Von Hoyerswerda lernen
Aufstieg und Fall der Lausitzer Braunkohle und ihrer Städte: Hoyerswerda und Weisswasser mahnen, wie wacklig unsere fossile Industriekultur sein kann
Binnen 20 Jahren versiebenfachte die Kleinstadt Hoyerswerda im 20. Jahrhundert ihre Bewohnerzahl. Braunkohle war der Magnet, dem alle folgten, und seit er seine Kraft verlor, schrumpft die Stadt ins Bodenlose. Die Geschichte dieser Stadt mahnt vor den Risiken einer Gesellschaft, die ihre Existenz an die ständige Verfügbarkeit endlicher Energierohstoffe hängt. Was für Orte wären Hoyerswerda und Weisswasser heute, wenn es die Braunkohle nicht gegeben hätte? In welchen Orten wird man leben, wenn die fossilen Rohstoffe zur Neige gehen?
Deutschland ist der weltgrößte Braunkohle-Förderer und -Verstromer. 183 Millionen Tonnen wurden 2013 gefördert und in Braunkohlekraftwerken verbrannt. Braunkohle wird in Tagebauen abgebaut, das bedeutet, dass die obere Erdschicht in Größenordnungen von Quadratkilometern komplett abgetragen und zwischengelagert wird, um an die darunterliegende Kohle zu kommen. Der großflächige, großindustrielle Eingriff zerstört alle gewachsenen Strukturen: Biotope genauso wie menschliche Siedlungen. Nach dem Kohleabbau versuchen die Bergleute die Erdschichten wieder so herzustellen, dass darauf wieder Natur wachsen kann, doch fehlt natürlich das Volumen der Kohle - weshalb in der Lausitz eine riesige, durch Menschenhand geschaffene Seenlandschaft entstanden ist ("Bergbaufolgelandschaften").
Der Höhepunkt der deutschen Braunkohle-Förderung war im Tschernobyl-Jahr 1986. Zwei Drittel der damals 425 Millionen Tonnen wurden in der DDR gefördert, darunter der Großteil in der Lausitz. Der Höhepunkt der Stromerzeugung aus Braunkohle war 1984 mit 186,2 TWh erreicht. Peak Braunkohle ist also bereits seit 30 Jahren überschritten, trotzdem boomt sowohl der Abbau wie auch die Verstromung, wie ein jüngster Spiegel-Artikel namens "Der wahnwitzige Braunkohle-Boom" dokumentiert. Sowohl in Sachsen wie auch in Brandenburg - die Lausitz erstreckt sich über beide Bundesländer - wurden kürzlich Beschlüsse gefasst, zusätzlich zu den bestehenden weitere Tagebaue zu eröffnen. Der Spiegel-Artikel macht recht differenziert den Zwiespalt dieser Entwicklung deutlich: Einerseits verlieren Menschen Haus und Hof, weil dort wo ein Tagebau entsteht, kein Stein auf dem anderen bleibt, andererseits arbeiten tausende Menschen "in" und mit der Kohle und verdienen so Lohn und Brot. Zudem sind externe Effekte wie der massive Ausstoß von Treibhausgasen und Nachwirkungen wie das Jahrhundert-Phänomen der "Braunen Spree" zu spüren - Probleme, die nicht nur die lokale Bevölkerung betreffen.
Die Lausitz ist als Beispiel für die fossile Energieversorgung aus zweierlei Gründen interessant. Einerseits wegen der sozialen Dynamik, die der Fund und die verstärkte Ausbeutung eines fossilen Energieträgers nach sich zog. In diesem Fall wird dies an den Einwohnerzahlen der zwei Städte Hoyerswerda und Weißwasser verdeutlicht. Andererseits lässt sich am Beispiel der Braunkohleförderung nachvollziehen, wie die Nutzung fossiler Energieträger zunehmend schwerer wird. Dies folgt aus dem "best first"-Prinzip, nach welchem leicht zugängliche Ressourcen zuerst gefördert und schlechtere Vorkommen für später aufgespart werden. Die damit zusammenhängende Problematik findet sich nicht nur in der Braunkohle wieder, sondern in allen (fossilen) Energieträgern.
Die soziale Dynamik der Braunkohleförderung
Die Städte und Dörfer in der Lausitz leiden seit langem an der starken Abwanderung. Diese dünnte die junge Alterskohorte aus. Die Abwanderung ist eng damit verbunden, dass die Bedeutung der Braunkohle zurückging, aber auch damit, dass die Effizienz der Braunkohleförderung und Verstromung stark zunahm. Für viele Menschen ist der Bruch mit der politischen Wende in der DDR verbunden, doch wer genauer hinschaut, entdeckt, dass die heutigen Probleme ihren Anfang bereits in den 1950ern nahmen.
