Vom ideologischen Konstrukt der Hochbegabung

Seite 2: Die Angst "zu verlieren" und die Frage, ob es nicht auch anderes als die Schule gibt

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Auffällig ist, dass die stromlinienförmigen Wettbewerbs- und Elite-Apologeten wie die Macher des erwähnten Radiobeitrags meinen, gar nicht mehr erklären zu müssen, wozu der Wettbewerb dient. Sie gehen meiner Auffassung nach so unreflektiert vor, dass sie glauben, es sei ja selbstverständlich, dass alle der Meinung seien, man müsse im sogenannten globalen Wettbewerb mitspielen. Dies ist aber mitnichten der Fall.

Und überhaupt - wer möchte denn lieber in Singapur mit seinen angeblich 15% "Hochbegabten" leben und zur Schule gehen als in Deutschland? Auf einer Internetseite, welche die Kultur in diesem ostasiatischen Land für Westeuropäer zusammenfasst, heißt es schließlich:

In Singapur hat sich daraus ein "Kiasu" genanntes Konzept entwickelt, das sich mit "Angst davor, zu verlieren" übersetzen lässt. Kiasu löst bei den Einwohnern der Insel einen ungebremsten Ehrgeiz aus, um nur ja nicht zu verlieren - im Berufsleben, bei Verhandlungen, in der Schule oder im Sport. Allerdings ist Kiasu auch in Singapur selbst nicht unumstritten: Die einen glauben, dass Kiasu die Einwohner zu Hochleistungen anspornt, die anderen denken dagegen, dass es zu einer kalten, ehrlosen Gesellschaft führt, in der jeder nur an sich selbst denkt.

Singapur-Reisetipps.de

Die Angst "zu verlieren" spiegelt sich auch in Radiobeiträgen wie dem des Deutschlandfunk wieder, in dem mantrenhaft wiederholt wird, Deutschland sei ja im globalen Wettbewerb nicht hinreichend hoch im Ranking positioniert.

Wollen wir eine Leistungs- und Angstgesellschaft oder eine, in der jenseits schnöder Wissensvermittlung und Leistungserbringung ein jeder und eine jede aufblühen und sich entsprechend ihrer individuellen Persönlichkeit entfalten kann?

Oder um es mit Wilhelm von Humboldts Worten zu fragen: Kann mit Hochbegabtenförderung gewährleistet werden, dass "jeder einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln, und sich "jeder einzelne nach dem Maße seines Bedürfnisses und seiner Neigung"? Oder muss die Gesellschaft für 2% zu Ungunsten von 98% der Schüler umgekrempelt werden?

[DLF:] Zwar biete der Ganztages-Unterricht an vielen Schulen mittlerweile das Potential für Förderangebote sowohl für lernschwächere als auch für hochbegabte Schülerinnen und Schüler: "Das ist halbwegs im Bereich der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler gelungen, obwohl ich auch sagen würde: Da gibt es noch Defizite. Im Bereich der Hochbegabung kann man praktisch an keiner Ganztagsschule ein wirkliches systematisches Programm erkennen."

Und schließlich gibt es in Deutschland noch ein weiteres Problem: Häufig werden überdurchschnittliche Begabungen gar nicht erkannt. Baden-Württembergs CDU-Kultusministerin Susanne Eisenmann sieht hier die Gefahr, dass Talente regelrecht verkümmern könnten:
"Wir brauchen bessere Möglichkeiten, um Hochbegabungen festzustellen. Und wir müssen auch die Ausbildung zum Erkennen von Hochbegabungen noch stärker in den Blick nehmen."

Deutschlandfunk-Beitrag "Ungehobenes Potenzial"

Der Ganztagsunterricht biete also Möglichkeiten, Kinder in der Schule zu fördern, heißt es. Daraus spricht die Behauptung, Kinder würden nur in der Schule lernen können. Klar kann das vernachlässigte Kind das nur dort, wenn es zu Hause nicht einmal einen Schreibtisch hat, unter gewalttätigen oder psychisch kranken Eltern leidet usw..

Aber was ist denn mit den Kindern, die nach einem Schulschluss um 12 Uhr sagen wir an ihrem Baumhaus weiterbauen möchten, die Blumen auf dem Nachhauseweg untersuchen oder die Bücher ihrer Eltern aus dem Schrank ziehen und darin blättern wollen? Oder die einfach nur ihren Gedanken nachgehen möchten oder heimlich fernsehen und abzuschalten wollen, den Kopf freibekommen nach so viel sozialer Interaktion? Die werden durch die Ganztagsschule in ein Korsett von Pflichterfüllung und ganztägigem Lernzwang gedrückt, das sie einsperrt und ausbremst.

Man behauptet in dieser Radiosendung, es gebe hierzulande ein "Problem", wenn "überdurchschnittliche Begabung" nicht erkannt werde. Die viel größeren Probleme der sozialen Selektion im Bildungssystem und der Chancenungerechtigkeit (die eher 50% als 2% der Schüler trifft) werden hingegen als weniger akut abgetan.

Angeblich könnten "Talente verkümmern", wenn sie nicht entdeckt würden. Wie schon gesagt, wenn das Kind nicht eigenständig handeln lernt, dann ist das ein Problem der aktuell vorherrschenden Herangehensweise im Bildungssystem, die Kinder zu Unselbstständigkeit und Stromlinienförmigkeit zu erziehen.

Besser das Bildungsssystem reformieren als Elitenförderung

Es bedarf daher auch keiner Eliten- und Leistungsförderung für besonders starke Schüler, sondern eines reformpädagogischen Ansatzes im staatlichen Bildungssystem. Die Bildungspolitik dieses Landes sollte viel mehr aus dem Umstand Schlüsse ziehen, dass gerade die Waldorfschulen in den letzten Jahren mit ihrem diametralen Gegenentwurf zur Technokratie im Schulsystem so massiv an Popularität und Verbreitung zugewonnen haben.

Das DLF-Magazin "Campus & Karriere" passt sich hingegen mal wieder nahtlos ein in einen Zeitgeist, in dem Bildung als Investition in Wirtschaft und Humankapital gesehen wird. Und so posaunen die Journalisten des Magazins unreflektiert modische Begrifflichkeiten heraus, ohne sie zu verstehen, geschweige denn sie zu hinterfragen.

Das alles reiht sich ein in das Trauerspiel der staatlichen Bildungslandschaft, in der die humanistische kindgerechte Traumwelt der Kindergärten zerschlagen und durch eine technokratische Welt der 'Kindertagsstätten' (KITA!) ersetzt wird, in der staatliche Schulen primär nur noch als Talentschmieden und Normierungsapparate betrachtet werden.

In denen die Schüler nicht zu Freiheit und Individualität erzogen werden (wie bei Montissori- oder Waldorfschulen), sondern zur Leistungserbringung im Räderwerk der Wirtschaft. Und in der Universitäten aus Institutionen der Freiheit der Forschung in Wirtschaftsunternehmen und Spinoff-Agenturen umgebogen werden sollen. Ziel des Ganzen: nationaler Aufstieg im globalen Wettbewerb, Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze.

Zum Schluss ein passendes Gedicht als ultimativer Intelligenztest für "Hochbegabte":

Sitzstreik
Der Buddha nimmt die Beine in die Hand.
Der Eilbote zockelt hinterdrein.
Die Fixsterne wallen.
Der Fortschritt wartet in der Warteschleife.
Die Schnecke verrennt sich.
Die Rakete hinkt.
Die Ewigkeit setzt zum Endspurt an.
Ich rühre mich nicht.

Hans Magnus Enzensberger

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