Vom biologischen Menschen zum posthumanen Wesen
Die Zeit der Menschheit ist fast abgelaufen - sagt Max More, Chefphilosoph und Visionär der Extropianer - nicht weil wir uns selbst zerstören, sondern weil wir unsere Menschlichkeit überschreiten werden
Wir werden zu transhumanen Personen, während wir ins posthumane Zeitalter eintreten, indem die menschlichen Grenzen überwunden werden. More begründet in seinem provokativen Manifest, warum für ihn die Zeit der biologischen Menschen abgelaufen ist.
Max Morehat in England Philosophie studiert und siedelte anschließend nach Kalifornien über. Zusammen mit Tom Morrow begründete er Extropy, ein "Journal für transhumanistisches Denken" und das Extropy Institute, dessen Leiter er ist. Die Weltanschauung der Extropianer zieht immer größere Aufmerksamkeit auf sich. Die Zeit scheint reif für die Umwandlung des Menschen zu sein.
Die transhumanistische Herausforderung
Ich lehre euch den Übermenschen. der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden?
Friedrich Nietzsche "Also sprach Zarathustra"
Die Evolution hat die geistlose Materie in eine aufsteigende Spirale getrieben und immer mächtigere Nervensysteme entwickelt. Das Leben setzte mit gänzlich unbewußten chemischen Reaktionen ein. Daraus entwickelten sich einfacheTropismen, auf die Instinkte und Reiz-Reaktions-Verhaltensweisen im Sinne Skinners folgten. Mit dem Menschen entstand bewußtes Lernen und bewußte Erfahrung. Die Geschwindigkeit des Fortschritts beschleunigte sich enorm mit der Einführung des begrifflichen Bewußtseins und schließlich mit der wissenschaftlichen Methode. Extropianer und andere Transhumanisten wollen diesen evolutionären Prozeß mithilfe von Wissenschaft, Technik und Philosophie noch weiter beschleunigen. Mit der Verwerfung von alten Mythen und dem Einsatz von wirsamen neuen Werkzeugen können wir die biologischen und psychologischen Grenzen transzendieren, um posthumane Wesen zu werden.
Zu diesem Zweck müssen wir alle natürlich und kulturell verwurzelten Beschränkungen unserer Möglichkeiten beseitigen. Extropianer befürworten den prometheischen Gebrauch von Wissenschaft und Technik, um immer tiefere und umfassendere Verbesserungen des menschlichen Seins zu erzielen - um den biologischen Prozeß des Alterns und des unerwünschten Sterbens auszurotten, um unsere Intelligenz über die Kapazitäten unseres biologischen Gehirns hinaus zu vergrößern, um uns die Entscheidung über unsere körperliche und psychische Identität zu ermöglichen, anstatt uns mit der Identität zufrieden zu geben, mit der wir geboren wurden.
Wir verstehen Technik als eine natürliche Erweiterung und als Ausdruck des menschlichen Intellekts und Willens, der menschlichen Kreativität, Neugier und Imagination. Wir prophezeien und fördern die Entwicklung einer Technik, die immer flexibler, klüger und anpassungsfähiger wird. Wir werden mit den Produkten unseres Geistes in eine Ko-Evolution eintreten und schließlich mit unserer intelligenten Technik in eine posthumane Synthese verschmelzen, die unsere Fähigkeiten erweitert und unsere Freiheit vergrößert.
Die anmaßende Vision der Extropianer erzeugt bei vielen in der gegenwärtigen Welt Angst. Seltsamerweise haben selbst jene, die nicht an einen göttlichen Schöpfer, Hirten oder Sinngeber glauben, Angst davor, "Gott zu spielen". Diese Angst wird besoners in den typischen Reaktionen auf die Möglichkeiten deutlich, den Prozeß des Alterns und den Tod abzuschaffen. Vor dieser Aussicht schrecken viele zurück: Das ist nicht natürlich, Leben ohne Tod würde bedeutungslos werden, Ich will nicht länger als meine zugeteilte Zeit leben. Mit Angst und Schrecken sehen sie nicht nur die körperliche Unsterblichkeit, sondern auch den Erwerb einer übermenschlichen (oder posthumanen) Intelligenz. Viele Episoden der Serie Star Trek zeigen diese Einstellung: Die Überschreitung des Menschlichen bringt Unglück mit sich, was mit der zweiten Episode beginnt, "Where No Man Has Gone Before". Filme und andere Produkte der Massenkultur stellen oft die verheerenden Folgen des wissenschaftlichen Ehrgeizes dar.
Solche Erzählungen erscheinen mir ebenso altbacken zu sein wie die von Ikarus, Frankenstein und dem Turm von Babel: Menschen sollten eben ihre Grenzen anerkennen. Baut keine Flügel! Errichtet keine Türme, die den Himmel durchstoßen! Versucht nicht, Alter und Tod zu überwinden! Heilt die Kranken, aber verbessert nicht die Gesundheit!
Die Transhumanisten stellen sich dieser Haltung entgegen. Transhumanisten verschiedener Art teilen eine zentrale Vision. Wie der Begriff nahelegt, antizipieren Transhumanisten unsere Zukunft als posthumane Wesen und passen dementsprechend ihre Sicht ihres Lebens daran an. Sie sehen eine Zukunft radikaler körperlicher, psychischer und sozialer Veränderungen voraus. Die am besten organisierte Gruppe der Transhumanisten nennt sich Extropianer. Die extropianische Sicht der Technik, wissenschaft, Philosophie und Kunst wird in der Zeitschrift Extropy und in den Publikationen, Versammlungen und Online-Foren des Extropy Institute entwickelt. Die Extropianer haben ein eigenes Verständnis des Transhumanismus, zu dem bestimmte Werte und Einstellungen wie grenzenlose Expansion, Selbstveränderung, dynamischer Optimismus, intelligente Technik und spontane Entstehung von Ordnung gehören (die extropianischen Prinzipien). Extropianer sind auf der Suche nach weiterer Extropie - ein Maßstab für Intelligenz, Information, Vitalität, Erfahrung, Diversität, Möglichkeiten und Wachstum.
Ist der Vorschlag der Extropianer, ein posthumanes Wesen zu werden. nur eine visionäre Phantasie oder gar ein Alptraum? Zur Beantwortung dieser Frage muß ich zunächst zeigen, daß ein posthumanes Wesen wirklich möglich ist. Dann werde ich zeigen, daß der Versuch, ein posthumanes Wesen zu werden, wünschenswert ist und die Gesundheit fördert.
Sind posthumane Wesen möglich?
Der Übergang von einem menschlichen zu einem posthumanen Wesen läßt sich körperlich oder psychologisch und philosophisch begreifen. Körperlich werden wir erst dann zu einem posthumenen Wesen geworden sein, wenn wir unsere Erbanlagen, die Physiologie, Neurophysiologie und Neurochemie, so fundamental und gründlich verändert haben, daß wir sinnvollerweise nicht mehr als Homo sapiens eingeordnet werden können. Wir nehmen Prozac, Piracetam, Hydergine und Deprenyl, um unsere Psyche zu verändern, unsere Konzentration zu steigern und das Altern des Gehirns zu verlangsamen. Die Forschung über spezifischere und mächtigere neurochemische Wirkstoffe beschleinigt sich, da wir jetzt neue Mittel aus der Molekularbiologie, dem computerunterstützten Molekulardesign und bildgebenden Verfahren für das Gehirn verwenden.
Das Zusammenwachsen von Gehirn und Maschine ist für die Beobachter der Szene (z.B. Grogory Stock in Metaman) offenbar. Maschinen werden organischer und intelligenter, sie können sich selbst besser modifizieren. Diese Entwicklungen werden von Forschungsbereichen wie der Künstlichen Intelligenz, neuronalen Netzwerken, Fuzzy Logik, intelligenten Agenten und Maschinen Intelligenz vorangetrieben. Gleichzeitig beginnen wir, unsere Technik in uns selbst einzubauen. Wir fingen mit Herzschrittmachern, künstlichen Gelenken und Kontaktlinsen an. Künsliche Retinas und Cochleas werden entwickelt. Signale wurden erfolgreich zwischen einem Neuron in vitro und einem Transistor für Feldspannung hin und her gesendet. Forscher in den USA und in Japan (aber auch in Deutschlandgestalten bereits künstliche Retinas. Ein führender Wissenschaftler an der University of Southern California glaubt, daß innerhalb eines Jahrzehnts beschädigtes Hirngewebe durch künstliche Neuronen ersetzt werden können.
Computer und ihre Schnittstellen befinden sich in einer rasanten Entwicklung, um auf uns zu reagieren: von Mainframes und textbasierten Schnittstellen über PCs, grafischen Schnittstellen und Browsers bis hin zu persönlichen digitalen Assistenten, Stimmerkennung, intelligenten Agenten und Knowbots. Wie lange wird es noch dauern, bis Computer in unser Gehirn implantiert und nahtlos in unser kognitives System als eine zusätzliche Hemisphäre eingegliedert werden?