Damals forcierte die DDR den Braunkohleabbau. Da dafür Arbeitskräfte notwendig waren, die weder in der Zahl noch in der Ausbildung vor Ort vorhanden waren, wurden Menschen aus der ganzen DDR in der Lausitz zusammengezogen. Anfang der 1950er lebten in Weisswasser etwa 14.000 Einwohner und in Hoyerswerda etwas mehr als 7.000. Wie untenstehende Abbildung zeigt, begann ein beispielloser Boom, der Hoyerswerdas Bevölkerungszahl (blaue Kurve) binnen 20 Jahren versiebenfachte. Von 1956 bis 1979 wuchs die Bewohnerzahl Hoyerswerdas jährlich um 10%, eine Wachstumsrate, die üblicherweise mit Schulterklopfen belohnt wird. Die Kehrseite solch eines massiven Einwohnerzuwachses wurde ab Mitte der 1980er sichtbar. Ab 1985 ließ sich die Braunkohleförderung nicht mehr steigern und stagnierte bei etwa 200.000 Tonnen jährlich (braune Kurve). Schon vorher, nämlich 1982 erreichte die Bewohnerzahl Hoyerswerdas ihr Maximum bei 75.000 Einwohnern. Weisswasser (rote Kurve) wuchs noch bis 1987 auf 37.000 Einwohner.
Mit dem Wende-Bruch brachen in der Region ganze Dämme: Die Kohleförderung halbierte sich binnen 3 Jahren und bis 2010 (Hoyerswerda) bzw. 2011 (Weisswasser) halbierte sich in der Folge auch die Einwohnerzahl der beiden Städte.
Die Dynamik dieses Prozesses ist extrem. Wurden seit den 1950ern in Hoyerswerda und Weisswasser noch ganze Stadtviertel in Plattenbauweise aus dem Boden gestampft, boomte nach der Wende vor allem die Abrissbranche. Tausende Menschen, die zuvor in den Häusern gewohnt, in naheliegenden Kindergärten und Schulen gelernt und ein Leben geführt hatten, finden von ihrem einstigen Lebensmittelpunkt heute kaum noch Spuren. Die Natur, die in der Lausitz stark von Kiefernwäldern auf Sand geprägt wird, holt sich große Teile dessen zurück, was ihr der Mensch einst abgetrotzt hatte.
Zugleich ist der Aufstieg der beiden Städte seit den 1950ern, der Höhepunkt in den 1980ern und der Niedergang in den letzten 30 Jahren ein Symbol für jene Industriekultur, die in Ost und West zwar anders organisiert war, aber letztlich Gemeinsamkeiten in der rasanten Ausbeutung natürlicher Rohstoffe fand. Wie ein Heuschrecken-Schwarm überfiel der Arbeiter- und Bauernstaat die Region, in der auch Spuren einer Jahrhunderte alten Hochofen-Kultur abgebaggert wurden. Die Ressourcen wurden ausgebeutet - und der Schwarm zog weiter. Zurück blieben enttäuschte Hoffnungen, Menschen die mit Schrumpfung ihrer Stadtgesellschaften leben lernen müssen und eine menschengemachte Seenlandschaft, die als deutsches Symbol für das Antropozän gelten darf.
Die kulturelle Dimension dieser ressourcengetriebenen Siedlungsdynamik wird deutlich, wenn man sie in einem etwas größere zeitlichen Maßstab betrachtet. Die folgende Abbildung nutzt dieselben Daten wie die vorangehende, zeigt die Entwicklung aber über einen Zeithorizont von drei Jahrhunderten:
Die Grafik zeigt deutlich einen glockenförmigen Verlauf sowohl in der Förderung des Energierohstoffs wie auch in der Entwicklung der Bevölkerungszahlen der zentralen Orte. Mit dem fossilen Industriezeitalter wurden aus Dörfern Kleinstädte. Mit der massiven Nutzung des örtlichen Energierohstoffs Braunkohle vergrößerten sich diese Kleinstädte in rasantem Tempo, um mit dem Erreichen des Fördermaximums förmlich wieder in sich zusammenzufallen. Die Tendenz der Lausitzer Stadtgesellschaften ist: Zurück zu jener Größenordnung, die vor der industriellen Nutzung der Braunkohle vorhanden war. Zurück bleibt ein umgepflügtes Terrain im Hauptsiedlungsgebiet der Sorben.
Energy Return on Energy Invested: Sinkende Energieerträge
Für Telepolis habe ich in den vergangenen Jahren unregelmäßig Blicke in die Versorgung mit dem Energierohstoff Erdöl geworfen. Mein Interesse für dieses Thema basiert auf der Annahme, dass die Förderkurve von Erdöl als endlichem Rohstoff eine Glockenkurve herausbilden wird. Das bedeutet, dass es einen Aufstieg der Ölförderung (und der auf ihr basierenden Kultur) gab, ein Fördermaximum geben wird und nach Überschreiten dieses "Peak of Oil" ein Schrumpfungsprozess bevorsteht.
Symbolisch steht für diese Entwicklung folgendes Bild, welches Rob Hopkins in seinem Buch "Energiewende - Das Handbuch" benutzte und welches die Petroleum-Ära in einen historischen Kontext seit Beginn der westlichen Zeitrechnung stellt:
Dass die Verläufe der Erdölförderung und der Braunkohleförderung Ähnlichkeit zeigen, ist nicht überraschend. Beides sind fossile Energieträger, die konzentriert an unterschiedlichen Orten des Planeten lagern und von Menschen mit Hilfe industrieller Prozesse gefördert und genutzt werden. Dabei gehen wir Menschen nach einem durchaus verständlichen Prinzip vor: Wir fördern erst jene Vorkommen, die leicht zugänglich sind. Wir holten uns zuerst die tiefhängenden Trauben, denn diese kosteten weniger Aufwand und versprachen schnelleren Gewinn. In der Diskussion um Peak Oil wird diese Herangehensweise als "Best First" beschrieben: Also zuerst die leicht zugänglichen Ölvorkommen auszubeuten und sich den schwereren Vorkommen später zu widmen.
Beim Öl kann man diese Anwendung dieses Prinzips an der Diskussion um Fracking gut erkennen. Dass Fracking überhaupt eingesetzt wird, ist ein Zeugnis dafür, dass sich leicht zugängliche Reservoirs zunehmend erschöpfen: Ansonsten hätte man wenig Grund, alle paar Kilometer ein Bohrloch zu bohren und unterirdisch Risse zu erzeugen, um an Öl- und Gasreserven zu kommen, die so fein verteilt im Gestein lagern, dass man sie bis kürzlich links liegen ließ. Würden die großen Ölfelder mit guter Durchlässigkeit des Gesteins ausreichend Öl abwerfen, müsste man solche aufwendigen Verfahren gar nicht diskutieren.
Da wir sie aber nicht nur diskutieren, sondern technisch und politisch auf den Weg bringen, sollten bei Beobachtern der Energieversorgung alle Alarmglocken schellen. Denn es bedeutet nichts weiter, als dass die Zeit des billigen und leicht zu fördernden Öls vorbei ist und die Versorgung mit Öl und Gas in eine neue Phase eintritt. Das Beispiel der Lausitz sollte dabei Warnung und Anregung zugleich sein, denn es zeigt sehr anschaulich, welche Gefahren darin lauern, ganze Städte auf das Wohl und Wehe eines einzelnen Rohstoffs zu stellen.
Lässt sich das Best-First-Prinzip auch in der Lausitz ablesen? Ja. Dazu zuerst ein Blick auf die Kurven der Kohleförderung (braune Kurve) und des dafür beiseite zu schaffenden Abraums (rote Kurve) in folgendem Diagramm:
Leicht zu sehen ist, dass die Menge des bewegten Abraums mit der Menge der geförderten Kohle weitgehend gleichläuft. Das scheint logisch: Schließlich muss im Tagebau erst die Erde über der Kohle weggeschafft werden, bevor man an die Kohle herankommt. Mit dem Kohlefördermaximum erreichten auch die Abraummengen ihr Maximum. Erst auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass bei der Ausweitung der Kohleförderung von 1950 bis etwa Anfang der 1980er die Abraum-Kurve unter der Kohle-Kurve liegt, während beide Kurven kurz vorm Fördermaximum ihre Positionen tauschten: Seitdem lieg die Abraumkurve über der Kohlekurve. Das heißt, dass zu Beginn der "Kohlekarriere der Lausitz" weniger Abraum für eine bestimmte Menge Kohle bewegt werden musste als zum "Karrierehöhepunkt" und erst recht heutzutage.
Setzt man beide Mengen ins Verhältnis und fragt, wie viele Kubikmeter Abraum mussten zu welchem Zeitpunkt für jede geförderte Tonne Kohle eigentlich bewegt werden, erhält man folgendes Diagramm, in welches ich die Trendlinie hineingelegt habe. Der Kurvenverlauf zeigt: Während 1950 274 kg Kohle pro Kubikmeter Abraum gefördert wurden, halbierte sich dieser Wert auf etwa 140 kg 60 Jahre später. Tendenz: Sinkend.
Dieses Phänomen steigenden Aufwandes bei schrumpfenden Energieerträgen wird in der Peak-Oil-Diskussion mit dem Kürzel ERoEI diskutiert: Energy Return on Energy Invested. ERoEI besagt, wieviel Energie in die Förderung einer Energieeinheit investiert werden muss. Es wird analog verwendet zu Erträgen bei finanziellen Investitionen, wobei dort die Frage lautet: Wie viel Geldertrag hat jemand zu erwarten, wenn er einen Euro investiert? Bei der Energiediskussion lautet die Frage: Wie viel Energie muss investiert werden, um eine bestimmte Menge Öl zu fördern?
