Von der Erlaubnis zu dürfen
Corona-Lehren in Sachen Freiheit
Große Aufregung über die Aufregung einer Minderheit: Da demonstrieren Leute gegen die wegen der Pandemie verfügten Freiheitsbeschränkungen! Deren Argumente und die öffentliche Diskussion dazu erzählen viel über den Sinn und Gehalt von staatlichen Grundrechten.
Im Rahmen der Pandemiebekämpfung hat der Staat eine Vielzahl von Freiheitsrechten eingeschränkt, was zunächst weitgehend widerstandslos von den Bürgern hingenommen wurde und lediglich in den sozialen Medien für ein Rauschen gesorgt hat. Mit der Lockerung der Beschränkungen gehen aber immer mehr Menschen auf die Straße, um gegen die Einschränkungen ihrer Freiheitsrechte zu demonstrieren - Linke wie Rechte, Verschwörungstheoretiker wie Liberale, die ihre Freiheitsrechte bedroht sehen. Dabei ist der Umgang des Staates mit den Rechten seiner Bürger in Zeiten der Pandemie sehr aufschlussreich.
Die Sache mit der Menschenwürde
Für Aufregung hat in den vergangenen Wochen eine Äußerung des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble gesorgt: "... wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz des Lebens zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in der Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen." (Tagesspiegel 25.4.2020)
Folgt man den Ausführungen des Bundestagspräsidenten, dann ist das, was unbestritten hochzuhalten ist und über dem Schutz des Lebens steht, die Menschenwürde. Sie soll einem Menschen von Natur aus zukommen, und dem trägt das Grundgesetz Rechnung. Damit stellt sich die Frage, was denn die Menschenwürde ausmacht? Wenn die Menschenwürde unantastbar sein soll, braucht man sich um sie eigentlich keine Sorgen machen, man hat sie, keiner kann sie einem nehmen, also warum sich dann überhaupt über sie Gedanken machen?
Das Seltsame ist nur, dass die Menschenwürde Gegenstand eines Gesetzes ist und um die Menschenwürde gestritten wird. Wenn es eine Selbstverständlichkeit ist, die jeder hat, warum braucht es dann noch ein Gesetz, um sie zu schützen? Wer oder was bedroht denn diese Würde? Wenn die doch eigentlich unangreifbar, etwas anthropologisch Gegebenes ist, weil sie von Natur aus an einem haftet.
Das kann aber nicht so ganz stimmen, denn die Würde wird verliehen - per Grundgesetz vom Staat. Wer etwas verleiht, kann seine Leihgabe bekanntlich auch wieder zurückziehen, sie bestimmten Bedingungen unterziehen, diese verändern. "Unantastbar" ist so etwas nicht. Und auch wenn die Menschenwürde als "unantastbar" gilt, sein Träger kann sehr wohl angetastet werden. Unter Wahrung der Menschenwürde kann ein Mensch verurteilt, eingesperrt oder gar umgebracht werden. Gefoltert werden darf er nicht, auch wenn dies Staaten machen, die sich auf die Menschenwürde berufen.
Der so gepflegte Unterschied macht deutlich, worauf es den Staaten bei der Achtung der Menschenwürde ankommt: Geachtet wird nur, dass Menschen einen Willen haben. Was sie mit diesem aber verfolgen, wird von Seiten des Staates auf die Vereinbarkeit mit seinen Gesetzen abgeklopft. Deshalb muss der Mensch vor seiner Verurteilung gehört werden und er sich verteidigen dürfen. Folter hingegen zielt auf Brechung des doch "unantastbaren" Willens und gehört sich daher nicht. Auch da, wo Bürger als Soldaten mit ihrem Leben für ihren Staat eintreten müssen und sie mit der Wehrpflicht dazu gezwungen werden - sie ist in Deutschland ausgesetzt und nicht abgeschafft -, werden die Toten als Helden geehrt und unterstellt, sie hätten freiwillig ihr Leben für den Staat geopfert.
So erweist sich die Menschenwürde als eine Ideologie, mit der sich Staaten schmücken, weil ihre Herrschaft der Natur des Menschen entsprechen soll, da sie den Willen des Bürgers achten und auf seine Zustimmung bauen. Während frühere Herrschaften sich auf den lieben Gott berufen haben, berufen sich die modernen Staaten als Legitimationsinstanz auf ihre Bürger, als deren Diener sie gesehen werden wollen. Als Ausdruck der Menschenwürde gelten die Freiheitsrechte, die der Staat seinen Bürgern gewährt.
Der Doppelcharakter der Freiheit
Mit der Gewährung von Rechten wie der Freiheit, der körperlichen Unversehrtheit, der Meinungs- und Versammlungsfreiheit gibt der Staat zu erkennen, dass dies alles keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern seiner Genehmigung unterliegen. Freiheit bedeutet also alles andere als machen können, was man möchte. Die "Freiheit" besteht vielmehr darin, alles zu tun, was erlaubt ist - und alles zu unterlassen, was verboten. Freiheit beinhaltet auch die Verpflichtung für jeden, für sich selber verantwortlich zu sein und für sich selber zu sorgen mit den Mitteln, über die er oder sie verfügt.
Karl Marx hat als Konsequenz für die meisten Menschen den Doppelcharakter der Freiheit hervorgehoben: Der Mensch ist frei von persönlichen Abhängigkeiten, aber die meisten sind auch frei von allen sachlichen Mitteln, die sie zum Leben brauchen, weswegen sie abhängig sind von denjenigen, die über Mittel verfügen. Dies bedeutet in dieser Gesellschaft: Die einen verfügen über Geld und die sachlichen Mittel, die der andere Teil der Menschheit zum Leben benötigt, und kann daher diese dazu zwingen, sich als Arbeitskraft zu verkaufen, um an Geld und damit an das Lebensnotwendige zu gelangen.
Sich ein Bild von der Welt zu machen und dieses auch zu äußern, auch dazu gibt es in Form der Meinungsfreiheit ein Recht und damit eine staatliche Genehmigung. Wie diese zu äußern ist und in welchem Rahmen sich das zu bewegen hat, ist ebenfalls staatlich geregelt. Eine Meinung hat eine Meinung zu sein, d.h. der persönliche Charakter wird damit betont und damit die Unverbindlichkeit des Meinens. Die Meinung hat sich an der Meinung der anderen zu relativieren, es gibt nur eine Meinung, die zählt und damit keine mehr ist, und das ist die der Politik, gegossen in Gesetze. Damit wird die Sicht derer, die über ein Amt und damit über die Macht verfügen, verbindlich und vor ihr haben alle anderen Meinungen zurückzutreten.
Wenn Bundestagspräsident Schäuble betont, dass die Grundrechte der Bürger sich gegenseitig relativieren, der Schutz des Lebens sich am Schutz des Eigentums zu begrenzen hat, so sind dies Verhältnisse, wie der Staat die verschiedenen "Erlaubnisse zum Dürfen" ins Verhältnis setzt. Und da er dies nach eigenem Ermessen regeln kann, kann er unterschiedliche Prioritäten setzen.
Wie gewonnen, so zerronnen
Wer Erlaubnisse erteilen kann, kann diese auch wieder zurücknehmen oder entziehen. So in der Pandemie, wo der Staat Rechte einschränkt, von denen es in den Sozialkundebüchern immer hieß, sie seien Menschenrechte, kämen den Menschen von Natur aus zu und jeder, der sich an ihnen vergreifen würde, würde gegen die Natur des Menschen verstoßen. Jetzt, wo dies alles nicht mehr gilt, werden diese Ideologien nicht aus dem Verkehr gezogen, sondern vorübergehend eingemottet.
In der Pandemie hat der Staat zum Schutz der Gesundheit seiner Bevölkerung die freie wirtschaftliche Betätigung in Form von Geschäften, die Bewegungs- und Reisefreiheit, die Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht etc. eingeschränkt. Schäuble erinnert daran, dass der Schutz der Gesundheit und des Lebens nicht absolut gesetzt werden kann, weil Gesundheit in dieser Gesellschaft lediglich eine Voraussetzung ist, damit die Bürger sich wirtschaftlich betätigen können und das Wirtschaftswachstum in Gang kommt - aus Geld mehr Geld zu machen.
Und so ist auch die ganze Diskussion um die Einschränkungen der Bürger dadurch bestimmt, wie sehr auf die Gesundheit Rücksicht genommen werden muss, damit die Bürger auch in Zukunft als nützliche Glieder der Gesellschaft fungieren können. Dass die Wirtschaft wegen der Rücksichtnahme auf die Bürger nicht zu sehr leiden darf, die Einschränkungen verhältnismäßig zu sein haben, ist daher ausgemachte Sache.
Alles im Sinne des Allgemeinwohls
Noch jeder politische Akt wird in der demokratischen Gesellschaft begründet und dies meist im Sinne des Allgemeinwohls oder zum Wohle der Bürger. Diese Form der Begründung hat allerdings immer auch etwas Heuchlerisches und Unwahres an sich. Wenn Unternehmer als Arbeitgeber bezeichnet werden und noch bei jeder wirtschaftspolitischen Maßnahme betont wird, dass es um die Schaffung, Bewahrung oder Rettung von Arbeitsplätzen gehe, dann ist dies schlicht gelogen, denn der Zweck der Unternehmer oder der Wirtschaft ist nicht die Versorgung der Menschheit mit Arbeitsplätzen, sondern die Vermehrung des investierten Geldes als Kapital. Dass von dem Gelingen des Geschäfts diejenigen abhängig sind, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen, wird damit beschworen und als der eigentliche Zweck der Operation ausgegeben.
Nach diesem Muster werden die meisten politischen Maßnahmen begründet: Die Schule dient der Bildung der Kinder, obgleich die Bildung das Material abgibt, an dem die Kinder verglichen und auf die Hierarchie der Berufe verteilt werden, so dass mancher nach zehn Jahren Schule diese als funktionaler Analphabet verlässt. Ärzte und Krankenhäuser seien ganz der Gesundheit der Bürger verpflichtet, obgleich sie als Freiberufler oder als Wirtschaftsunternehmen unterwegs sind, so dass jetzt in der Pandemie die Bürger ermahnt werden, ihre Vorbehalte gegenüber einem Besuch in der Praxis wegen der Ansteckungsgefahr aufzugeben, denn Ärzte wie Krankenhäuser brauchen Einnahmen und Umsatz. Die Supermärkte dienen der Versorgung der Bürger, obgleich mancher vor der Tür bleiben muss, weil ihm das Geld zum Kauf fehlt usw.
Freiheit, Freiheit, ist das einzige, was zählt.
Marius Müller-Westernhagen
So mancher Bürger wird nun misstrauisch angesichts der Begründungen der Politik und macht sich auf die Suche nach den "wirklichen" Gründen. Der Protest gegen die Freiheitsbeschränkungen, der sich zurzeit in manchen Städten auf der Straße findet, mag seinen Ausgangspunkt nicht in den materiellen Schäden haben, die viele durch die Einschränkungen erleiden. Deshalb mit Pappschildern durch die Gegend zu laufen, auf denen Grundgesetz steht, ist schon seltsam.
Beklagen wollen sich die Betroffenen offenbar nicht wegen der materiellen Schäden, die sie erleiden, dass diese nicht zählen, ist ihnen offenbar vertraut. Sie klagen die höchsten Werte der Republik ein, wenn sie auf das Grundgesetz verweisen und hoffen so, dass wieder Verhältnisse einkehren, in die sie sich irgendwie eingerichtet haben. Wenn die Demonstranten keinen Mundschutz tragen, die Abstandsregeln nicht einhalten etc., dann beharren sie auf ihre Rechte auf Selbstbestimmung und Freiheit, sie zeigen sich als gelehrige Schüler ihres Staates.
Dennoch hat das Ganze etwas Irrationales an sich. Für seine Menschenrechte einzutreten wie die freie Betätigung, die Freiheit des Meinens oder für das Demonstrationsrecht1, wird dann seltsam, wenn gar nicht deutlich werden soll, was man mit dieser Freiheit denn machen will, welche Meinung man durchsetzen oder wogegen man demonstrieren will. Gefordert wird die Erlaubnis, etwas dürfen zu dürfen, und das gegen Maßnahmen gewandt, die die Gesundheit schützen sollen. Begleitet wird dieser Protest mit einer Vielzahl von Begründungen, die nicht in der normalen Politik und den Zwecken dieser Wirtschaft das Übel ausmachen wollen, sondern in finsteren Kräften, die die schönen Zwecke dieser Gesellschaft verfälschen.
So entdeckt ein angesehener Kardinal in der Einschränkung der religiösen Betätigung das Wirken einer Macht, die nach Weltherrschaft strebt, einem Streben, das einem Kirchenfürsten offenbar nicht fremd ist - wie das Wort "katholos" ja auch ursprünglich "universal, allumfassend" bedeutet. Andere wollen in der Tätigkeit des Microsoft-Gründers und Milliardärs eine besonders hinterhältige Machenschaft entdeckt haben, nicht dort, wo er sich als normaler Geschäftsmann betätigt und seinen Reichtum vermehrt, sondern da, wo er als Humanist sein riesiges Vermögen einsetzt, um Krankheiten zu bekämpfen. Impfgegner verteidigen ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht gegen die alltäglichen Gesundheitsgefährdungen im Alltag, sondern gegen Impfungen, die ihre Gesundheit schützen sollen und gar nicht anstehen, weil es keinen Impfstoff gibt.
Das Gemeinsame des Protestes besteht in dem Hochhalten der Rechte, die als diejenigen gelten, die eine Demokratie auszeichnen sollen, und die als unveräußerlich gelten. Die Protestierenden bemerken in der Pandemie nicht den ideologischen Charakter dieser Überhöhung, sondern wollen gerade dann, wenn dieser sich offen darstellt, an diesen Werten festhalten, gegen die herrschende Politik.
Diesem irrationalen Protest begegnet die aufmerksam gewordene Politik und Öffentlichkeit mit gewohnter Methode der Ausgrenzung. Nachdem sie wochenlang das verlogene Bild der Einheit der Nation in der Krise gepflegt hat, entdecken nun die Verantwortlichen der Politik und Meinungspflege die Gefahr der Spaltung, weil sich dort Kräfte zu schaffen machen, die sich nicht gehören.
Journalisten wie Politiker überlassen die Fahndungsaufgaben nicht den zuständigen Diensten und werden selber tätig. In dem man Links- wie Rechtsradikale oder Verschwörungstheoretiker ausgemacht haben will, wird der Protest diskreditiert und so alle anständigen Menschen aufgefordert, sich von diesem Protest zu distanzieren. Und Vertreter der freien Presse diskutieren angesichts des Protestes die Grenzen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie des Demonstrationsrechts.
So setzen beide Seiten, Journalisten wie Demonstranten, darauf, dass die Politik mit ihrer Gewalt die Schranken setzt, in denen der normale Gang von Geschäft, Arbeiten Müssen, Kinderbetreuen weiter gehen kann.
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