Von einer "niemals verhandelbaren Staatsräson"

Eine zwischenstaatliche Anomalie und ein wenig Hin und Her, das sie begleitet. Der deutsche Anti-Antisemitismus (Teil 2 und Schluss)

Der erste Text dieses Zweiteilers thematisierte den deutschen Stolz auf die Erinnerungskultur und ihren politisch-moralischen Gebrauchswert, der nicht schwindet. Er will seine höhere Berechtigung also auch noch dadurch unterstreichen, dass die "historische Verantwortung" in Politikern und Bürgern fortlebt, die durch ihre "späte Geburt" deutlich von den Ereignissen des Erinnerns getrennt sind.

"Keine leeren Worte"

Genau daraus erklärt sich auch die unverbrüchliche Verbundenheit mit dem Staat Israel: "Die besondere Verantwortung Deutschlands für den jüdischen Staat ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.

Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben." So Angela Merkel 2008 vor der Knesset - Sätze, die anlässlich des jüngsten Gaza-Kriegs gerne wiederholt wurden, um Israels Recht zu unterstreichen, "sich im Rahmen der Selbstverteidigung gegen die Angriffe zu wehren" (Regierungssprecher).

Dabei wird der Treueschwur von den Regierungen in Deutschland und Israel nicht missverstanden. "In der Stunde der Bewährung" ist keine Bundeswehr-Verstärkung gegen die Hamas oder den Iran zu erwarten. In der Nahost-Diplomatie vertritt die Bundesrepublik ihr Interesse und nicht das israelische, das sie dafür zu nutzen versucht.

Auch die Haltungen zur Zwei-Staaten-Lösung oder zur Siedlungspolitik stimmen keineswegs überein. Berlin und Jerusalem wissen, dass der tatsächliche Garant der israelischen Souveränität, die sich fortwährend bedroht sieht und sich deshalb kontinuierlich ausweitet, Washington heißt. In den Waffengeschäften ist der deutsche Beitrag zu Israels Kriegen evident, besteht ansonsten aber in der öffentlichkeitswirksamen Deklaration ihres "defensiven Charakters" und in der entsprechenden Abschwächung internationaler Resolutionen.

Daneben und dafür wünscht sich die BRD mehr außenpolitisches Gewicht, und so "fordert SPD-Ko-Parteichef Norbert Walter-Borjans im Gegenzug für deutsche Waffenlieferungen eine Mitsprache beim Umgang Israels mit Konflikten". Deutschland praktiziert also keineswegs eine Nibelungentreue - und nach der Seite hin bleiben die Worte der Kanzlerin tatsächlich ein wenig leer.

"Nicht verhandelbar" sind sie jedenfalls in dieser Hinsicht: Mit seiner unbedingten Israel-Solidarität bescheinigt sich das geläuterte Deutschland erneut eine staatsmoralische Güteklasse eigener Art, die es für die Liga der Weltordner empfiehlt. Das Wächteramt und der Definitionsanspruch in Sachen Antisemitismus daheim und auswärts sind darin eingeschlossen.

Bürger zweifeln

Trotzdem gehören Meldungen wie diese zum bundesdeutschen Alltag: "Der Nahostkonflikt prägt offenbar immer mehr das Israel-Bild der Deutschen. Lediglich 36 Prozent der Bundesbürger stehen dem jüdischen Staat positiv gegenüber - fast die Hälfte hat dagegen eine schlechte Meinung über Israel. (…) Die Diskrepanz zwischen der offiziellen deutschen Politik und den Einstellungen vieler Bundesbürger ist groß" (Bertelsmann-Studie).

Und weil diese Bundesbürger die offizielle Engführung von Antizionismus gegen Israel und allgemeiner Judenfeindschaft auf ihre Art verstanden haben, haben etliche davon auch an den Juden in Deutschland und anderswo etwas auszusetzen: "Juden haben in Deutschland zu viel Einfluss", beklagen 15 Prozent. "Immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören", ärgert 49 Prozent. Und "bei der Politik, die Israel macht", können 28 Prozent verstehen, "dass man etwas gegen Juden hat" (Erhebung der Uni Bielefeld) Die marxistische Zeitschrift Gegenstandpunkt analysiert dies als "ein staatsbürgerliches Unverständnis gegenüber der nationalistischen Anomalie eines bedingungslosen Solidaritäts-Bonus gegenüber einem anderen Staat", wie er ansonsten nur innerhalb einer Nation üblich ist: Right or wrong, my country.

Bemerkbar sei darin "ein erwachsen gewordenes, imperialistisches Staatsbürgerbewusstsein. Es kommt gar nicht her von einer alt- oder neofaschistischen Judenfeindschaft, wüsste auch gar nicht recht, warum es eigentlich antisemitisch sein sollte, aber auch nicht, warum sich eine Nation wie die deutsche mit ihren weltweiten Interessen wegen Hitler und der alten Geschichten durch eine bindende Voreingenommenheit für Israel in seinen machtpolitischen Optionen einschränken lassen sollte."

Diese Art von Emanzipation ist also ebenfalls ein Ertrag der erfolgreichen "Erinnerungskultur", die sich nun kritisch und anspruchsvoll gegen das ursprüngliche Objekt ihrer Bußfertigkeit wendet.

Die Presse moniert

Fördernd und zugleich mäßigend wirkt hier auch der deutsche Qualitätsjournalismus. Teils reflektiert er die tatsächliche Unzufriedenheit der deutschen und europäischen Regierungen mit ihrem Einfluss auf Israel, den die USA dominieren. Teils macht er auch eigenständige Politikmaßstäbe auf, an denen er die Entfaltung der deutschen Souveränität für mangelhaft befindet.

Die Süddeutsche Zeitung (17.5.21) beklagt, "die Staaten der EU (beließen) es bei den üblichen Appellen, statt sich aktiv als Vermittler einzuschalten" - als ob der Versuch dazu schon mit seinem Erfolg zusammenfiele. Der Spiegel (21/21) nimmt die stattfindende Verwechslung und irritierende Gleichsetzung von proisraelischer und vergangenheitsbewältigender Ideologie mit ihren politischen Zwecken als "unbestimmte, von historischer Schuld, Moral und einer guten Portion deutscher Selbstgerechtigkeit überkomplizierte Beziehung" wahr, die "nie entwirrt wurde".

Statt dies zu tun, vermisst das Nachrichtenmagazin bei der Israel-Solidarität die "Verpflichtung, als ehrlicher Makler aufzutreten und eine Lösung zu suchen, selbst wenn diese der israelischen Regierung nicht gefällt" - als ob die deutschen Außenminister diese bismarcksche Haltung nicht für sich in Anspruch nähmen. Die taz (20.5.21) entnimmt Merkels Bekenntnis vor der Knesset "einen beunruhigenden Subtext: Wir unterstützen Israel nicht aus Überzeugung oder weil wir es für politisch richtig halten, sondern weil es vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte leider, leider getan werden muss".

Weil sie nicht weiß, wie das zusammenpasst, findet die Zeitung es unglaubwürdig: "Glaubwürdigkeit bedeutet, sich nicht auf 'deutsche Staatsräson' zurückzuziehen, sondern überzeugende Argumente für die Unterstützung zu liefern." Offenbar wünscht sich die taz die praktizierte Staatsmoral noch eine Drehung moralischer. Weil die israelische "Vorwärtsverteidigung" das aus Sicht der Zeitung nicht recht zulässt, räumt sie ernüchtert ein: "Wer das nicht kann, könnte einfach mal gar nichts sagen" und den asymmetrischen Gaza-Krieg beschweigen.