Von alten Sündenböcken und neuen Überwachungsmethoden

Frankreichs neue Regierung hat es auf "Zigeuner", Prostituierte, illegale Einwanderer und Schulschwänzer abgesehen

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Das frischgewählte französische Parlament gönnt sich keine Sommerpause und schnürt im TGV-Tempo zwei neue Gesetzesprojekte, die schon jetzt Menschenrechtsorganisationen, Richtergewerkschaften und Datenschützer auf die Palme treiben: Das Orientierungsgesetz für die innere Sicherheit (LOPSI) und die darin vorgesehenen 5,6 Milliarden Euro für die Sicherheitsbehörden wurden am Mittwoch vom Nationalrat abgesegnet. Das Gesetzesprojekt für die Justiz, das Haftstrafen für Minderjährige und Teilzeitrichter für Schnellverfahren vorsieht, wurde ebenfalls am Mittwoch im Ministerrat präsentiert und prompt vom Staatsrat zurückgepfiffen. Die "Dringlichkeit der Lage", gemeint ist die in Frankreich angeblich herrschende innere Unsicherheit, rechtfertige die sommerlichen Überstunden.

"Die Sicherheit ist die erste aller Freiheiten!", erklärte Innenminister Nicolas Sarkozy die "Philosophie" seines Sicherheitsgesetzes vor dem Nationalrat. Mit dem LOPSI werde man endlich den Bedürfnissen jener "verzweifelten" Franzosen gerecht, die täglich mit der Angst konfrontiert seien und so in die Arme Le Pens getrieben worden seien:

"Seit zu langer Zeit gelten bestimmte Thematiken in unserem Land als tabu. Nur davon zu sprechen, wirkt bereits verdächtig. So ist es unmöglich geworden, die illegale Immigration auch nur zu erwähnen, obwohl es sich dabei um eine der Hauptbesorgnisse unserer Mitbürger handelt. Auch von den "Landfahrern" kann man kaum sprechen, obwohl in manchen Regionen die Verbitterung darüber einen Höhepunkt erreicht hat. Selbst bei der bloßen Beschreibung von tatsächlich existierenden Landplagen, wie Drogen, Prostitution oder aggressivem Betteln wird man sofort karikiert."

Womit der wackere Sarkozy bereits die Grundzüge seines Sicherheitsprogramms beschrieben hätte: Die "systematische Entfernung" von ausländischen Prostituierten, sprich Abschiebung, soll durch das LOPSI ermöglicht werden, weil mit diesem "massiven Phänomen, die Verbreitung von Drogen und AIDS" mit einher gingen. Die lokalen Interventionsgruppen (GIR, bestehend aus Beamten der Polizei, Gendarmerie, der Steuer- und Zollbehörden, sollen jetzt nicht nur im Kampf gegen die "Schattenwirtschaft in den gefährlichen Vierteln" eingesetzt werden, sondern auch die Fahrzeuge von Roma und Sinti beschlagnahmen können, welche "private wie öffentliche Grundstücke regelrecht belagern". An dieser Stelle sei daran erinnert, dass in Frankreich jede über 5000 Einwohner zählende Gemeinde dazu verpflichtet ist, Romafamilien Durchreiseplätze zur Verfügung zu stellen.

Auch auf die Drogenabhängigen wurde nicht vergessen: Der "Einfluss von Suchtmitteln beim Begehen einer Straftat" wird nicht mehr als mildernder Umstand anerkannt. Und schließlich sollen auch die "Wildlinge aus der Vorstadt", wie ein sozialistischer Ex-Minister die jugendlichen Bewohner der "sensiblen Zonen" bezeichnet hatte, oder ihre Eltern mit der eisernen Faust des Gesetzes Bekanntschaft machen. Wer seine Kinder nicht vom Schuleschwänzen abhalten kann, könnte sich in Hinkunft strafbar machen. Nebenbei wurden auch die Strafen für Beamtenbeleidigung empfindlich erhöht.

"Die Sicherheit könnte die letzte der Freiheiten sein, die uns noch bleibt"

Neben der Bedienung der gängigsten Urängste des braven Durchschnittsbürgers sieht das Gesetzesprojekt auch noch eine ganze Reihe von technologischen Maßnahmen vor, die den "Sicherheitsbehörden bei den Ermittlungen" zur Hand gehen sollen.

Zur "Beherrschung der Immigrationsbewegungen" werden biometrische Kontrollen an den Grenzübergängen vorgeschlagen. Die "sensiblen Zonen" sollen mit einer "permanenten Videoüberwachung" ausgestattet und der Polizei der "reziproke Zugriff auf Dateien, welche vom Innen- und Verteidigungsministerium erstellt wurden" erleichtert werden. Auch wird der Umstand beklagt, dass eine große Anzahl von Ermittlungen der Polizeibehörden durch die Langsamkeit von "öffentlichen wie privaten Institutionen (Finanzunternehmen, Telefongesellschaften, Behörden...) bei der Behandlung kriminalpolizeilicher Anfragen" behindert würden. Weshalb es den Beamten der Kriminalpolizei erlaubt werden soll, "nach erfolgter richterlicher Genehmigung direkt auf elektronische Dateien zuzugreifen und diese per Fernabfrage (...) abzurufen".

"Big Brother weilt unter uns"

Der zu erwartende Sturm der Entrüstung kommt freilich nicht nur von Seiten der Datenschützer. Die sozialistische Opposition hat bei der Abstimmung am Mittwoch allerdings nicht gegen das Sicherheitsgesetz gestimmt, sondern nur den zweiten Artikel angenommen, der den Polizeibehörden die Finanzspritze genehmigt, sich jedoch beim Rest der Stimme enthalten.

Weit virulenter fällt da die Kritik der linksgerichteten Richtergewerkschaft Syndicat de la Magistrature aus. Sarkozy wolle einen "wahrhaftigen Polizeistaat" errichten und bediene sich dabei der klassischen Sündenböcke: "Big Brother weilt unter uns! Die von Chirac versprochene 'null Straflosigkeit' bedeutet, dass jeder Bürger Frankreichs ein potenzieller Straftäter ist. Die seit 1789 geltende Unschuldsvermutung wurde an den Nagel gehängt," entrüstet sich Ulrich Schalchli, Mitglied der Richtergewerkschaft, in einem Interview mit dem "Nouvel Observateur".

Eben jene Unschuldsvermutung und die damit einhergehenden Garantien für verdächtigte Personen wurden diese Woche vom zweiten anhängigen Gesetzeswerk, dem Programmgesetz für die Justiz, das am Mittwoch im Ministerrat (http://www.elysee.fr/cgi-bin/auracom/aurweb/search/file?aur_file=communiques/CM020717.htm) präsentiert wurde, geschwächt. Die Voraussetzungen für die Verhängung einer provisorischen Inhaftierung sollen vereinfacht und deren maximale Dauer verlängert werden können. Vor allem aber soll dieses Gesetz wieder Ruhe und Ordnung in die "wilden Vorstädte" einkehren lassen, wie es Chirac im Wahlkampf versprochen hatte. Im Visier des Justizministers: Minderjährige und ihre Haftbarkeit in Strafprozeduren. Schon ab 10 Jahren soll die Verhängung von Sanktionen ermöglicht, ab 13 eine vorübergehende Inhaftierung vorgenommen werden können. Letztere droht, wenn der Jugendliche sich unerlaubterweise aus einer geschlossenen Erziehungsanstalt entfernt hat, deren Einrichtung ebenfalls von diesem Gesetzesprojekt vorgesehen wird.

Anfang August soll das Justizgesetz durchs Parlament und das LOPSI nach einer Prüfung durch den Senat endgültig abgesegnet werden. Den Franzosen steht offenbar noch ein heißer, politischer Sommer bevor.