Am Beginn des neuen Jahrtausends wird es die Möglichkeit geben, technisch erzeugte Viren für die Veränderung der genetischen Strukturen jeder einzelnen Zelle, sogar von ausgewachsenen, differenzierten Zellen, einzusetzen. Das wird uns eine verführerische macht über die Physiologie und Morphologie eröffnen. Molekulare Nanotechnologie, eine entstehende und immer besser fundierte Technik, müßte uns eine praktisch vollkommene Macht über die Struktur der Materie und so die Möglichkeit eröffnen, alles, Atom für Atom, perfekt zu gestalten. Wir werden in der Lage sein, den Aufbau materieller Objekte (wozu auch unsere Körper gehören) genau so zu programmieren wie unsere Computer durch Software. Die Abschaffung des Alterns und des unerwünschten Todes wird eines der Ergebnisse sein. Wir haben bereits zwei der drei Träume der Alchemisten verwirklicht: Wir haben die Elemente verändert und das Fliegen gelernt. Das nächste Ziel ist die Unsterblichkeit.
Einige Wissenschaftler im Bereich der Maschinenintelligenz, der Robotik und der Kognitionsforschung sagen noch weitaus radikalere posthumane Möglichkeiten voraus. Vielleicht werden wir unser Selbst (unsere Psyche, unser Gedächtnis, unsere emotionalen Reaktionen, unsere Werte und Gefühle) von unseren biologischen Gehirnen in künstliche Gehirne uploaden können. Auf einer neuen Hardware - vielleicht auf konnektionistischen Nanocomputern - könnten unsere mentalen Prozesse eine Million Mal schneller laufen und viel leichter und umfassender modifiziert werden, als dies bei unseren natürlichen Gehirnen der Fall ist.
Das Ziel des Posthumanismus
Und dies Geheimnis redete das Leben selber zu mir. "Siehe", sprach es, "ich bin das, was sich immer selber überwinden muß. Freilich, ihr heißt es Wille zur Zeugung oder Trieb zum Zwecke, zum Höheren, Ferneren, Vielfacheren ...
Friedrich Nietzsche "Also sprach Zarathustra"
Warum sollten wir uns selbst und unsere Menschlichkeit überwinden? Warum sollten wir danach streben, zu posthumanen Wesen zu werden? Warum sollten wir nicht unsere menschlichen Grenzen akzeptieren und die Überschreitung ablehnen? Wenn man diese Frage stellt, hat man sie bereits fast schon beantwortet. Der unterstellte Fragende klingt ängstlich, erschreckt oder selbstzufrieden. Die Aufklärung und die humanistische Perspektive versichert uns, daß Fortschritt möglich ist, daß das Leben ein großes Abenteuer ist und daß Vernunft, Wissenschaft und guter Wille uns von den Beschränkungen der Vergangenheit befreien können. Natürlich können wir auch viel erreichen, wenn wir menschlich bleiben. Aber wir höhere Gipfel erklimmen, wenn wir nur unsere Intelligenz, unsere Entschlossenheit und unseren Optimismus dafür einsetzen, die menschliche Puppe zu durchstoßen. Die Evolution hat trotz unserer Bemühungen unser Verhalten in bestimmte Richtungen geleitet, die in unser Gehirn eingearbeitet sind. Unsere Körper und Gehirne beschränken unsere Kapazitäten. Unsere Kreativität windet sich in den Grenzen der menschlichen Intelligenz, Imagination und Konzentration.
Alle Menschen sind das Opfer von Altern und Tod. Der Tod ist in den Worten von Alan Harrington eine Zumutung für die Transhumanisten, die nicht mehr akzeptierbar ist. Die ärgerliche Wahrheit ist, daß das Altern gerade dann unsere Energien aussaugt, wenn wir beginnen, einen Funken an Weisheit und Wissen zu erlangen. Die Natur gestattet uns nicht, aus unseren Jahrzehnten der Erfahrung Kapital zu bilden. Der Tod ergreift uns, um uns den letzten Schlag zu geben. Daher ist für die Extropianer und andere Transhumanisten der Sieg über das Altern und den Tod die dringendste und wichtigste Aufgabe unserer Zeit.
Manche befürchten, daß das Leben seine Bedeutung ohne die gewohnten Lebensabschnitte verlieren könnte, die durch das Altern und die Gewißheit des Todes bewirkt werden. Estropianer betrachten eine solche haltung als unverständlich Rationalisierung, als einen Mechanismus, das Beste aus dem zu machen, was bislang als unvermeidlich erschienen ist. Die Erzielung von posthumenen Lebenszeiten wird sicherlich eine umfassende Neuordnung unserer Lebensweise, unserer Institutionen und unseres Verständnisses von uns selbst erzwingen. Doch die Mühe lohnt sich. Ein grenzenloses Leben eröffnet neue Perspektiven, unerforschte Möglichkeiten, unbeschränkte Selbstverwirklichung. Die Abwensenheit von Altern und Tod wird dem Leben nicht seine Bedeutung rauben. Ich glaube, daß das Gegenteil der Fall sein wird. Bedeutung und Wertschätzung erfordern die kontinuierliche Herstellung und Zerstörung von Formen, einen Prozeß der Selbstüberwindung und nicht einen Zustand der Stagnation. Überdies ist das Begehren nach Überschreitung zu stark und für das Leben zu zentral. Das merken wir an unserem unlöschbaren Verlangen nach Helden, die wir bewundern können, und, in einer verzerrten und veräußerlichten Form, an der Fortdauer und Allgegenwart von Religionen. Es ist besser, dies rational zu erkennen und sich nutzbar zu machen, als es zu ignorieren oder auszurotten.
Das aktuelle medizinische Paradigma enthält eine für unsere Kultur geläufige Unterscheidung: die scharfe Unterscheidung zwischen der Behandlung einer Krankheit und der Verstärkung einer Leistung in einem außergewöhnlichen Grad. Ärzte betrachten ihren Beruf in der Behandlung von Krankheiten und Beschädigungen, nicht als Verbesserung einer bereits gesunden Leistung. Das ist für mich mit der begrenzten Vorstellung des Natürlichen verbunden. Wenn wir etwas heilen, dann machen wir nur etwas, was in der Absicht der Natur (oder Gottes) liegt. Man sagt, es sei unnatürlich, ohne Ende zu leben oder den Körper und das Gehirn über das normale Maß hinaus zu verbessern. Daher akzeptieren wir Medikamente in der Psychiatrie, aber weisen solche zurück, die unsere Intelligenz erweitern. Wir führen chirurgische Eingriffe am Herz durch, aber frieren nicht die vorübergehend Toten ein.
Aber wir sollten die transhumane Überschreitung als natürlich ansehen. Der Natur wohnt selbst eine Tendenz ein, neue komplexe Strukturen zu suchen, sich selbst zu überwinden, um neue, leistungsfähigere Formen anzunahmen. Nietzsche erkannte dies in seiner Deutung des universellen Willens zur macht. In jüngerer Vergangenheit haben wir dieses Streben nach Komplexität durch die Komplexitätstheorie, die Evolutionstheorie, durch das Künstliche Leben und Neurocomputer entdeckt. Das Überwinden von Beschränkungen ist für Menschen natürlich. In unserem Innersten existiert das Begehren, uns selbst und unsere Umwelt zu verändern.
Niemand wird uns bestrafen, wenn wir die Büchse der Pandora öffnen, wenn wir uns mit den Flügeln einer posthumanen Intelligenz und Alterslosigkeit ausstatten. Unsere alten Mythen, die uns vor radikaler Erneuerung abhalten, waren an unsere frühe Geschichte angepaßt, als wir am Rande der Auslöschung lebten. Neue Techniken, die Lebensweisen verändern, hätten zum Aussterben einer Gemeinschaft von primitiven Menschen führen können. Ja, wir müssen vorsichtig vorgehen, wenn wir unsere Hirnfunktionen, unsere Gene und unsere Physiologie verändern, aber laßt uns nicht wegen der Angst oder einer falschen Ehrerbietung vor der Natur, wie wir sie kennen, davon abhalten.
Leben und Intelligenz sollten niemals stagnieren. Sie können sich neu formieren, sich verändern und ihre Beschränkungen in einem grenzenlosen Fortschritt überwinden. Religiöse Weltanschauungen sagen uns, daß wir Gott als ein höheres Wesen ehren sollen. Das Ziel der Extropianer ist unsere eigene Erweiterung und ein Fortschritt ohne Ende. Die Menschheit ist ein temporärer Abschnitt des Evolutionsweges. Wir sind nicht der Höhepunkt der Natur. Es wird Zeit, daß wir uns bewußt um uns kümmern und unseren transhumanen Fortschritt beschleunigen.
Keine Götter, keinen Glauben, kein ängstliches Zurückweichen mehr! Brechen wir aus unseren alten Formen, aus unserer Unwissenheit, Schwäche und Sterblichkeit aus! Die Zukunft gehört den posthumanen Wesen!
Gundolf Freyermuth über die Extropianer und den Trend zur Cyborgisierung des Menschen
Christoph Drösser über die Extropianer
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Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer