erklärung fürs Flachdach bei: Weil die Juden ein baumloses Volk sind.

Heinrich Tessenow, der die konservative Fraktion leitete, bekam Muffensausen. Er wollte keine "Kriegsstimmung" aufkommen lassen. Dazu bestand - noch - kein Grund. Es scheint zu den Tugenden von Architekten zu gehören, die Position wechseln zu können. Taut konnte auch Satteldach, während Mebes sich auf kubische Baukörper und Stahlskelettbauweise verstand. Paradoxerweise steuerte Walter Gropius, der Bauhauschef, zur Versuchssiedlung einige begleitende Pavillons in flacher Bauweise bei. Die Fronten verliefen asymmetrisch, und der "moderne" Bruno Ahrends wusste sogar eine Lösung: "Ich mache für ein schlechtes Haus nicht die Dachform, sondern die Planverfasser verantwortlich und trete dafür ein, dass man nicht von guten und schlechten Dachformen, sondern nur von guten und schlechten Architekten sprechen kann."

Aber es half nichts. Als die Nazis hochkamen, ging es um mehr als nur Satteldächer. Es ging um Blut und Boden. Der für den besetzten Osten zuständige Landschaftsarchitekt Heinrich Wiepking-Jürgensmann schrieb: "Die Morde und Grausamkeiten der ostischen Völker sind messerscharf eingefurcht in den Fratzen ihrer Herkommenslandschaften." Ganz anders die Physiognomie derjenigen Häuser, in die sich die germanischen Eigenschaften eingeschrieben haben. Sie sind verwurzelt in der Landschaft, in der die Blutlinien der germanischen Rasse verlaufen. Die SS schuf im Zuge ihres berüchtigten "Generalplan Ost" einen "Raum ohne Volk" und fand kaum deutsche Neusiedler.

Wie aber sahen nun die heimatlichen Modellhäuser und -städte aus, die im besetzten Osten gleichsam aus der Retorte gezogen werden sollten? Sie bilden eine Wehrlandschaft. Orte und Siedlungen sind hierarchisch gegliedert. Zentral sind Versammlungsräume und Aufmarschplätze, aber entscheidend ist die "Tektonik" der Landschaft: Viereckige Felder sind von Windschutzhecken umschlossen. Dieses Muster wiederholt sich stereotyp, bis die ganze Landschaft mit Hecken überzogen ist, einer alten Forderung des Natur- und Heimatschutzes entsprechend.

In der Stereotypie der Siedlungen und Häuser ist das Verfahren der Abstraktion von historischen Formen auf die Spitze getrieben. Die Typisierung, die dabei herauskommt, ist geschichtslos und übertragbar auf andere Orte.1 Das ist der logische Grund der Wahnidee vom tausendjährigen Reich. Seine reale Wirkung ist die Zerstörung traditioneller und regionaler Verschiedenheit. Ein Schlaglicht auf die Verschmelzung verschiedener deutscher "Volksstämme" zu einer gesichts- und geschichtslosen, gleichwohl kriegsbereiten Masse wirft Leni Rieffenstahls "Triumph des Willens".

Die Landschaft, die Wiepking im Rahmen des Generalplans Ost beplante, hatte den Wehrbedingungen zu genügen. Um feindliche Flugzeuge abzulenken, wurden Baumgruppen gepflanzt, unter denen die Straßen abknickten. Wallhecken dienten der Tarnung vor Infanterie. Himmler ordnete wieder die Abholzung an, weil er Partisanen befürchtete. Die Zunft der Landschaftsarchitekten hatte aber noch genug am Westwall zu tun, der aus den gleichen Motiven begrünt wurde.2