In der Peak-Oil-Diskussion sorgen sich viele um die schrumpfenden Ertragsraten. So ist feststellbar, dass zu Beginn der Erdölförderung sehr viel weniger Energie für die Förderung eines Barrels Rohöl aufgewendet werden musste als heutzutage. Auch wenn obige Grafik keine Energieeinheiten ins Verhältnis setzt, sondern geerntete Kohlemengen zu bewegten Abraummengen, dürfte jedem deutlich werden, dass der Aufwand für die Kohleförderung kontinuierlich stieg: Pro Kubikmeter Abraum werden immer kleinere Kohlemengen geerntet. Spätestens dann, wenn eine Kilowattstunde in die Förderung investiert werden muss, um damit nur eine Kilowattstunde zu ernten ist - ökonomisch gesehen - Schluss.
Von Hoyerswerda lernen...
Die drastischen Kurven der Bevölkerungsentwicklung von Hoyerswerda und Weisswasser sollten als warnendes Beispiel begriffen werden, was mit Stadtgesellschaften passieren kann, die sich zu sehr auf einzelne fossile Energieträger stützen.
Im Fall der Lausitz geht es um die Förderung eines dieser fossilen Energieträger, im Fall der meisten anderen Städte geht es jedoch um die Versorgung mit Energie von außen. Öl, Gas und Kohle sind heute großer Bestandteil des Energiemixes, mit dem unsere Gesellschaft versorgt wird. Doch zunehmend kommen die Energierohstoffe von außerhalb, woran die Ukraine-Krise und die Diskussion um Gas und Öl aus Russland jüngst erinnerte. Peak Oil, Peak Gas und Peak Coal werden auf die Selbstverständlichkeiten fossilgetriebener Gesellschaftsstrukturen keine Rücksicht nehmen.
Zu viele Menschen hinterfragen die Bedeutung der Energieversorgung für unsere Gesellschaft nicht und gehen blind davon aus, dass jegliche Versorgungsfragen geklärt sind. Die Bewohner Hoyerswerdas und Weisswassers, die 1982 dort lebten, kannten in ihrer Vergangenheit nur eine sich ständig vergrößernde Stadtgesellschaft, die sich dem ständigen Zufluss neuer Menschen anpasste. Das Maximum in der Kohleförderung und die sozioökonomischen Auswirkungen hat wohl kaum jemand vorhergesehen - geschweige denn lindernd einzugreifen gekonnt.
Die Politik, die als Adressat vieler Steuerungshoffnungen gilt, hat es trotz Bekenntnissen und Millionen an Fördermitteln nicht geschafft, die Abwanderung aus der Lausitz zu stoppen und die regionalen Wirtschaftsstrukturen so zu stabilisieren, dass ein Wegfall der Braunkohleindustrie für die Lausitzer tragbar wäre. Dadurch gibt es starke Beharrungskräfte in der Lausitz, die am Energieträger Braunkohle aus kurzfristigem Überlebenswillen festhalten. Obwohl es Bekenntnisse der Bundesregierung und breiter Teile des Parlaments gibt, die Treibhausgasemissionen zurückzufahren, kann die logische Schlussfolgerung mit Rücksicht auf die 8.000 Kohlearbeiter und ihre Familien in der Lausitz nicht gezogen werden: Dass die Kohlendioxidkonzentration nur dann begrenzbar ist, wenn Kohlenstoff im Boden verbleibt.
Als Gesellschaft tanzen wir auf einem spröden Draht. Wir brauchen die Energie zur Aufrechterhaltung und Ausweitung unseres Lebensstils. Zugleich haben wir uns so abhängig gemacht von fossilen Energieträgern, dass fragwürdig ist, ob ein Umbau auf nichtfossile Energieträger überhaupt machbar ist. Die Geschichte Hoyerswerdas und Weisswassers zeigt sehr anschaulich, was mit Gesellschaften passieren kann, die ihre innere Funktionsweise so stark auf einen Energieträger ausrichten und dieser Energieträger plötzlich an Bedeutung verliert. Denn auch wenn München, Dresden, Hamburg oder Berlin heute nicht von der Förderung von Energie leben, so leben sie sehr wohl nur wegen des massiven Energiezuflusses aus fossilen Energiequellen.
Den Lausitzern ist zu wünschen, dass sie Tatkraft auch abseits der Kohle finden. Denn selbst wenn jetzt der Aufschluss neuer Tagebaue beschlossen wurde: Die Geschichte zeigt, dass man sein Leben und seine Gemeinden nicht auf das alleinige Fundament endlicher Rohstoffe stellen sollte.