Vor dem großen Sturm?
Die Situation in Israel nach dem Attentat auf Scheich Jassin
"Ja, wie ist es denn jetzt bei Euch, nachdem sie den Jassin umgebracht haben?" Die neue Standardfrage, die ich bei jedem Telefonat mit Deutschland zu hören bekomme, lässt mich jedes Mal wieder ratlos dreinblicken. Ja, wie ist es denn nun? Tatsächlich hat sich nur unmerklich wenig verändert. Die Racheschwüre der Hamas, sie werde "das Tor zur Hölle öffnen", klingen noch nach, passiert ist bisher nichts. Die Ruhe vor dem Sturm?
Auch wenn das Attentat auf den spirituellen Führer der Hamas nicht unerwartet kam, saßen viele Israelis vor dem Fernseher und fühlten sich überrumpelt, als sie die Bilder des zerstörten Rollstuhls und der wütenden Menge, die sogleich blutige Rache schwor, sahen. Überrumpelt, da man doch damit rechnet, dass die Liquidierung den Terror verstärken und nicht bekämpfen wird. Entsprechend äußerten sich beispielsweise 80% der Befragten in einer Umfrage der Tageszeitung Yedioth Achronoth, auch wenn 60% die Tötung Jassins befürworteten und auch die übrigen ihm sicherlich keine Träne nachweinen.
Die israelische Gesellschaft ist heute eine zutiefst traumatisierte, es gibt kaum jemanden, der nicht einen Familienangehörigen, einen Freund, Kollegen oder Nachbarn verloren hat. Und dennoch, das israelische Gedächtnis ist kurz und die Angst vor der Rache der Hamas hielt die Israelis, wenn überhaupt, nur ein oder zwei Tage davon ab, Bus zu fahren, in Cafes zu gehen oder zu einem Einkaufsbummel aufzubrechen. Meine Antwort auf die Frage nach den Auswirkungen der Liquidierung Yassins ist daher wenig spektakulär, alles ist wie immer, vielleicht gibt es einige Sicherheitskräfte mehr, die patrouillieren, aber das ist auch alles. Anders wäre das Leben in diesem Land wohl auch nicht zu ertragen. Die Angst vor dem Terror ist sowieso schon allgegenwärtig, die Sorge ein ständiger Begleiter.
Was man sich in Europa kaum vorstellen kann, ist die Tatsache, dass die Sicherheitskontrollen hier bereits so hoch sind, dass man sie kaum noch verstärken kann. An jedem Cafe, Restaurant, Kino, Theater, Supermarkt stehen Wachmänner und kontrollieren Taschen. Spezielle Sicherheitskräfte fahren in den großen Städten die Bushaltestellen ab und fahren auch mit den einzelnen Linien mit. Militär und Polizei sind aus dem Straßenbild nicht wegzudenken. Der Busbahnhof in Jerusalem hat zur Kontrolle Röntgengeräte eingeführt, die Flughafeneinfahrt gleicht einer Festung. Das alles kann nicht verhindern, dass es irgendwann wieder passiert. Bei dem letzten Selbstmordanschlag auf einen Bus in Jerusalem verließ eine Sicherheitskraft den Bus an derselben Haltestelle, an der Attentäter unbemerkt einstieg.
Die Maßnahmen sind trotzdem äußerst effizient, werden doch täglich bis zu 50 Attentate vereitelt. Das heißt, jeden Tag machen sich bis zu 50 Selbstmordkommandos auf den Weg in die tödliche Erfüllung ihres Wahns. Nicht auszudenken, was in Israel los wäre, würde man auch nur eine dieser Kontrollen vernachlässigen. Selbstverständlich hat das Wissen um diese ständige Bedrohung Auswirkungen auf die israelische Gesellschaft. Die verdrängte Angst führt unter anderem zu psychosomatischen Beschwerden, Suchterscheinungen, Gereiztheit und Aggressionen.
Heute Abend beginnt das Pessach Fest Die Juden in aller Welt gedenken dem Auszug aus Ägypten und feiern gemeinsam den Seder-Abend. An allen jüdischen Feiertagen wird die Alarmbereitschaft der Sicherheitskräfte erhöht. Dieser Tage wäre auch ohne die Liquidierung von Scheich Jassin die Angstschwelle niedriger, schon allein in Erinnerung des Pessach-Massakers vor zwei Jahren. Damals war es zwei palästinensischen Selbstmordattentätern gelungen, an die Seder-Tafel einer großen Feier in einem Hotel vorzudringen und 30 Menschen mit in den Tod zu reißen. Überhaupt scheint der Tod im Zentrum des Gedankenguts der Hamas zu stehen. So sagte auch Jassins Nachfolger Rantisi, der Hass werde Israel besiegen, Israels Schwäche sei seine Liebe zum Leben, die Stärke der Hamas hingegen ihre Verehrung des Todes.
Neben den zentralen Motiven Freiheit und Eigenverantwortung wird am heutigen Seder-Abend auch die Heiligkeit des Lebens, insbesondere des menschlichen Lebens, betont werden. Nachdem Moshe das jüdische Volk aus der ägyptischen Sklaverei in die Freiheit geführt hatte, legte er ihm die Pflicht auf, sich zwischen dem Leben und dem Tod zu entscheiden:
Zu Zeugen habe ich heute gegen euch bestellt den Himmel und die Erde: das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch! Du aber sollst das Leben wählen, damit du lebst...