Von Worten und Unworten: Das zarte Pflänzchen Sprache
Der Stammbaum der jährlich ausgezeichneten "Unwörter des Jahres" hat Nachwuchs bekommen: Tätervolk nennt sich der jüngste Spross, das "Unwort des Jahres" 2003
Zum Wort des Jahres 2003 wurde "das alte Europa" erwählt, einst despektierlich von US-Verteidigungsminister Rumsfeld geprägt. Mittlerweile sei es aber zu einem Begriff für ein positives Selbstverständnis der Europäer geworden. Weiter als bedeutsam für das letzte Jahr wurden empfunden: Agenda 2010, Reformstreit, SARS/Sars, eingebettete Journalisten,, Maut-Desaster, Steuerbegünstigungsabbaugesetz, Jahrhundertglut, googeln, Alcopops sowie "Deutschland sucht den Superstar (DSDS)".
Zum Unwort des Jahres 2003 wurde der von Martin Hohmann verwendete Begriff "Tätervolk" bestimmt. Er sei, so die Jury, "grundsätzlich verwerflich", weil er ohne Ausnahme ein ganzes Volk für die Untaten Einzelner verantwortlich macht.
Seit mehr als dreißig Jahren, das "Wort des Jahres" seit 1971, das "Unwort des Jahres" seit 1991 (ab 1994 von einer unabhängigen Jury ausgewählt), prämiert die Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. (GfdS) populäre Worte aus der Mitte unserer, wie sie einmal bezeichnet wurde, durchrassten Gesellschaft. Zeit für ein kleines Potpourri der schwarzen und weißen Schafe unter den populären Begriffen. Nein, nicht um nachträglich die Moralkeule zu schwingen, sondern weil die Phänomene unserer Umwelt nur mit Begrifflichkeiten gefasst werden können, und weil wir öfters an die Ergebnisse dieses Tuns erinnert werden sollten, wie das neueste Beispiel zeigt. Kursiv sind die "Unworte des Jahres" im Text dargestellt, fett die "Worte des Jahres".
Sprach-Archäologie als Volksaushorchung
Eine Archäologie der geschriebenen Sprache wie diese, wird zwangsläufig zu einem Blick in den gesellschaftlichen Rückspiegel der unheimlich-buchstäblichen Art. Aber wie man sehen kann (folgende Klammern), ist das Begriffeausgraben nicht nur eine Reise in die Historie: Durch die Diskussionen über die Rentnerschwemme (Demographischer Faktor), das Separatorenfleisch (BSE-Kühe), oder die Überfremdung (Zuwanderungsgesetz) der nicht-ausländerfreien Warteschleifen vor den nicht-funktionierenden Toll-Collect-Terminals (Bananenrepublik) blinzelt in diesem Spiegelbild der Gesellschaft eine eigenartige Mischung von Gestern und Heute durch.
Dienstleistungsabend am Standort Deutschland
Treffliches Beispiel: Gerade hat die Diskussion über den Wehr- und Zivildienst wieder begonnen, und es scheint, um ein paar ältliche Begriffe zu verwenden, als dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Zeitalter der Altenplage in Dunkeldeutschland durchaus bald als der Gesundheitsreform zugehörig angesehen werden könnten. Nach Abschaffung der zivildienstlichen Altenpflegeleistungen müssen die Bürger nämlich zukünftig ihren Beileidstourismus auf die Malediven einschränken und sich stärker an den Pflegekosten ihrer Familienangehörigen beteiligen, so will es jedenfalls die Politik.
Im Gegenzug fordern die Bürger von den Politikern, Kritik an Diätenanpassungen nicht gleich als Kollateralschaden für die deutsche Leitkultur aufzufassen - auch die deutschen EU-Abgeordneten haben vorgeschlagen, ihr Monatsgehalt an das der Richter am Europäischen Gerichtshof anzupassen (über 9000€) - außerdem, und daher der ursächliche Groll: Bei solchen Diäten könne es um die Staatsfinanzen ja noch nicht so schlimm bestellt sein. Job-sharing hin, Handlungsbedarf her: Sparen heißt die Devise der Gegenwart.
So wurde das Problem der Sozialleichen im kollektiven Freizeitpark Deutschland dadurch gelöst, dass jeder zukünftig alles machen muss, um auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen. Trotzdem sehen einige elitäre Besserverdienende auch in Zukunft noch Handlungsbedarf und fordern gegen den so genannten Wohlstandsmüll (arbeitsunfähige Kranke) weiterhin etwas zu unternehmen.
