Von wegen Windrad-Wahn
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Hinzu kommt, dass 80 Prozent des Bruttostroms bis 2030 für ein 1,5-Grad-Celsius-Ziel nicht reichen wird. Daher fordern Zusammenschlüsse wie der Runde Tisch Erneuerbare Energien, in dem zahlreiche Organisationen und Initiativen mit insgesamt rund einer halben Million Mitglieder:innen vertreten sind, 100 Prozent Erneuerbare bis 2030.
Angesichts des unzureichenden Ausbautempos in Deutschland mahnt der Runde Tisch in einem aktuellen Aufruf – mit Bezug auf eine EU-Notstandsverordnung vom letzten Jahr, die den Rahmen für eine beschleunigte Energiewende setzt – eine Entfesselung der Windenergie an.
Gefordert werden:
- Ausnahmeregelungen für die unbürokratische Genehmigung,
- Streichung der Deckelung von Windenergieleistungen durch Ausschreibungsverfahren,
- Fristverkürzungen,
- Abschaffung von bremsenden Regelungen wie pauschale Abstandsvorgaben,
- typenoffene Baugenehmigungen,
- stärkere Beteiligung der Kommunen an den Einnahmen von Windenergieprojekten und
- Vereinfachung der Direktbelieferung von Anwohner:innen.
97 Organisation und 33 Unternehmen haben sich den Forderungen des Runden Tischs angeschlossen.
Doch anstatt dass Politiker und Medien in Deutschland von der Bundesregierung angesichts ihres unzulänglichen Plans verlangen, schnellstens obendrauf zu satteln – und zwar massiv, gemäß dem Pariser Klimavertrag und den Alarmmeldungen aus aller Welt, die Erdtemperatur nicht über 1,5 bis zwei Grad zu erhöhen, was schon in diesem Jahrzehnt geschehen könnte –, wird die Ankündigung von Scholz als Großtat präsentiert, während einige, darunter der Koalitionspartner FDP, den Plan als teures "Geisterstrom"-Projekt diffamieren.
All das findet statt vor dem Hintergrund einer anhaltenden Debatte über einen vermeintlichen "Windrad-Wahn". Nicht nur versprengte Bürgerinitiativen vor Ort, die zum Teil mit parteipolitischer Unterstützung agieren und nicht selten ein großes Forum in der Öffentlichkeit erhalten, machen mobil. Auch einige Umweltgruppen, Medien und Meinungsmacher befeuern weiter mit Windkraft-Mythen Stimmungsmache gegen Erneuerbare.
So warnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung Ende 2019: "Bis hierher und nicht weiter!" und bangte darum, dass Windräder die "Bewohner in den Wahn" treiben werden. Der Deutschland-Kurier titelte Mitte letzten Jahres: "'Nicht mehr unser Land': Habecks Windrad-Wahn zerstört Deutschland!". Die Welt hatte schon vor Jahren den Ton gesetzt: "Deutsche kämpfen gegen den Windrad-Wahn".
Aber eigentlich war es der Spiegel, der die Kampagne gegen Windräder massenmedial ins Rollen brachte. Das war 2004 mit dem Aufmacher "Der Windmühlenwahn: Vom Traum umweltfreundlicher Energie zur hoch subventionierten Landschaftszerstörung".
Der damalige Chefredakteur Stefan Aust hatte dafür eine Reihe von Autoren in die Spur geschickt, um die Energiewende zu diskreditieren. In der Titelgeschichte "Die große Luftnummer" heißt es damals:
Quer durch die Republik wächst der Widerstand gegen die Verspargelung der Landschaft durch immer mehr Windräder. Ökonomisch macht ein weiterer Ausbau wenig Sinn: Er würde Milliarden an Fördergeldern verschlingen, der Nutzen für die Umwelt wäre gering.
Es werden im Text ausschließlich Windkraftgegner zitiert. Einer von ihnen bezeichnet den Bau von Windrädern als die "schlimmsten Verheerungen seit dem Dreißigjährigen Krieg". Zugleich werden die Potenziale der Windenergie als gering heruntergespielt und die außerordentlichen, wenn auch oft versteckten Kosten von fossilen Energien, ganz zu schweigen von den Klima-, Gesundheits- und Umweltfolgen, ausgeblendet.
Aus heutiger Sicht sind solche Titel in renommierten Zeitschriften zum journalistischen Fremdschämen. Leider geht es heute, wenn auch nicht mehr so tolldreist wie damals, weiter.
- "Wie die Windbranche ihr Schrottproblem lösen will" (Manager Magazin, 7.12.2021)
- "Naturschutz gegen Klimaschutz: Die Schattenseiten der Windenergie" (GEOlino, 2018)
- "Windkraft im Kreuzfeuer der Kritik" (Süddeutsche Zeitung, 2.2.2022)
- "Windkraft in der Kritik: Klimaheilmittel und Krankmacher" (Deutschlandfunk Kultur, 19.4.2018)
- "Sind Windräder und Artenschutz vereinbar?" (ARD Alpha, 27.10.2022)
Natürlich haben Windräder einen industriellen Fußabdruck. Aber warum schießt man sich mit Halbwahrheiten, Verdrehungen und Auslassungen derart auf sie ein?
Windräder sind auch nicht der Untergang der jungfräulichen abendländischen Landschaft und Ruhe. Sie werden Kohlekraftwerke, Pipelines, Verbrennungsmotoren, Kohletagebauen usw. zum Verschwinden bringen. Wer Windräder nicht haben will, sollte sagen, wo er den Strom in Zukunft herbekommen möchte.
Im Kern ist es doch so: Windräder sind Teil der Weltrettung, fossile Infrastrukturen führen ins Verderben. Ansonsten gilt: Dort, wo berechtigte Sorgen vorgebracht werden, sollten sie ernst genommen und in die Planungen von Windrädern einbezogen werden.
Vor allem sollten wir endlich beginnen zu rechnen: Das, was Scholz und Habeck anbieten, ist meilenweit von dem entfernt, was wir tatsächlich in den nächsten Jahren brauchen.
Es steht uns natürlich frei, das weiter zu ignorieren. Es wäre ein historisches, wenn nicht planetares Versagen.
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