Vorbild ist eine mit einem Sicherheitswall eingeschlossene Stadt

US-Präsident Bush sucht Optimismus über den Irak zu verbreiten, während die irakische Polizei meldet, US-Soldaten hätten 11 Menschen "exekutiert"

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In Kriegen ging es immer ungerecht zu. Zivilisten sind die Hauptleidenden von Kämpfen und Bürgerkriegen, zumal in solchen „asymmetrischen“ Konflikten wie derzeit im Irak, das drei Jahre nach dem „Regimewechsel“ in manchen Regionen und Städten immer mehr ins Chaos abzudriften scheint. Für die Iraker zumindest stimmt es nicht, dass die Welt nach dem Sturz Husseins sicherer geworden ist, ganz im Gegenteil. Die irakischen Menschen geraten zwischen allen Fronten und werden auch immer wieder zu Opfern derjenigen Besatzungsmacht, die eigentlich Freiheit, Demokratie und Menschenrechte bringen will. Auch die „Erfolgsgeschichte“, die US-Präsident Bush gestern in einer Rede über die erneut befreite und mit einem Sicherheitswall eingeschlossene Stadt Tal Afar erzählte, hat ihre dunklen Seiten.

Nicht immer verlaufen die amerikanisch-irakischen Begegnungen so friedlich ab wie hier in Bagdad. Foto: Pentagon

Dass auch bei den amerikanischen Soldaten Schlimmes wie die Folterung von Gefangenen passieren kann, räumt man im Weißen Haus ein. Aber das sei nicht wie bei den „Bösen“, die man bekämpft, Absicht und auch keine Folge von Entscheidungen auf höchster Ebene, sondern lediglich das Werk von fehlgeleiteten Einzelnen, wobei sich ein Rechtsstaat wie die USA dadurch auszeichne, dass die Taten aufgeklärt und die Schuldigen vor Gericht gestellt würden. Die Untersuchung vieler Vorfälle verlief allerdings meist im Sand, nachdem sie dem Pentagon selbst untersteht, das kein Interesse daran hat, die „Moral“ der eigenen Truppen durch Bestrafung zu untergraben.

Gerade ist ein Fall vom November 2005 bekannt geworden, bei dem U.S. Marines 15 Zivilisten, darunter auch Kinder, in einer Strafaktion in der Nähe der Stadt Haditha erschossen haben sollen, nachdem ein Anschlag mit einer Straßenbombe auf ihr Fahrzeug ausgeübt worden ist, wodurch ein US-Soldat getötet wurde. In ihrem Bericht hatten die Soldaten angegeben, dass dieser zusammen mit 15 Irakern durch den Bombenanschlag umgekommen seien. Zudem berichteten sie, sie seien von Aufständischen angegriffen worden und hätten daraufhin das Feuer erwidert. Dabei seien 8 Aufständische getötet worden.

Zeugen vor Ort konnten dies aber nicht bestätigen. Die Soldaten sollen nach dem Anschlag auf Rachefeldzug in das Dorf gegangen sein und dabei wahllos 15 Zivilisten, darunter 7 Frauen und 3 Kinder in ihren Häusern getötet haben. Die Time hatte die Berichte der Zeugen dem Pentagon übermittelt, das im Januar tatsächlich eine Untersuchung eingeleitet hat, die vom Naval Criminal Investigative Service durchgeführt wird. Überdies ist die Zeitschrift im Besitz eines Videos, das die Folgen der Schießerei und die Opfer zeigt. Schusslöcher findet man nach diesem zwar in den Häusern, nicht aber außen, was nahe legen würde, dass es nicht zuvor zu einem Schusswechsel gekommen ist. Die Leichen trugen meist noch Schlafkleidung. Nach der Time räumt das US-Militär ein, dass die irakischen Zivilisten durch die Schüsse der Marines getötet wurden. Aber möglicherweise hätten die Aufständischen ja hinter Zivilisten Schutz gesucht, wie eine Sprecherin der Multinationalen Truppen sagte. Im Pentagon würde man die Geschichte wohl gerne vergessen, nachdem man doch die Verwandten der Getöteten mit 2.500 Dollar pro Kopf entschädigt hat. Und auch wenn die Marines die Zivilisten getötet haben, so sei dies nicht absichtlich geschehen, sondern habe es sich um „Kollateralschaden“ gehandelt. Das kommt, gewissermaßen, einfach mal vor.

Dass die Marines aber erst eine Deckgeschichte erzählten und erst später, nachdem die Time sich eingeschaltet hatte, eine neue Version erfanden, dürfte darauf hinweisen, dass die Berichte der Überlebenden und der Zeugen stimmen könnten. In der neueren Version berichteten Marines, sie hätten in einem Haus Geräusche wie vom Entsichern eines Gewehrs gehört und daraufhin geschossen. Dann seien sie von einem anderen Haus beschossen worden und hätten das Feuer erwidert, an dem 8 Menschen, darunter vier Kinder starben. In einem weiteren Haus wären Männer mit Waffen gewesen. Insgesamt wären bei den Hausdurchsuchungen 23 Iraker umgekommen, die 15 Zivilisten sowie vier Männer und vier Jugendliche, die aber vom Militär als feindliche Kämpfer bezeichnet wurden.

Time-Story über den Vorfall

Gerade rechtzeitig zum dreijährigen Kriegsbeginn wurde nun schon der nächste Vorfall bekannt. Dieses Mal beschuldigen, wie Knight Ridders Newspapers berichten, irakische Polizisten in einem namentlich unterzeichneten Protokoll, in dem auch andere Vorfälle behandelt werden, amerikanische Soldaten, dass sie am letzten Mittwoch 11 Menschen exekutiert hätten, darunter eine 75-jährige Frau und ein sechs Monate altes Baby. Ein Sprecher des Pentagon stritt dies ab und sagte, dass während einer Suche nach einem mutmaßlichen al-Qaida-Mitglied vier Menschen – eine Frau, zwei Kinder und „ein Feind“ – getötet wurden, ein „Feind“ sei gefangen worden. Man habe aber nur eine vorläufige Untersuchung gemacht, so dass die Zahl der Toten auch höher liegen könne. Die Behauptung der irakischen Polizisten, es habe eine Exekution stattgefunden, sei „höchst unwahrscheinlich“, weil die US-Truppen „alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um Zivilisten nicht zu gefährden“.

Der Bericht des Polizeioffiziers, der auch von seinem Vorgesetzten, dem Leiter eines gemeinsam mit den US-Truppen eingerichteten regionalen Sicherheitszentrums, als vertrauenswürdig gestützt wird, beruht wiederum auf Aussagen lokaler Polizisten. Tatsächlich haben Nachbarn bestätigt, dass ein al-Qaida-Mitglied in dem Haus des Lehrers gewesen sei. Sie seien miteinander verwandt. Um zwei Uhr in der Früh hätten sich US-Truppen dem Haus genähert, es sei zu einem Schusswechsel gekommen. Die Soldaten wurden unterstützt von Kampfhubschraubern.

Dann sei, nach der Darstellung der US-Soldaten, das Haus eingestürzt. In den Trümmern wurden die vier Toten und der mutmaßliche al-Qaida-Angehörige lebendig gefunden. Nach dem Bericht der irakischen Polizisten sind die US-Soldaten aber in das Haus eingedrungen, als es noch stand: „Die amerikanischen Soldaten versammelten die Familienmitglieder in einem Raum und exekutierten 11 Menschen, 5 Kinder, vier Frauen und zwei Männer. Dann sprengten sie das Haus, verbrannten drei Fahrzeuge und töteten die Haustiere.“ Die Autopsien der Leichen hätten ergeben, wie ein Korrespondent berichtete, dass alle Schusswunden in den Köpfen hatten und die Hände gefesselt waren.

US-Präsident Bush bei seiner Rede in Cleveland. Foto: Weißes Haus

Tal Afar als Modell für eine befreite Stadt

US-Präsident Bush machte die Ankündigung wahr und suchte in einer Rede in Cleveland, Ohio, den Erfolg des Irak-Kriegs herauszustreichen und für die weitere Präsenz der Truppen, für die langfristig fünf große, gut gesicherte Stützpunkte gebaut werden, zu werben. Da die Medien sich nur auf die schlechten Nachrichten und Bilder konzentrierten und damit einen falschen Eindruck erweckten, schilderte Bush einen konkreten Fall, den der Befriedung der Stadt Tal Afar in der Nähe der syrischen Grenze. Man könnte freilich auch sagen, dass mit der Konzentration auf eine Stadt vermieden wird, über die Situation im gesamten Irak sprechen zu müssen.

Tal Afar ist eine Stadt mit etwa 200.000 Einwohnern, die Mehrheit der Bewohner sind Turkmenen und daher nicht typisch für die drei andere großen Bevölkerungsgruppen. Im Unterschied zu Bush lässt sich nicht wirklich davon sprechen, dass Tal Aafar in seiner Bevölkerungszusammensetzung eine typische irakische Stadt ist. Im Nordirak sollen etwa 3 Millionen Turkmenen leben. In der Stadt hatten 2004 – ähnlich wie in anderen Städten – Aufständische und Islamisten die Kontrolle übernommen. Die US-Truppen begannen im September mit schweren Angriffen, so dass auch die Türkei sich einschaltete und zur Zurückhaltung aufforderte. Zehntausende von Menschen waren aus der Stadt geflohen, viele Häuser wurden durch die Angriffe zerstört. Angeblich hätten sie hier al-Qaida-Anhänger eingenistet.

Die Stadt wurde schließlich erobert, die US-Soldaten zogen wieder weiter, die geflüchteten Aufständischen kamen – auch das eine übliche Geschichte – kurz darauf zurück und kontrollierten bald wieder Polizei und Verwaltung, während sie Gegner bedrohten und Angst und Schrecken verbreiten. Das wird von Bush eindrucksvoll ausgemalt und ging auch zuvor in Medienberichte ein. Im Juni 2005 wurde dann Tal Afar von amerikanischen und irakischen Soldaten erneut angegriffen und im September schließlich mit der Hilfe von massiven Luftangriffen eingenommen. Wie in Falludscha war auch hier die Mehrzahl der Aufständischen zuvor ebenso geflüchtet wie viele der Einwohner. Im Juli hatte das US-Militär mit einer neuen Taktik begonnen und die Stadt – wie beispielsweise auch Samarra und Siniyah - mit einem 64 Kilometer langen Wall umgeben, so dass nur an wenigen Stellen Menschen an Kontrollposten diese betreten oder verlassen konnten. Von Sunniten bewohnte Stadtteile, in denen Aufständische vermutet wurden, hatte man mit Stacheldraht abgeschlossen. Bevor man die übrig gebliebenen Aufständischen in der Stadt angriff, wurde diese also erst einmal zu einem Gefängnis gemacht und die Umgebung gesichert.

US-Soldaten patrouillieren im September 2005 im eroberten Tal Afar. Bild: Pentagon

Diese Operation mit dem wohlklingenden Namen „Operation Restoring Rights“ wurde schon als Modell vom Pentagon und dem Weißen Haus angepriesen, wie man Orte von Aufständischen befreit, sie weiter kontrolliert und wieder aufbaut (clear, hold, build), eine Strategie allerdings, die man sonst nicht wirklich verfolgt hat und die auch kaum auf größere Städte übertragbar wäre. In Tal Afar waren 8.000 Soldaten monatelang im Einsatz. Die US-Soldaten mussten vor dem Einsatz zumindest ein wenig arabisch lernen, der Kommandeur ging davon aus, dass sie auch die Kultur verstehen müssten, um sinnvoll eingreifen zu können. Überdies ließ man sich Zeit, auch mit den Menschen und lokalen Führern zu sprechen und sich mit ihnen abzustimmen. Dazu kam freilich, dass die Aufständischen, schon wegen ihres brutalen Auftritts, bei den Turkmenen nicht beliebt waren. In einer sunnitischen Stadt würde die Situation wohl anders aussehen. Und nach der „Säuberung“ wurde tatsächlich mit Wiederaufbauarbeiten in größerem Stil begonnen.

Großstädte wie Bagdad lassen sich aber kaum vollständig vom Umland durch einen Wall oder Zaun abschotten. Zudem kann man nicht den Großteil der Bevölkerung evakuieren und mit massiven Luftangriffen mutmaßliche Rebellenstützpunkte zerstören. Gleichwohl war Tal Afar in der im Weißen Haus beliebten Dominotheorie oder auch Memtheorie auch insofern als Modell betrachtet worden, dass eine „failed“ Stadt im Irak, die von den Amerikanern erobert, wiederhergestellt und dann an die irakischen Sicherheitskräfte übergeben wurde, ansteckend wirken und so nach und nach die erwünschte Ordnung sich ausbreiten sollte – so wie die von den Amerikanern hergestellte Demokratie im prosperierenden Irak die ganze Region durch Ansteckung erfassen und umkrempeln sollte.

Nach einem Bericht der Washington Post, für den Bewohner von Tal Afar befragt wurden, scheint aber die Angst vor den zurückkehrenden Aufständischen wiederzukehren. Es seien auch schon wieder Menschen in der Stadt getötet worden, weil sie mit den Amerikanern kooperiert hatten. Andere fürchten, dass die Stadt wieder von den al-Qaida-Anhängern übernommen werden könnte, wenn sie die Amerikaner wieder weiter zurückziehen.

Offenbar bereitet man gerade auch eine neue Terminologie für die „Feinde“ vor. Meist war von „ausländischen Kämpfern“, übriggebliebenen Saddam-Anhängern und Terroristen die Rede, wenn man nicht allgemein von Aufständischen sprach. Nun hat Bush aufgrund einer Frage aus dem Publikum nach einer klareren Definition des „Feindes“ drei Klassen angeboten: die al-Qaida-Anhänger, die die Demokratie bekämpfen, die „Saddamisten“, die den Regimewandel wieder rückgängig machen wollen, und die „rejectionists“, meist Sunniten nach Bush, die die Veränderung ablehnen, weil sie beispielsweise als Mitglieder einer Minorität Angst vor Repression haben. Die schiitischen Aufständischen oder die Schiiten, die einen islamischen Staat wünschen, erwähnt Bush lieber ebenso nicht, wie die schiitischen Todesschwadronen und Milizen, die auch eng mit dem Innenministerium zusammen arbeiten und mit der Polizei verbandelt sind.

Auf der offiziellen Website der multinationalen Truppen wurde auch bereits im Menü eine Rubrik „Fight for Freedom“ eingerichtet. Bis auf die Titel ist sie allerdings bis auf den Punkt „Most Wanted“ noch leer. Man ist also am Arbeiten. Auch hier will man neben einer Darstellung der „Bedrohung“ die Feinde charakterisieren. Allerdings wird hier nicht nur von al-Qaida gesprochen, sondern allgemein von „Terroristen und ausländischen Kämpfern“. Die „Saddamisten“ und die „rejectionists“ findet man auch hier. Es soll also nicht mehr Gegner geben, um die Übersichtlichkeit zu wahren.