"Von einer Revolution sind wir weit entfernt"
Persönliche Berichte vom Ausnahmezustand im Süden Frankreichs
Über die Situation in Frankreich habe ich schon ganz zu Anfang meiner kleinen Reihe über die Auswirkungen von Corona berichtet. Wie sieht es drei Wochen später aus? Wie hat sich der Alltag verändert? Welche Aussichten bestehen für die Zukunft?
Drei Freunde erzählen, wie sie ihre Umwelt im Ausnahmezustand sehen. Keiner lebt in einer Großstadt. Alle wohnen im Süden.
I. Ferne Realität
Der erste ist Wolfgang, der trotz seines Namens Australier ist. Sein Großvater ist Anfang des vergangenen Jahrhunderts aus Deutschland ausgewandert. Wolfgang ist Übersetzer und mit einer Französin verheiratet.
Wolfgang schreibt:
"Im Dorf sind die Straßen meist leer. Aber das ist hier ja nichts Ungewöhnliches, besonders abends oder im Winter. Eigentlich kein riesiger Unterschied. Die Zeiten sind dennoch schwer für die wenigen Unternehmer, das Restaurant, die Pizzeria, den Laden. Hoffentlich überleben sie diese Krise. Unsere "Dérogation de déplacement" (Bewegungserlaubnis im öffentlichen Raum) liegt nun schon in ihrer dritten Version vor. Ab nächsten Montag wird eine digitalisierte Fassung auf dem Handy erlaubt sein.
Die kleinen Wochenmärkte am Montag, Donnerstag und Samstag finden statt. So bekommen wir weiter Gemüse, Eier, Käse aus der näheren Umgebung. Die Gemeinde hat sehr wenige Bekanntmachungen veröffentlicht. Deshalb gibt es einige persönliche Initiativen, darunter eine von meiner Frau, Nachrichten über das Dorfleben zu teilen: was offen ist, zu welchen Zeiten was los ist, was man machen darf usw.
Es ist eine ganz merkwürdige Lage: Uns geht es gut. Unser Leben hat sich kaum geändert. Wir kennen keine Covid-19 Kranken. Und doch ist es Realität: Kaum 600 km entfernt sind die Krankenhäuser überfüllt und es sterben Tausende von Menschen.
Leider werden andere sehr dringende Probleme derzeit ganz vernachlässigt, z.B. die Flüchtlingslager in Lesbos und auch anderswo. Es ist schade, dass man mehr Nationalismus als pan-europäische Zusammenarbeit sieht.
II. Glückliche Hunde
In einem Dorf an der Küste südlich von Narbonne wohnt Anne mit ihrem Mann Marc und dem Dackel "Lipton". Anne hat zuvor als Managerin bei Airbus in Toulouse gearbeitet und war schon vor Corona froh, aus der Großstadt weg gehen zu können.
Anne schreibt:
"Hier auf dem Dorf geht es uns ganz gut. Doch es ist psychologisch trotzdem schwierig, von den eigenen Gewohnheiten abweichen zu müssen: nicht unsere üblichen Spaziergänge machen zu dürfen und vor allem nicht unsere Freunde zu treffen. Aber es gibt schlimmere Orte als diesen hier. Deswegen wollen wir uns nicht beschweren.
Für unseren Dackel "Lipton" ist die Welt weniger kompliziert ... Wir profitieren davon, dass wir uns als seine Begleiter halbwegs frei bewegen dürfen. Gassi-Gehen ist ausdrücklich erlaubt. Es bedeutet derzeit einen großen Vorteil, Hundebesitzer zu sein und damit ein wenig die Auflagen der Ausgangsbeschränkung zu überwinden.
Wir vermeiden den Kontakt mit anderen Hunden, um nicht in die Nähe des Herrchens zu kommen. Wir waschen "Lipton" nicht mehr als sonst. Aber wir bitten die Menschen auf der Straße, ihn nicht zu streicheln. Ich glaube, dass alle Hunde in Frankreich im Moment sehr glücklich sind, weil sie viel häufiger ausgeführt werden als sonst und ihre Besitzer wegen der Telearbeit viel mehr bei ihnen zu Hause sind. Alles, was ein Hund liebt!
Mit "Lipton" unterwegs zu sein, bedeutet: Es gibt mehr genehmigte Plätze, die wir betreten dürfen, weil viele Wege ohne Hund gesperrt und verboten sind."
III. Das nasse Wechselgeld
Die dritte Stimme aus Frankreich kommt von Sabine, die seit 14 Jahren dauerhaft im Languedoc lebt.
Sabine sagt:
"Hier ist es ein wenig so, als ob jemand die Welt angehalten hätte. Es ist sehr ruhig im Dorf. Die Leute halten sich an die Ausgangssperre und zumindest diejenigen, mit denen wir gesprochen haben, empfinden die getroffenen Maßnahmen als notwendig. Natürlich sehen die Menschen auch, dass das Gesundheitssystem "zerspart" wurde, aber jetzt ist nicht die Zeit, um darüber zu fabulieren und dagegen vorzugehen. Jeder will vermeiden, in die Mühlen des ohnehin überlasteten Systems zu geraten.
Supermärkte, Apotheken u.a. Geschäfte des täglichen Bedarfs sind geöffnet. Unter Einhaltung strikter Hygiene und Abstandsregeln kann man in die Supermärkte. Wachpersonal regelt den Zugang. Viele größere Geschäfte bieten Online-Services an: Man kann bestellen und die Ware wird geliefert bzw. man holt sie zu einem bestätigten Termin ab. Die Bezahlung erfolgt kontaktlos.
Aber auch viele kleine Geschäfte, wie beispielsweise die Käse- und Gemüsehändler, die Chocolaterie, die Gärtnerei haben mittlerweile einen Online-Bestell- und Lieferservice etabliert. Meist übrigens über Facebook oder Twitter. Vielleicht ein wenig unorganisiert aus deutscher Perspektive, aber es funktioniert. Überhaupt sind die Leute hier sehr kreativ undaktiv in informellen Netzwerken.
Außer, dass unser Bäcker ein Schutzschild auf seinem Tresen aufgebaut hat und man sein Geld in eine mit Desinfektionsmittel gefüllte Schüssel legen muss und man aus jener Schüssel auch sein nasses Wechselgeld erhält, sind hier keine äußeren Anzeichen sichtbar. Keine Schilder, keine patrouillierenden Gendarmen.
Wenn man rausgeht, braucht man eine Bescheinigung "Attestation dérogatoire", die man sich ausdrucken kann. Falls man diesen Nachweis nicht hat, zahlt man erstmalig 135 € Strafe. Wiederholungen werden teurer.
Frankreich ist zentralistisch organisiert, Beschlüsse der Regierung können schnell nach unten durchgesetzt werden. Das ist manchmal gut. Manchmal aber auch nicht. Die Regierung informiert sehr ausführlich über die Situation, zu Hintergründen und über Programme zur Unterstützung.
Übrigens, am ersten Tag der Ausgangssperre hat die Regierung jeden Bürger, dessen Mobiltelefon mit einem französischen Provider verbunden ist, eine SMS mit Informationen dazu verschickt. Ich glaube, das wäre in Deutschland unmöglich, oder?
Es scheint unkompliziert zu sein, an Zuschüsse zu gelangen. Am Tag, nachdem die Regierung den Gesundheits-Notstand verkündet hat, haben sämtliche Banken, Versicherungen, das Finanzamt, Strom und Wasserversorger Emails mit Informationen über deren spezifische Maßnahmen verschickt. Antragsformulare waren online verfügbar. Es wurde versprochen, dass die Zuschüsse innerhalb von 24 Stunden auf dem Konto gutgeschrieben werden. Ob das wirklich so ist, weiß ich nicht. Wir sind in der glücklichen Lage, ohne Hilfen zurecht zu kommen.
Die Regierung hat Kommissionen gebildet, die Strategien über die Rückkehr zur Normalität entwickeln sollen.
Momentan scheint es, als ob die Menschen ihrer Regierung schon vertrauen. Aber es wird alles davon abhängen, wie lange die Ausgangssperre anhält und wie die Beendigung bzw. der Übergang zur Normalität gestaltet wird. Für diese Region hier, die von der Landwirtschaft und vom Tourismus lebt, und deren Einwohner nicht wirklich reich sind, dürfte es schwierig werden, wenn der Sommertourismus in diesem Jahr wegfällt.
Für uns persönlich hat sich nicht wirklich viel geändert. Wir arbeiten schon seit 1997 überwiegend im Homeoffice, sind nicht dem Konsumrausch verfallen und leben relativ nachhaltig, reparieren alles selbst, verwenden vieles wieder, Obst und Gemüse ziehen wir im eigenen Garten. Und wir dürfen an unserem Haus weiterbauen, allerdings nicht an der Fassade.
Einzig die eingeschränkte Bewegungsfreiheit und die damit verbundene Unmöglichkeit zu reisen, empfinde ich als sehr unangenehm, auch wenn ich das in der gegenwärtigen Situation verständlich finde. Ich bin jedoch optimistisch, dass die derzeitigen Maßnahmen nicht zu einer dauerhaften Einschränkung der Reisefreiheit führen.
Ich möchte derzeit nicht glauben, dass diese Pandemie nur als Grund für einen Umbau der Gesellschaft herhalten muss. Noch bin ich zuversichtlich, dass die Einschränkungen und die damit verbundenen Kontrollen keine permanenten sein werden.
Ich bin weniger optimistisch dahingehend, dass diese Situation Anlass zu einer wirklichen Neubesinnung im Zusammenleben und der Organisation von Gesellschaft führen wird. Ich denke, am Ende wird eine große Umverteilung des Reichtums von unten nach oben stehen, wie immer nach Krisen. Das ist schlimm genug, aber ich sehe überhaupt keinen Weg, wie ein Umbau der Gesellschaft im Interesse der Vielen erfolgen kann. Von einer Revolution sind wir weit entfernt."
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