Vor der Dämmerung
In Peter Sellers Film "Being There" (1979) wird der alte Gärtner, nachdem er sein Leben lang in einer abgeschlossenen Villa gearbeitet hat, dazu gezwungen, in die Welt zu treten - in eine Welt, die mit ihren undeutlichen Geräuschen und ihrer unzusammenhängenden Logik für ihn unverständlich ist, in eine Welt, in der er als Erwachsener lernen muß, was man normalerweise in den ersten Jahren des Lebens lernt, also wie man sie deutet, wie man etwas gebraucht, wie man sie sich selbst verständlich macht. Jeder von uns gleicht ein wenig diesem Gärtner, der sich mit der Müdigkeit einer schmerzlichen Abreise in die weite Welt begibt.
Wir können von "Müdigkeit" in mindestens drei verschiedenen Bedeutungen sprechen.
1. Mundus senescit
"Die Welt altert", schreibt Gregoire de Tours in seiner "Geschichte der Franken". Das war im Jahr 590 nach Christi Geburt und alles mußte erst noch beginnen. Die Morgendämmerung der europäischen Zivilisation war noch nicht angebrochen, es gab nur einen schwachen Schimmer - und doch enthält dieser Satz die ganze Müdigkeit des sogenannten "Finsteren Mittelalters".
Das Gefühl der Erschöpfung ist also nicht neu. In den wenigen Jahrtausenden der menschlichen Geschichte stellte es sich des öfteren ein und hängt nicht von der objektiven Situation ab. Es ist ein subjektives Befinden. Das ist die erste Art der Müdigkeit, die mit dem Altern verbunden ist, mit dem Verfall, dem Niedergang, dem Austrocknen der Leidenschaften. Man könnte sie mit Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes"oder ganz allgemein mit der künstlerischen Strömung der Dekadenz und, um von einer Assoziation zur anderen zu springen, letztendlich mit Baudelaires Spleen. Überdies ist das deutsche Wort "Abendland" voll von Anspielungen auf die Abenddämmerung.
In unserem Fall kann diese ganze Ware im Supermarkt der Ideen in der Abteilung "Ende" gefunden werden. Ist Ihnen schon aufgefallen, wie viele Buchtitel das Wort "Ende" enthalten? Das reicht vom Ende des Kommunismus bis zum Ende der angestellten Arbeiter, vom Ende der Geschichte bis zum Ende der Moderne. Diese Abteilung des Supermarktes enthält verschiedene Markenartikel des "lieben alten Europa", des "alten Kontinents", der "neuen Welt", der jungen Staaten, der alten Menschen. Man halte aber fest: die USA befindet sich im "jungen" Regal, während Deutschland im "alten" steht. Und doch ist Deutschland als Staat, als Nation, viel jünger als die USA - es ist fast ein Jahrhundert jünger!
Man kann sich fragen, ob dieses Gefühl der Erschöpfung, ob diese kulturelle Hypochondrie (eine Zivilisation, deren Kultur überall Schmerzen verspürt) nicht nur ein grundlegendes Bestandteil der Moderne ist. Es ist nicht zufällig, daß die abendliche Stimmung und die Liebe von Ruinen, die in unseren Augen so romantisch sind, Hand in Hand mit der industriellen Revolution, mit dem Imperialismus, mit der Frontier gehen. Selbst lebhaftesten Befürworter des Westens wurden ab 1869 melancholisch. Logan Reavis etwa schrieb, daß "sentimentale Pilger, bevor viele Zyklen ihre Runden durchlaufen haben, aus den geschäftigen Städten der Pazifikküste dort zu sehen sein werden, wo jetzt Boston, Philadelphia und New York stehen und in einer vom Mond erleuchteten Kontemplation mit der Melancholie einer Eule die Überreste des Athens, des Karthagos und des Babels der westlichen Hemisphäre betrachten." Amerika war noch so jung - ich würde heranwachsend sagen. Es war im Kontext der Nationen ein Teenager und kündigte bereits sein eigenes Altern an. Man muß diese Gefühl des Zerfalls einfach mit Goethes Versen vergleichen:
Amerika, du hast es besser,
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte ...
Andererseits wurde "Der Untergang des Abendlandes" (1918-1922) zu der Zeit geschrieben, als der Westen noch nicht den Gipfel seiner planetaren Macht erreicht hatte, was erst nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war, d.h. just in der Zeit, als der Westen im Aufstieg und nicht im Niedergang begriffen war! Sich um den eigenen kränlichen Zustand zu kümmern, würde folglich ein Zeichen guter Gesundheit sein. Das ist wie in Stan Nadolnys Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit", wenn der Protagonist etwas in einen Wert verwandelt, das ein Rückschlag zu sein schien. Ich glaube, daß seine Langsamkeit, teilweise die Müdigkeit inspirierte, die das Thema dieser Konferenz ist.
2. Gleichgültigkeit
Aber es gibt noch eine andere Art der Müdigkeit, die wir meinen, wenn wir sagen, man sei müde dieses oder jenes zu machen. Das ist ein Verlust des Interesses, eine Gleichgültigkeit, eine Langeweile, eine Handlungsunbestimmtheit, die Baudelaire beschreibt, wenn er von jenen spricht, die "einen Brief fünfzehn Tage lang behalten, ohne es zu wagen, ihn zu öffnen, oder sich nach nur sechs Monaten damit abfinden, etwas auszuführen, was man ein Jahr hätte machen müssen." Das ist die Müdigkeit, sich nutzlos zu fühlen, was unter Intellektuellen weit verbreitet zu sein scheint. Bis 1989 schien die Rolle der Intellektuellen im Westen und im Osten wohldefiniert gewesen zu sein. Sie bestand aus dem "engagement" Sartres, aus einer Verpflichtung gegenüber den Problemen der eigenen Gesellschaft. Und das Markenzeichen der Verpflichtung war Dissens: die abweichende Meinung von den herrschenden Ansichten der umgebenden Gesellschaft. Im Osten wurde diese intellektuelle Mode von den Dissidenten verkörpert, aber auch im Westen brachte die Existenz als Intellektueller eine Verpflichtung mit sich, anders zu denken, d.h. es war fast eine Pflicht, nonkonformistisch zu sein und sich als Minderheit zu erhalten.
In diesem Sinne verschwand der Dissens als archetypische Rolle nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der Berliner Mauer. Der reale Sozialismus löste sich auf, aber der Dissident war nicht der Gewinner. Sie gingen zusammen unter. Dissidenten verschwanden körperlich, weil niemand mehr über die einst berühmten Gesellschaftskritiker mehr spricht. Man denke nur an die ostdeutschen und russischen Dissidenten oder an die tschechischen Intellektuellen des Prager Frühlings. Aber die Dissidenten verschwanden auch strukturell, da es ihre Funktion nicht mehr gibt. Nicht weil die östlichen und westlichen heute zu einem Paradies geworden sind, zu einem Paradigma sozialer Gerechtigkeit, sondern ganz im Gegenteil, weil diese Form des Andersdenkens, mit dem man eine Gesellschaft bekämpfte, die einen austrickste, ausschloß, verfolgte oder tötete, aus dem Leben geschieden ist.
Als der mächtige sowjetische Staat mit seinem riesigen Arsenal an Nuklearwaffen, Photokopien verbot und Photokopierer als eine tödlichere Waffe als Kalashnikovs betrachtete, verlieh er der Meinungsäußerung eine übertriebene Bedeutung - und damit auch den Intellektuellen. Als Khomeini das Todesurteil über Salman Rushdie verhängte, erhob er den Schriftsteller in eine schwindelnde Höhe, setzte ihn den Mächtigen der Erde gleich und verglich das Buch mit dem Wort Gottes, den Roman mit dem Koran.
Das ist die geschichtliche Beziehungsform zwischen der Macht und den Intellektuellen, die sich als Zensur und Unterdrückung zeigt. Sie kennzeichnet das gesamte Zeitalter der Moderne, beginnend mit Giordano Bruno, der auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, über Baruch Spinoza, der von den Rabbis verstoßen wurde, Denis Diderot, den man in die Bastille warf, Heinrich Heine, der nach Paris auswanderte, oder Gustave Flaubert und Charles Baudelaire, die man anklagte, bis hin zu Albert Einstein, den man bedrohte und zur Flucht nach Amerika zwang, und Osip Mandelstam, der in einem Gulag interniert wurde.
Heute folgt die Beziehung zwischen der Macht und den Intellektuellen nicht mehr den Paradigmen der Physik (Gewalt und Unterdrückung), sondern denen der Informationstheorie (dem Unterschied zwischen Ton und Rauschen). Der von den Intellektuellen ausgesendete Ton wird buchstäblich von zuviel Rauschen gedämpft. Die Gesellschaften werden noch immer zum Schweigen gebracht. Aber heute ist es das Schweigen, in der ein Tauber lebt, und nicht mehr das, in das der Stumme gezwungen wird. Es ist das Ergebnis eines zu starken Geräuschpegels in der Umwelt. Die Geräusche, die von einer Gesellschaft produziert werden, sind so groß, daß sie nur eine Kakophonie, ein undeutliches Gestammel ergeben. Heute würde in den OECD-Staaten niemand mehr davon träumen, einen Schriftsteller zum Tode zu verurteilen, doch das ist nur so, weil der Roman in der modernen Welt keine Bedeutung mehr besitzt. In Italien werden jedes Jahr 20000 neue Bücher veröffentlicht. Man muß sie nicht mehr verbieten, es genügt, sie mit den anderen Büchern zu begraben. Wenn es einst eine Berufung im Sinne Max Webers gegeben haben sollte, ein Intellektueller zu sein, dann gibt es heute dabei ein weitverbreitetes Gefühl der Sinnlosigkeit. In diesem Fall ist die Müdigkeit eine der Bedeutungslosigkeit, des Verlustes der eigenen Funktion in der Karte der gesellschaftlichen Rollen.
3. Die Müdigkeit des Erwachsenen
Joseph-Louis de Lagrange war wahrscheinlich der größte lebende Mathematiker im ausgehenden 18. Jahrhundert. Er war davon überzeugt, daß die Mathematik sich erschöpft, daß ihr Gipfel bereits überschreiten sei und nun ihr Niedergang beginne. Dennoch erwies sich das 19. Jahrhundert mit der projektiven Geometrie, den nicht-euklidischen Geometrien, der Mengentheorie oder der Topologie als eine außergewöhnliche Zeit der Mathematik. Das 19. Jahrhundert war das Goldene Zeitalter, eine Epoche des unübertroffenen Glanzes für die Mathematik.
Daß der Pessimismus von Legrange, dem größten Experten, dem ultimativen Spezialisten dieser Zeit, unbegründet war, gibt uns ein Indiz zur Identifizierung einer weiteren Form der Müdigkeit. Das ist die Müdigkeit der Erwachsenen, die dauernd müde sind, weil sie erwachsen sind, weil sie ihre Energien in der Glut des Heranwachsens völlig aufgebraucht haben. Aus dieser Perspektive wird die Müdigkeit des hohen Alters aus der Vergangenheit abgeleitet oder entsteht sie aus ihr, während die Müdigkeit der Bedeutungslosigkeit aus der Gegenwart erwächst und die Müdigkeit des Erwachsenen in die Zukunft gerichtet ist und sich in ihr verankert.
Normalerweise verbinden wir Revolution mit der Vorstellung von einem Krieg, von einem Kampf, von einem Blutvergießen. In den letzten 50 Jahren haben Europa und ein Großteil der Welt trotz vieler blutiger lokaler Konflikte im Frieden gelebt. Der Friede hat sich also maskiert, hinter einem Mantel der Routine, des Business-as-usual, versteckt. Das ist die unglaubliche Revolution, die uns überwältigt hat. Niemals zuvor existierende Größenordnungen wurden besonders von zwei Entwicklungen realisiert, die die industrielle und kapitalistische Gesellschaft kennzeichnen:
- Die "Vernichtung des Raumes durch die Zeit", die Auslöschung der Entfernung, die für Karl Marx dem Mechanismus der Warenzirkulation inhärent war. Eine Vernichtung der Entfernung über jede räumliche Begrenzung hinaus durch die Kommunikation von Körpern (besonders Flugzeugen), von Ton (Radios und Telefone), von Bildern (Fernsehen) und Multimedia (Internet), was die Beziehungen zu unserem Körpern, zu unseren Sinnen, zur uns umgebenden welt und zwischen unserem Geist und unseren Körpern verändert.
- Der Tornado der Migration, der die menschliche Geographie der Erde umgewälzt hat und noch weiter umwälzt. Griechen und Tamilen leben in Melbourne, Polen und Palästinenser in Chicago, Kroaten und Libanesen in Cleveland, Sikhs und Philipinos in Vancouver zusammen, so daß man sich über die Triade Herders (Ein Land, ein Volk, eine Sprache) wundert, da jetzt ein Volk verschiedene Länder bewohnt und verschiedene Sprachen in einem Land gesprochen werden. Allein in New York werden heute 143 Tageszeitungen in anderen Sprachen als Englisch herausgegeben.
Der Tornado der Migration
Wir leben in einem Zeitalter einer einmaligen Umwälzung, einer atemberaubenden Beschleunigung des Wandels. Die Welt vor gerade einmal 50 Jahren scheint bereits schon Tausend Jahre vorbei zu sein und das 19. Jahrhundert zu einer anderen Zivilisation zu gehören. Aber die geistigen Strukturen und die Denkkategorien, mit denen wir die neue Welt beurteilen und darstellen, sind noch weiterhin die der alten Erde von gestern. Selbst der Begriff "Demokratie" blieb seit den Griechen wesentlich derselbe, die mit Triremen auf dem Meer segelten, während die Idee der Nation zur Zeit der Pferdekutschen entstanden ist. Bemerkenswert ist auch, daß der Begriff der Identität, der heute so wesentlich, unverzichtbar und unvermeidbar erscheint (wie fürchten wir die Identitätskrise oder den Identitätsverlust, wie sehr wünschen wir, unsere Identität zu finden oder zu bekräftigen), erst vor 150 Jahren nicht in seiner logischen Bedeutung (A = A), sondern in seiner psychologischen und sozialen geprägt wurde. Aber nur ein Jahrhundert nach seinem ersten Auftreten, gibt es eine italienische Identität nicht nur im Mittelmeerraum, sondern auch an der Nordsee, gibt es eine indische Identität nicht nur am Ganges, sondern auch in Michigan, eine Identität der Beduinen ohne die Wüste im Mittleren Westen, eine japanische Identität in Peru (der Präsident Fujimori) und eine syrische in Argentinien (der Präsident Menem). Genau wegen der Kommunikationsrevolution wurde Identität heute unabhängig von einem räumlichen Ort. Für die Mehrzahl der Menschen auf der Erde ist die Identität so wichtig, weil sie den Nomaden der Vergangenheit (den Zigeunern) oder den Menschen in der Diaspora, den Juden, ähneln. Heute sind wir alle Zigeuner oder Juden. Heute ist die ganze Erde eine Diaspora der Menschen. Es ist eine unglaubliche, buchstäblich ungedachte Situation, die es noch niemals gegeben hat.
Unsere geistigen Kategorien und unser technischer Fortschritt gleichen zwei Förderbändern mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Wir versuchen, mit jedem Fuß auf einem Band zu gehen. Man wird zugeben, daß das eine unglaublich anstrengende Tätigkeit für den Geist und den Körper ist. Aber es ist die Müdigkeit einer explosiven Entwicklung, die uns mit dem Ungedachten konfrontiert. Deswegen ist es eine fruchtbare, kreative Müdigkeit, die gesunde, von Aufregung verursachte Erschöpfung, das Bewußtsein, in einem außergewöhnlichen Zeitalter zu leben.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer