Von Hartz IV zu Corona: Die Krise der Repräsentation
Zur Entstehung einer neuen Medienkritik aus der Mitte der Gesellschaft - Teil 2
Das Jahr 2005 zeigt einen sehr grundlegenden Wandel im Verhältnis von Politik, Medien und Bürger an: Mit Hartz IV und seiner Befürwortung quer durch alle Parteien (bis auf die damalige PDS) und einer weitestgehend kritiklosen Mainstream-Presse schlug die Stunde der neuen alternativen Medien im Internet. Hier äußerte sich eine Opposition, die in Politik und Medien keine Sprachrohr mehr fand.
Wir erinnern uns: Mit dem rotgrünen Wahlsieg bei der Bundestagswahl 1998 schien der Traum von einem linksliberalen Deutschland wahr zu werden. Es wurde dann aber ein Alptraum, die Regierung Schröder-Fischer zog nicht nur in den ersten Krieg seit 1945, sondern führte mit der Einführung von Hartz IV auch den bis dato größten sozialen Kahlschlag durch. Deutschland erlebte einen neoliberalen "Modernisierungs"-Schub: aus Arbeitslosen wurden "Kunden", aus Arbeitsämtern "Job-Center".
Dieser Bruch mit der bisherigen Sozialpolitik führte zu massenhaften Protesten in der ganzen Bundesrepublik, in Leipzig gingen im Sommer 2004 rund 60.000 Menschen auf die Straße. Die Sozialdemokratie wurde durch die Politik der Schröder-Regierung ins Mark getroffen, tausende Mitglieder verließen deshalb die Partei ("Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten, wer war dabei, die grüne Partei") und in Folge kam es zur Gründung der Partei "Arbeit & soziale Gerechtigkeit - Die Wahlalternative" (WASG), die 2007 mit der PDS zur Linkspartei zusammenging. Die Opposition zu Hartz IV bestand aus enttäuschten Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern, der typische Demonstrant im Osten war männlich, über 50 Jahre alt, von Arbeitslosigkeit bedroht und wählte eher links.
Medial wurde Hartz IV durch ein Dauerfeuer der Bild-Zeitung mit Schlagzeilen wie "Deutschlands frechster Arbeitsloser" oder "So wird bei Hartz IV abgezockt" verteidigt. Die Medien enthielten sich einer Kritik und gaben im Wesentlichen die Sicht der Bundesregierung wieder. Das hatte auch damit zu tun, dass die Politik den Sozialabbau als alternativlos hinstellte, die Reihen der Politiker von SPD über Grüne, Union und FDP war weitgehend geschlossen. Und die Medien begnügten sich weitgehend, als Echokammer dieser Politik zu dienen. Um nicht den Begriff der "Gleichschaltung" aus dem Nationalsozialismus zu benutzen, habe ich seinerzeit von "Gleichrichtung" der Medien gesprochen.
Für die Hartz-IV-Opposition, und das waren ja nicht wenige Menschen, bedeutete diese Situation, dass ihre Meinung weder politisch noch medial eine Vertretung fand, selbst die ehemals "alternative" taz berichtete nur noch zynisch über die Proteste gegen Hartz IV.
Damit schlug die Stunde der neuen alternativen Medien im Internet, zum Beispiel die "Nachdenkseiten". Sie stehen exemplarisch für eine neue Medienkritik aus der Mitte der Gesellschaft, für Gruppen, die sich nicht mehr repräsentiert sehen. Urheber der Nachdenkseiten ist der ehemalige SPD-Politiker Albrecht Müller. In seinem 2004 erschienen Buch "Die Reformlüge" setzt er sich kritisch mit den damaligen Medienkampagnen (zum Beispiel der "Initiative Neue Marktwirtschaft") und den damaligen Schlagworten vom "Reformstau", "Überalterung" oder "Wir leben über unsere Verhältnisse" auseinander. Er kritisiert, dass viele von denen, die die öffentliche Meinung prägen, das gleiche sagen: "die Opposition und Teile der Bundesregierung genauso wie Zeitschriften, Zeitungen und Fernsehsender, gleichgültig ob öffentlich-rechtlich oder privat, ob intellektuell oder populär, ob rechts oder links." Was Müller kritisiert, ist die fehlende gesellschaftliche Debatte über kontroverse Themen und die Ursache dafür sind die fehlenden kontroversen Positionen in der Politik, die sich als neoliberale Einheitsfront gibt. Und die Medien spiegeln diesen Zustand wieder.
Hartz IV kann man so als die erste große gesellschaftliche Krise nehmen, die durch behauptete Alternativlosigkeit die Opposition in das Internet abwandern lässt. Entscheidend ist dabei, dass die Positionen der etablierten Medien und die der offiziellen Politik deckungsgleich erscheinen.
2015 wiederholt sich mit der Flüchtlingskrise das Phänomen einer "illegitimen" Opposition, allerdings unter komplexen Verhältnissen. So ist die offizielle Position der Bundesregierung nicht einheitlich, seit die CSU die flüchtlingsfeindliche Politik der AfD nachahmt. Damit finden sich die unterschiedlichen Positionen auch in der Presse wieder.
Auf der Straße haben bei den Protesten gegen die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel die AfD, Rechtsradikale und Neonazis das Heft in der Hand, die ihre Parolen von "Umvolkung" und "Überfremdung" unter die Leute bringen. Gleichwohl ist der folgende Aufstieg der AfD beziehungsweise ihr Einzug in diverse Länderparlamente gespeist von einem sich quer durch die Gesellschaft ziehenden Unmut beziehungsweise Unbehagen der Modernisierungsverlierer.
Interessant ist, dass die Flüchtlingskrise ähnlich wie die Corona-Krise durch eine Dramatik der Angst beschleunigt wird: Hier Bilder der "Flüchtlingswelle" im "Ansturm auf Europa", dort Bilder der Corona-Toten aus Norditalien und Madrid; hier die täglichen Flüchtlingszahlen derer, die an der Grenze ankommen, dort die täglichen Meldungen über Infizierte und Tote.
Teil 3: Corona und die orthodoxen Medien