Reisefreiheit in der Ellenbogengesellschaft
Natürlich wurde bei der Wortbeschaffung auch die Wiedervereinigung berücksichtigt. Aus dem Land der Montagsdemonstrationen kamen vor allem Anfang der 90er Jahre so einige "verbale Leitfossilien" (GfdS) der deutschen Sprache.
War die Buschzulage noch ein netter Begriff, standen Worte wie abklatschen, abfackeln oder national befreite Zone lange Zeit einer unzulässigen Pauschalisierung Ostdeutschlands Pate. Alles Peanuts, heute regiert nicht mehr allein in den Neuen Bundesländern die Flexibilisierung, und Worte wie Outsourcing und sozialverträglicher Stellenabbau kennt mittlerweile auch jedes Kind. Eine Politik der Freisetzung und der Schlanken Produktion (lean production) ist das einzige, was nach Abbau der Belegschaftslasten und dem Umbau des Sozialstaats übrig geblieben ist.
Obwohl sich diese Trends so sehr vereinheitlicht haben, dass die Wiedervereinigung der BRDDR hier zum greifen nahe scheint, sind sie eher ein Phänomen der Globalisierung als dem vereinigten Deutschland geschuldet. Herrscht heute weltweit die länderspezifisch-brutalstmögliche Arbeitslosigkeit und wird diese überall als das "Naturgesetz der monatlich präsentierten Zahl" betrachtet, dürften sich die in der Arbeitsgesellschaft Betroffenen langsam vorkommen wie der Selektionsrest in Folge einer strukturellen Sozialhygiene.
Kampfeinsatz auf der Datenautobahn
Ungeachtet dessen steuerte auch die globalisierte Internationalität immer wieder zuverlässig ihren Teil zum Wort-Pool in Deutschland bei. Beispielsweise nennen sich die meisten Topterroristen neuerdings Gotteskrieger, und da diese seit dem 11. September bekanntlich auch vor weichen Zielen nicht mehr halt machen, sprachen die Bush-Krieger sogleich von Kreuzzug, auch ein Wort mit tiefem geschichtlichem Bezug.
Und wo wir schon bei Krieg sind: Ethnische Säuberungen sind im Zeitalter der chirurgischen Kriegsführung völlig aus den Medien verschwunden. Ob das Problem dank biologischem Abbau gelöst wurde oder dank des Ausreisezentrums für Flüchtlinge einfach "aus den Augen, aus dem Sinn" verbannt ist, ist schwer zu sagen. Kriege gibt es jedenfalls immer noch, dank der Verbindung von intelligenten Waffensystemen mit eingebetteten Massenmedien scheint das Töten im Krieg aber eher eine Art Personalentsorgung oder sozialverträgliches Frühableben überkapazitärer Mitarbeiter des Feindes geworden zu sein, als etwas, über was man sich Sorgen machen sollte.
Super-Gau in der Disco
Und so geht der Alltag sorgenfrei weiter. Wir schicken unser Humankapital weiter in die Bildungsmisere und hoffen, dass dank therapeutischem Klonen unser ungesunder Lebenswandel sich eine Tages auch ohne Organspende nicht zu sehr an uns rächen kann. Denn: Sind nicht auch wir irgendwie nur Zellhaufen? Und waren da Nostalgie und heiße Höschen, zwei Urahnen der "Worte des Jahres" (1971), nicht noch sehr harmlose Worte dagegen?
So griffig und schlüpfrig wie letztere waren in der Vergangenheit nicht alle Begriffe, weswegen man mit vielen mangels Kontext nicht mehr viel anfangen kann. Das ist jetzt keine Blockadepolitik und hat auch nichts mit Ich habe fertig! zu tun. Nehmen wir nur einmal Neue Beelterung und "Dreck weg!". Also, wenn meine Ich-AG eine Gewinnwarnung bekommt, weiß jeder, um was es geht. Warum hier nicht? Wahrscheinlich, weil uns da die Vergangenheit noch nicht eingeholt hat. Aber das kommt sicher noch.
PS: Das wahrscheinlich längste "Wort des Jahres" stammt noch aus dem letzten Jahrtausend (1999): Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz.