Vor uns die Sintflut

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Der zärtlichste und netteste Weltuntergangsfilm der Kinogeschichte: "Melancholia"

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Der zärtlichste und netteste Weltuntergangsfilm der Kinogeschichte: Melancholia - Lars von Trier macht gern Witze. In Cannes hat er "Hitler!" gesagt (Der Nazi-Detektor) und spätestens mit der famosen Pressekonferenz nach der Premiere seines Films, seinen Flirt mit dem Fantastischen vollendet. Auch sein neuester Film fügt sich in jene allgemeine Welle apokalyptischer Filme, die das Weltkino derzeit überschwemmt, von Bela Tarrs "The Turin Horse" über "Contagion" bis Abel Ferraras "4.44". Auf der Leinwand endet die Erde andauernd und immer wieder. "Melancholia" ist ein Film, in dem das Science-Fiction-Genre mit einem Drama von kosmischen Dimensionen kollidiert. Ein einzigartiger Kultur- und Stilisierungs-Clash.

Zu den dunkel-sehnsuchtsvollen Klängen von Richard Wagners "Tristan und Isolde"-Ouvertüre beginnt der Film mit einer Nahaufnahme von dem Gesicht von Kirsten Dunst. Sie hat die Augen nahezu geschlossen, ihre Haut ist totenblass. Auch ohne den Titel und den weiteren Verlauf des Films zu kennen, sorgen dieser Gesichtsausdruck, die Musik und die langsame Zeitlupenbewegung der Kamera im Nu für prononcierte Weltschmerz-Atmosphäre, für ein intensives Gefühl von pathosgetränkter Tristesse und wehmütiger Hilflosigkeit. Dann schlägt die junge Frau die Augen auf.

Man sieht im Folgenden eine Vision von träumerischer Klarheit: Ungewöhnliche galaktische Phänomene - drei Monde stehen am Himmel - man sieht einen menschenleeren Golfplatz, einen Rappen, der im Gras versinkt wie in Treibsand, Vögel, die tot vom Himmel fallen, Charlotte Gainsbourg, die mit einem Jungen im Arm über einen Golfplatz geht, ein Gemälde von Pieter Breughel, das zerfällt. Dann liegt Dunst nackt im Mondlicht, umschlungen von Pflanzen, in einer Art Erwartungshaltung. Kleine Blitze umzüngeln ihren Körper. Dann schlägt ein riesiges Himmelsgestirn in die Erde ein und lässt sie zerbersten. Diese Szenen eines symbolistischen Tableaux' sind trotz allem hyperreal ausgeleuchtet - wie eine Theaterbühne.

Eine ermüdete Bourgoisie

Nach diesem so apokalyptischen wie verwirrenden achtminütigen Prolog, in dessen Schatten der weitere Film stehen wird, folgt der erste von zwei Hauptteilen: Er heißt "Justine". Dunst spielt diese jüngere zweier Schwestern. Im Brautkleid ist sie mit ihrem Bräutigam in einer weißen Limousine auf dem Weg zu ihrer prächtigen Hochzeitsfeier, die von ihrer Schwester Claire und derem reichen Gatten in überquellendem Luxus ausgerichtet wird.

Sie findet in einem großzügigen Landsitz im Stil des 19. Jahrhunderts statt - den Leuten hier fehlt es offenkundig materiell an nichts. Personal bedient, es gibt Speisen aller Art, viel Tradition, alte Hochzeitsbräuche: Die Gäste sollen die Zahl der Bohnen in einem Glasgefäß erraten, und später wird Justine mit ihrer Sehergabe diejenige sein, die auf deren genaue Zahl kommt: 678.

Man begegnet einer brutalen, kalten Atmosphäre, einer innerlich leeren Eleganz, einer ermüdeten Bourgoisie voll dunkler Seiten, vor allem in der Familie selbst: Ein schwacher Brautvater, eine cholerische Mutter, Ehen, die getrennt sind oder nicht funktionieren - verlogen sie alle.

Das gilt gewissermaßen auch für Justine. Sie ist ein Teil dieser Welt: Eine Werberin, Expertin für PR und Marketing, also ein Profi der Lüge und des (Sich-Selbst-)Verkaufens. Zugleich weiß sie mehr, blickt weiter, hat Visionen: "I know things", sagt diese Kassandra der Neuzeit, und wie Kassandra schenkt auch ihr die dekadente, korrupte Oberklasse des zum Untergang verurteilten modernen Troja keinen Glauben.

Triumph der schwarzen Galle

Zudem ist schnell unübersehbar, dass es der Braut selbst offenkundig alles andere als gut geht: Obwohl es nie explizit formuliert wird, macht ihr erzwungenes Lächeln und ihr Drang, die Menschenansammlungen zu verlassen, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, schnell klar: Justine ist offenbar schwer depressiv, sie leidet an der Krankheit der schwarzen Galle, der Melancholie, und ihre Ehe wird die Hochzeit nicht überstehen. Sollbruchstellen sowie feinere wie gröbere Risse in der Fassade allerorten.

Nicht zuletzt die Braut selbst weiß den Pomp und Aufwand offenkundig wenig zu schätzen - und lässt an ihrer Gleichgültigkeit und Langeweile gegenüber allem kaum Zweifel aufkommen. Chaos und Tabubrüche, seelische Verletzungen nehmen immer mehr zu. "What did you expect?", fragt Justine ihren Gatten, der noch immer nichts versteht.

Schnell fühlt man sich hier einerseits an "Festen" erinnert, Thomas Vinterbergs und der "Dogma-Bewegung" Sensationserfolg, an dem auch Von Trier Teil hatte. Dort enthüllt ein Familienfest peinliche Geheimnisse. Ein Film, der einem auch in den Sinn kommt, ist "Das Weiße Band", Michael Hanekes scharfe Introspektion der bürgerlichen Gesellschaft, ihrer Rituale, aber auch ihrer Abgründe (Die Farbe der Wahrheit). So kann der Film als Von Triers Version eines kritischen Portraits der zeitgenössischen, längst im fortschreitenden Verfall befindlichen, "melancholischen" bürgerlichen Gesellschaft erscheinen, hinter deren prächtiger Fassade sich ein Abgrund an Amoral und Verzweiflung auftut, den der Film enthüllt.

Planetarisches Denken

Im Wechselspiel nimmt "Melancholia" schon früh zwei Perspektiven ein: Den kosmologischen Blick, unter dem die Menschen ganz klein werden - eine überraschende Gemeinsamkeit mit anderen neuen Filmen, allen voran Terrence Malicks "Tree of Life", der in einigen der planetarischen Einstellungen wie ein Zwillingswerk zu "Melancholia" wirkt, um sich dann doch auf einer ganz anderen Umlaufbahn zu bewegen.

Und zugleich handelt es sich um die Geschichte von Justine und Claire, den ungleichen Schwestern. Der zweite Teil des Films trägt Claires Namen. Er spielt an den Tagen nach der missglückten Hochzeit und ist geprägt von der Nachricht, dass ein meteorähnlicher Planet an den nächsten Tagen knapp an der Erde vorbeirasen soll. Justine und auf ihre pragmatische Art auch ihre Schwester aber ahnen, dass Schlimmeres bevorsteht - und am Ende des Films tritt tatsächlich der Weltuntergang ein!

Murphys Law und Schwester Mond

Das ist auf der einen Seite die reine Metapher: Der unbekannte Himmelskörper, der aus dem Nichts auftaucht, heißt "Melancholia". Die Traurigkeit des Films erinnert an Antonionis "La Notte". Zwei Schwestern, zwei wie Tag und Nacht, wie Schwester Sonne und Schwester Mond. Es ist also der Zustand, der die Menschheit bedroht, der "wie ein" Weltuntergang wirkt. Und andererseits tatsächlich der Untergang, ein Katastrophenthriller im Arthouse-Gewand. "Melancholia" illustriert "Murphys Law", das Gesetz, nach dem alles, was schiefgehen kann, auch schiefgehen wird.

Trier inszeniert all dies mit abstrakter Reduktion, Zeitlupen und viel opernhaftem Pathos. Im Vergleich zu "Tree of Life" ist "Melancholia" fraglos kühler, ironischer. Von der marmornen Härte von "Letztes Jahr in Marienbad". Lars von Trier glaubt nicht an Gott, aber ans Ende der Welt und teilt uns diese Gewissheit mit einem gewissen sarkastischen Vergnügen mit.

Man kann den Film stilistisch allzu bemüht finden. Aber der visionären Kraft seiner Bilder, ihrer Eleganz und dem erzählerischen Mut kann man sich kaum entziehen. Stilistisch leistet Lars von Trier mit diesem Film weiterhin Widerstand gegen den Untergang. Und wenn er den der Welt schon nicht aufhalten kann, dann doch den des Kinos.

Er leistet Widerstand gegen jene grassierenden Tendenzen des Weltkinos, die auch das Kunstkino jenseits des Mainstreams infiziert haben: Populismus und Re-Literarisierung - das was man schon überwunden glaubte, kommt zurück. Trier setzt dem sein "no more happy endings" entgegen. Sterben lernen, die Tugend der Philosophen.

Der Triumph des Todes

"Leben gibt es nur auf der Erde - und nicht für lange Zeit" - vielleicht ist diese im Film formulierte Einsicht, die tatsächlich Grund zur Melancholie geben kann, die tiefere Motivation für diesen Film. Wo andere die Heiligkeit des Lebens feiern, entfaltet Trier einen apokalyptischen Abgesang und stellt seine Zuschauer vor existentielle Fragen nach dem Lebens im Angesicht des Untergangs und der fehlende Hoffnung auf Transzendenz.

Zunehmend dominieren bei Claire Angst und Panik, während Justine - auch hierin, wie in ihrer Depression, das offene Alter Ego ihres Regisseurs - im Angesicht des Endes immer ruhiger wird und so etwas wie Frieden findet. Je näher dieses Ende rückt, um so zärtlicher erscheint nun auch der Blick des Regisseurs auf seine Figuren.

"Melancholia" ist damit auch in aller Größe etwas ganz Einfaches: Ein Film über den Tod, der ja für jeden Einzelnen eine Art individuellen Weltuntergang bedeutet, und über die Liebe - nicht "zum Leben", aber zu den einzelnen Menschen.

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