Von Präsidenten, Gegen-Präsidenten und Regime-Change

Seite 2: Was hat die Ukraine mit Venezuela zu tun?

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In Venezuela gibt es, wie in der Ukraine auch, große wirtschaftliche Probleme. Und hier wie dort machen zehntausende, bisweilen hunderttausende Demonstranten ihrem Ärger auf die schlechten Verhältnisse und ihrer Wut auf die Stagnation Luft. Dass sich diese Demonstrationen gegen die Regierung richten, ist ebenso logisch wie die Tatsache, dass sie von der Opposition unterstützt werden. So, wie die Entscheidungsträger hauptverantwortlich für eine Situation sind, ist es Aufgabe der Opposition, für Kontrolle und Kritik zu sorgen. Soweit die innenpolitische Ähnlichkeit.

Außenpolitisch können die Ukraine und Venezuela aber ebenfalls in manchen Punkten verglichen werden. War es im Falle des Euro-Maidan vor allem die geostrategische Lage der Ukraine (kombiniert mit wirtschaftlichen Aspekten), die zu einer Einmischung von außen führte, so werden internationale Mächte und Großmächte im Fall von Venezuela vor allem wirtschaftlich motiviert. Das Land verfügt über die mit Abstand größten ungeförderten Ölreserven der Welt. Und hier macht es einen bedeutenden Unterschied, ob ein Staatsoberhaupt und seine Regierung diese Ressourcen selbst fördern und die Gewinne größtmöglich im Land belassen wollen, oder ob eine wirtschaftsliberale Regierung internationalen Energiekonzernen Zutritt zum einheimischen Ölmarkt und damit die Aussicht auf riesige Gewinne bietet.

Wohin sollen die Öl-Milliarden fließen?

Eine vergleichbare Situation gab es bereits in manch anderem ölreichen Land: Auch wenn autoritäre Herrscher wie Libyens Muammar Al-Gaddafi oder Diktatoren wie Saddam Hussein oder Baschar Al-Assad den Reichtum des Landes keineswegs uneigennützig verwalteten, so hat sich doch gezeigt, dass die Entscheidung, Ressourcen mit staatseigenen Firmen zu fördern, dem Land und der Bevölkerung eine vielversprechendere wirtschaftliche Entwicklung bringt als diejenige der Marktöffnung, bei der die Gewinne, vereinfacht gesagt, das Land verlassen.

Insofern ist das Interesse der größten Industriestaaten, deren Wirtschaftswachstum zu einem nicht unbeträchtlichen Teil an der Verfügbarkeit von günstigem Erdöl hängt, an einem Regierungswechsel hin zu einem Präsidenten, der ihren Konzernen mehr Marktzugang bieten soll (und vermutlich wird), durchaus nachvollziehbar. Ebenso verständlich ist, dass geostrategische und wirtschaftliche Rivalen der westlichen Länder - allen voran Russland und China - kein Interesse an einem Regierungswechsel haben, da sie dadurch an Einfluss verlieren würden. Die Ukraine hat dies eindrucksvoll klargemacht.

Serbien, Irak, Libyen oder Ukraine: Interventionen und Regime-Changes müssen der Öffentlichkeit verkauft werden

Für die Befürworter des Regime-Change bleibt die Frage, wie dieser begründet werden kann, damit er sich in der westlichen Öffentlichkeit den Bürger*innen auch überzeugend "verkaufen" lässt. Ein Blick zurück zeigt, dass zur Rechtfertigung von wirtschaftlich, politisch und militärisch oft über Jahre hinweg vorbereiteten Interventionen unterschiedliche Modelle verwendet wurden.

Während die Einmischung in Serbien im Zuge des Kosovo-Kriegs durch die NATO 1999 humanitär begründet worden war, beriefen sich die USA 2003 im Krieg gegen den Irak auf die angebliche Existenz von Massenvernichtungswaffen. Als sich diese als Propaganda-Behauptung erwiesen, ergänzte man den wirtschaftlich und geostrategisch motivierten Angriffskrieg mit der Rechtfertigung, einen Diktator stürzen und die Demokratie bringen zu wollen.

Ähnlich wurde 2011 argumentiert, als mehrere NATO-Staaten die Aufständischen in Libyen militärisch unterstützten und damit zur Niederlage Gaddafis beitrugen. Und ähnlich wie im Irak drängten auch in Libyen, von Wissenschaftler und Analysten zuvor schon prognostiziert (und nicht wirklich schwer vorherzusehen, wenn man nur ein kleines bisschen über Macht und Machtstrukturen Bescheid weiß), Warlords in das vom Diktator hinterlassene Machtvakuum.

Herrschaft muss legitimiert werden

Was lässt all dies nun für Venezuela erwarten? Die Unterstützung für Oppositionsführer Juan Guaidó wird damit begründet, dass Nicolás Maduro Moro ein Diktator sei und über keine hinreichende Herrschaftslegitimation verfüge. Letzteres ist zutreffend, hat doch ein wichtiger Teil der Opposition die letzten Wahlen boykottiert, bei denen Maduro zum Präsidenten wiedergewählt worden ist. Dass die USA und viele EU-Staaten nun aber einen wenig demokratisch legitimierten Präsidenten durch einen nicht demokratisch legitimierten ersetzen, wirft Fragen auf.

Im Namen welcher Demokratie soll hier noch gehandelt werden? Die Behauptung, mit der diplomatischen Anerkennung von Guaidó "die venezolanische Bevölkerung" zu unterstützen, vermag nicht zu überzeugen. Es steht außer Frage, dass freie Präsidentschaftswahlen, an denen sich alle Parteien beteiligen, erstrebenswert sind. Doch dazu braucht es als Vorbedingung einen Machtkompromiss.

Sich einseitig gegen den amtierenden Präsidenten und dessen Regierung zu positionieren, entspricht einer Alles-oder-nichts-Politik, die eine Seite so oder so als Verlierer zurücklässt - und, wie in Syrien deutlich wurde, nicht einmal aus eigener Perspektive immer erfolgreich ist (unabhängig davon, mit welchem Preis dieser fragwürdige Erfolg erkauft werden muss). Auch in Bezug auf Syrien haben viele NATO-Staaten immer wieder erklärt, eine Zukunft des Landes sei nur ohne Baschar-al-Assad vorstellbar. Nach jahrelangem Bürgerkrieg, Millionen von Flüchtlingen und einer Neuauflage des Ost-West-Konflikts muss die ursprüngliche Strategie nun stillschweigend korrigiert werden.