Vorwärts in die Vergangenheit?
Ein Schweißer soll die Sozialdemokratie in Schweden retten
Wenn in Europa eine Partei als der Inbegriff des Sozialdemokratischen schlechthin gilt, dann ist es die Sveriges socialdemokratiska arbetareparti (im Schwedischen kurz Socialdemokraterna, abgekürzt einfach nur S oder SAP), die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens. 1889 gegründet, ist sie nicht nur die älteste Partei des Landes. Nein, von Beginn der fünfziger Jahre bis zur Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts konnte sie einen Staat formen, wie er im Bilderbuch, besser im Parteiprogramm steht: Die SAP war Begründer, Entwickler und Verfechter des modernen Wohlfahrtsstaates Schweden, der weltweit als Vorbild galt. Dass die Partei kürzlich einen neuen Parteivorsitzenden kürte, wurde außerhalb des Landes kaum beachtet - und ist doch höchst aufschlussreich.
Ausgenommen eine Periode von 100 Tagen im Jahr 1936, während der eine Interimsregierung herrschte, stellte die SAP von 1932 bis 1976 ununterbrochen den Ministerpäsidenten. Im Ausland wird für gewöhnlich die Chiffre des "Folkhemmet" (Volksheims) verwendet, um den zentralen Grundzug der Politik zu charakterisieren. Für Nicht-Schweden trägt in der Tat Züge des Heimeligen, Beschaulichen, In-sich-Geschlossenen, Selbstgenügsamen, was die SAP mit Beginn der dreißiger Jahre umzusetzen suchte. Eine Politik der Vollbeschäftigung, Absicherung bei Arbeitslosigkeit, verbesserte Renten, Einführung bezahlten Urlaubs, Ausweitung der Krankenversicherung auf die Zahngesundheit - dies waren die ersten konzipierten oder begonnenen Reformen. Dass dies eine Antwort auf die verheerende Weltwirtschaftskrise war, die die Aufschwungphase der zwanziger Jahre jäh beendete, wird ob der Klischees allerdings oft übersehen.
Während des Zweiten Weltkriegs mit einer breitestmöglichen Koalitionsregierung war nicht die Zeit für große Fortschritte, gleichwohl bereitete die SAP ihre Nachkriegspolitik zielstrebig vor. Sie zwang die Dachverbände der Gewerkschaften und der Arbeitgeber, im Dezember 1938 das Saltsjöbadsavtalet, das Abkommen von Saltsjöbaden, zu schließen. Es stellte alle Beziehungen von Arbeitern und Unternehmern auf eine völlig neue Grundlage: Tarifliche Fragen sollten einvernehmlich und ohne Intervention der Politik geregelt werden, das Prinzip von Konsens und Kooperation wurde auf nahezu alle Themen ausgedehnt - vom Rentenalter bis zum Arbeitsschutz. Das "schwedische Modell" war begründet, es sollte die industriellen Beziehungen nachhaltig befrieden und bis in die achtziger Jahre Bestand haben.
Dementsprechend sollten mit Anbruch der Nachkriegszeit Vollbeschäftigung, gerechte Einkommensverteilung und deutlich verbesserter Lebensstandard für alle die zentralen Ziele sein. Bildung und Forschung, Wohnungsbau und Lohnfortzahlung bei Krankheit wurden vorangetrieben - finanziert durch eine vergleichsweise hohe Steuerlast. Dabei war Schweden keineswegs, wie so gerne unterstellt wird, selbstbezogen: Bereits 1954 nahmen die vier skandinavischen Staaten die EU im Kleinen vorweg - alle Beschränkungen für Reisen, Aufenthalt und Arbeit wurden für Bürger der vier Staaten abgeschafft.
Zwei weitere Vorhaben sollten zu zentralen Mythen der Partei werden. Nach der 1948 eingeführten universellen, steuerfinanzierten Grundrente Folkpension (FP, Volksrente) wurde 1959 nach dramatischen politischen Auseinandersetzungen ein System beitragsbezogener Zusatzrenten geschaffen, die Allmän tilläggspension (ATP, Allgemeine Zusatzrente). Letztere bewirkte eine Angleichung der Renten der Arbeiter an die der Angestellten, nach einem denkbar knapp gewonnenen Kampf. Eine weitere Säule wurde 1964 auf den Weg gebracht, das Miljonprogrammet, mit dem binnen eines Jahrzehnts eine Million neuer Wohnungen errichtet wurde. Dies gelang - wenn auch um den Preis häufig minderer Qualität und der Schaffung von Trabantensiedlungen, die heute nicht selten soziale Brennpunkte sind. Viele weitere Errungenschaften folgten, etwa die gleiche Entlohnung für Frauen, Verbesserungen bei Krankenhäusern und Altenpflege, der Ausbau des öffentlichen Schulwesens. Kein Wunder, dass die SAP ihren größten Erfolg seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bei den Wahlen von 1968 erzielte, als sie 50,1 Prozent der Stimmen auf sich vereinigte.
Seit den 1980er Jahren stecken die Sozialdemkraten in der Krise
Seitdem jedoch erlebt die Partei zunehmende Turbulenzen. Ihre Position war nicht länger unangefochten, ihr Leitbild vom sicheren und großzügigen Wohlfahrtsstaat wurde durch Inflation, Ölkrisen, Staatsdefizit erschüttert. Verzweifelt versuchte die Partei, einen Weg zu finden, der die wichtigsten Teile des Sozialsystems bewahrte und gleichzeitig das Staatsdefizit verringerte - wenig überraschend, dass ihr vor allem Steuererhöhungen einfielen. Was Olof Palme, von 1969 bis 1972 und von 1982 bis zu seiner Ermordung 1986 Ministerpräsident, mit solcher Politik noch halbwegs gelang - daran scheiterten seine Nachfolger. Zwar stellte die SAP mit Ingvar Carlsson (1986 bis 1991 und 1994 bis 1996) und Göran Persson (1996 bis 2006) abermals den Ministerpräsidenten, doch eine echte politische Perspektive blieb aus.
Die Wahlergebnisse der Partei verschlechterten sich in Zuckungen: 1991 sanken sie erstmals seit siebzig Jahren unter die 40-Prozent-Marke, 37,7 Prozent standen zu Buche. 1994 folgte eine Erholung auf 45,3 Prozent, sie blieb indes die Ausnahme. 1998 lag die SAP bei 36,4, 2002 bei 39,9, 2006 bei 34,99 und 2010 nur noch bei 30,66 Prozent. Das ur-sozialdemokratische Schweden erlebte plötzlich nicht nur bürgerliche Regierungen, die Führung der SAP tat überdies nahezu alles, die Partei ins Abseits zu manövrieren. Nachdem der farblose Göran Persson den Parteivorsitz immerhin elf Jahre innehatte, von 1996 bis 2007, musste seine Nachfolgerin Mona Sahlin nach vier Jahren das Handtuch werfen. Ihr folgte der blasse Håkan Juholt, der die Position im März 2011 angetragen bekam. Wiederholt warf er Statements in die Debatten, die er sogleich wieder zurückziehen musste - der Begriff "Juholtare" ging neu in die schwedische Sprache ein. Zudem griff er ungerechtfertigt Wohnzuschüsse des Parlaments ab. Im Januar 2012 schmiss Juholt das Handtuch.
Was dann geschah, bot abermals ein Trauerspiel. Angesichts der Umfragen, die die Partei irgendwo um die 23 Prozent sahen, erging sich nahezu die gesamte Parteiprominenz in Ausflüchten, nur um das Amt nicht bekleiden zu müssen ... Ist ihre Führung den Herausforderungen nicht gewachsen? Erleben wir womöglich den endgültigen Niedergang einer dereinst stolzen Partei? Dass diese Option tatsächlich nicht mehr völlig unvorstellbar ist, diese Erkenntnis beschleicht nunmehr auch die Führungsriege der Partei. Letztlich einigte sie sich doch noch auf einen Kandidaten - der einzige Name, dem alle zustimmen mochten. Böse Zungen behaupten hingegen, er sei der einzige, der nicht eindrücklich genug "Nein" gerufen habe.
"Unsere Ideen sind zeitlos"
Stefan Löfven, so heisst der neue Parrteivorsitzende, verkörpert zweierlei. Zum einen gehört er zwar seit 2006 der erweiterten Parteispitze an, war aber nur unmaßgeblich am bisherigen Führungsversagen beteiligt - er bekleidet nicht einmal ein Mandat im Riksdag, dem Parlament. Insofern ist er kaum in die parteiinternen Kontroversen involviert.
Zum anderen, und das ist von über Schweden hinausreichender Symbolkraft, verkörpert er den Typ des klassischen Arbeiters mit Aufstiegsbiographie. Als 1957 geborenes Waisenkind wurde er von einem Arbeiterehepaar adoptiert; er erlernte den Beruf des Schweißers, den er ausübte, bis er 1995 hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär beim Svenska metallindustriarbetareförbundet wurde, der kurz Metall genannten Metallarbeitergewerkschaft. Löfven machte rasch Gewerkschaftskarriere, 2002 wurde er Vizepräsident. Mit der Anfang 2006 vollzogenen Verschmelzung von Metall und Industrifacket (Industriegewerkschaft) zur neuen Industrifacket Metall mit derzeit 370.000 Mitgliedern wurde er deren Vorsitzender.
Angesichts seines eher unauffälligen Profils in öffentlichen Debatten wurden sogleich frühere seiner Bekundungen zu aktuellen Themen zusammengestellt. Er trat für eine zeitliche Begrenzung der Zahlung von Arbeitslosengeld ein, vor allem, um die Höhe der Zahlungen heraufzusetzen oder zumindest beibehalten zu können. Bei Tarifverhandlungen hatte er sich gegen Kvinnolönesatsning ausgesprochen, gegen Initiativen zur Angleichung von Niedriglöhnen für Frauen - aber nicht, weil er gegen gleiche Entlohnung war, sondern weil er für die Metallindustrie keinerlei Relevanz sah.
Für die Bereiche von Gesundheitswesen und Schule befürwortete er "einen guten Mix" von öffentlichen und privaten Betreibern. Die Steuern sollten weiterhin hoch bleiben, um das bisherige Sozial- und Wohlfahrtsniveau halten zu können; eine erhöhte Besteuerung von Arbeit lehnte er ab. Vor Jahren hatte sich Löfven für den Zuzug von ausländischen Arbeitskräften eingesetzt, äußerte sich in letzter Zeit aber eher zurückhaltend. Beim Referendum von 2003 hatte er für die Übernahme des Euro gestimmt und sich fortan positiv über den Euro geäußert. In der anderen Frage, die die Sozialdemokratie unverändert spaltet, setzte er sich für einen breiten Energiemix ein, in dem die Atomenergie einen "natürlichen" Platz habe.
Um als Newcomer keine amateurhaften Angriffsflächen zu bieten, fielen Löfvens erste Stellungnahmen im neuen Amt ziemlich zahm aus. Indes ist ihm der Ernst der Lage klar, er weiß, welche Bürde er trägt und welche Erwartungen auf ihm lasten: "Ich akzeptiere diese Rolle, weil ich von der Sozialdemokratie überzeugt bin. Unsere Ideen sind zeitlos. Wir werden weiterhin mit ihnen arbeiten." "Das Problem ist nicht, dass man sich von unserer Politik abgewendet hat, sondern das Problem liegt an unseren bisherigen Unzulänglichkeiten. Schweden braucht die Sozialdemokratie."
Politisch ist seine neue Richtung die alte, nur unter veränderten Bedingungen. Löfven will sein Augenmerk auf die Schaffung von Jobs sowie Verbesserungen der Ausbildung legen, das Ziel sei und bleibe Vollbeschäftigung (im Dezember 2011 lag die Arbeitslosenquote bei 7,5 Prozent). Dass er als Gewerkschaftsführer von hergebrachten Dogmen abwich und in Fragen wie Kurzarbeit, Lohnabsenkungen in Krisenperioden oder niedrigeren Einstiegsgehältern für junge Arbeitnehmer Flexibilität bewies, brachte ihm Vorschusslorbeeren seitens der Wirtschaft ein. Zugleich wird er den Schulterschluss mit den Gewerkschaften suchen (müssen), um ein gleichsam "natürliches" Wählerreservoir erschließen zu können. Die nächsten Reichstagswahlen sind für September 2014 angesetzt.
Stefan Löfven - steht er für ein verzweifeltes "Vorwärts in die Vergangenheit" und damit für ein gerüttelt Maß an Zukunftsunfähigkeit der SAP? Oder liegt in der Rückbesinnung auf ein politisches Großkonzept unter sich ändernden Bedingungen die einzige Chance für die Zukunftsfähigkeit der Partei?
Was ist faul bei den Sozialdemokraten nicht nur in Schweden?
Diese Frage ist mitnichten eine ausschließlich schwedische. Alle sozialdemokratischen Parteien Europas sind damit konfrontiert. Was François Hollande derzeit für die Parti socialiste in Frankreich ausruft und vielleicht auch tatsächlich anstrebt, liest sich wie einem uralten Handbuch für bloße Umverteilung entnommen: Steuererhöhungen und Rücknahme von Steuerleichterungen sollen bei Wohlhabenden, Großfirmen und Banken 29 Milliarden Euro erbringen; gleichzeitig sollen 20 Milliarden Euro ausgegeben werden, um 60.000 neue Stellen bei Schulen und Polizei sowie 150.000 neue Jobs für Berufsanfänger zu schaffen, als auch kleine und mittlere Firmen steuerlich zu entlasten. Zudem muss Hollande unablässig das Wundermittel "Wachstum" beschwören, damit sein Ziel, das Haushaltsdefizit bis 2017 zu beseitigen, überhaupt erreichbar erscheinen kann.
Sollte Löfven nichts Anderes einfallen als das, was Hollande derzeit propagiert, dann berauben sich gleich zwei der großen sozialdemokratischen Parteien Europas ihrer Perspektive jenseits des nächsten Wahltermins. Dass sich die SPD mit Stellungnahmen zu beiden Entwicklungen zurückhält und nur die pflichtschuldige Unterstützung ausruft, hat wohl einen Grund. Sie scheint zu ahnen, dass, wenn sie denn überhaupt in das Feld strategischen Denkens zurückzukehren gedenkt, ihr letztlich auch nichts Anderes einfallen wird … Aber warum eigentlich? Warum vermögen die sozialdemokratischen Parteien, die mit ihren großen Traditionen auf einen reichhaltigen Erfahrungsschatz bauen könnten - warum vermögen diese Parteien nicht, in und für Gesellschaften, die sich so rasant wandeln, dass Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat herkömmlicher Prägung nicht länger passen, eine gleichermaßen soziale wie demokratische Vision zu entwickeln?
Eine banal klingende, gleichwohl wirkungsmächtige Antwort liegt in den Grundmustern der Sozialisierung des Personals. Wenn eine Partei nahezu vollständig von in den fünfziger und sechziger Jahren geborenen Kindern des Wohlfahrtsstaates geprägt wird, die obendrein als Technokraten oder Berufspolitiker daherkommen, dann ergibt sich eine zentrale Konstellation: Diese (auch in anderen politischen Lagern vorherrschende) Generation setzt das, für dessen Schaffung und Weiterentwicklung sie qua Amt zuständig und verantwortlich ist, wenigstens sein sollte, schlicht als gegeben voraus.
Solche Ansammlungen von Schönwetterakteuren, für die Existenzfragen in Besoldungsstufen oder Autotypen liegen, werden keiner modernen Gesellschaft, weder in Schweden noch in Frankreich oder Deutschland, eine Perspektive liefern können. Insofern ist der Rückgriff der SAP auf eine Leitfigur des klassischen Arbeitertypus mit existentieller Lebenserfahrung ein aus der Not geborener Versuch, diese Begrenzungen aller Horizonte aufzubrechen und endlich wieder politische Substanz zu finden.