Vorwürfe gegen US-Armee weiter ungeprüft
Die ARD sendet den Dokumentarfilm von Jamie Doran über ein Massaker an gefangenen Taliban, an dem auch US-Militärs beteiligt gewesen sollen
Als der renommierte britische Dokumentarfilmer Jamie Doran Ende Juni eine Vorabfassung seines Dokumentarfilmes "Massaker in Mazar" vorstellte, war das Medienecho bescheiden (Das Massaker, das nicht sein darf). Dabei enthüllten die parallel in Brüssel und Berlin organisierten Pressekonferenzen schier Unglaubliches: Tausende gefangene Kämpfer der Taliban-Milizen sollen im Norden Afghanistans in der Wüste hingerichtet worden seien. Die Rechnung war so einfach wie grausam: 8.000 Männer waren nach der Einnahme der Stadt Kundus durch Truppen der Nordallianz gefangengenommen worden. Am Zielort, dem Gefängnis von Scheberghan, sind jedoch nur 3.015 Menschen angekommen. Nach Ansicht von Doran und nach Aussagen mehrerer Zeugen wurden "Tausende Gefangene in der Wüste Dascht Leili hingerichtet". An der ausgewiesenen Stelle fanden die US-amerikanischen "Ärzte für Menschenrechte" tatsächlich Reste menschlicher Körper (Massaker im Norden Afghanistans).
Der Film sei "von der PDS" bestellt, hieß es aus US-Kreisen nach der Vorführung im Bundestag. "Falsch", so das prompte Dementi von Doran, der erklärte, "dass mein Dokumentarfilm 'Das Massaker von Mazar' von der PDS weder in Auftrag gegeben noch bezahlt worden ist. Ich wäre zugleich außerordentlich verärgert, falls anderslautende Gerüchte vom zentralen inhaltlichen Punkt meines Films ablenken."
Diese Befürchtung zumindest erfüllte sich nicht, denn nach und nach griffen weitere Medien die Geschichte auf. Als sich im August dann das US-Nachrichtenmagazin Newsweek der Sache annahm, musste die US-Regierung eingestehen: Ja, US-Soldaten waren bei Dascht Leili anwesend, und ja, es habe wohl ein Massaker gegeben. Die anwesenden US-Soldaten hätten davon aber nichts bemerkt.
Trotz dieser ungeheuerlichen Behauptungen ist seither wenig geschehen. Die Ärzte für Menschenrechte drängen seit Bekanntwerden der Geschehnisse auf eine Sicherung des mutmaßlichen Massengrabes in der Wüste bei Mazar-i-Sharif. Vergebens. "Unser Forensik-Experte William Haglund ist erst vor wenigen Tagen aus der Region zurückgekehrt", so John Heffernan vom Washingtoner Büro der "Ärzte" Anfang der Woche gegenüber Telepolis.
Nach den Presseberichten in den USA und Großbritannien hätten die Vereinten Nationen in eine Untersuchung eingewilligt. "Weil unserer Forderung nach einer solchen Nachforschung nicht gleich stattgegeben wurde, müssen wir nun wegen den extremen klimatischen Bedingungen bis zum Frühjahr warten", beklagt Heffernan. Bis dahin aber ist die Stelle ungeschützt.
Eine der Hauptforderungen der Organisation und des Dokumentarfilmers Doran ist daher die Bewachung des mutmaßlichen Massengrabes. Doch wer soll den übernehmen, wenn alle in der Region aktiven Ordnungskräfte für sie belastende Funde erwarten müssen? Ähnliche Erfahrungen machte André Brie, PDS-Abgeordneter im Europaparlament. Bereits Anfang September hatte er eine fraktionsübergreifende Delegation organisieren wollen. "Die afghanische Regierung konnte uns aber keinerlei Sicherheitsgarantien geben." Nun hoffen die Parlamentarier auf eine Afghanistan-Visite "für Januar oder Februar".
Thomas Schreiber, der Leiter des Programmbereiches Kultur im NDR Fernsehen, wies heute die Vorwürfe der US-Regierung gegen die Ausstrahlung des Films zurück:
"Alle Augenzeugen, die in der Dokumentation über die Vorgänge im Gefängnis von Sheberghan und am Ort des Massengrabes in Dasht-i-Leili zu sehen sind, berichten übereinstimmend, dass amerikanische Soldaten an diesen beiden Orten anwesend waren.
Der Sprecher des US-Außenministeriums Larry Schwartz hatte dpa zufolge erklärt, dass die Aussagen der ARD-Dokumentation 'vollständig falsch und bereits widerlegt' seien. Dies steht im deutlichen Widerspruch zur Mitteilung des Pentagons, dass bislang keine Untersuchung der Vorgänge durch die US-Streitkräfte stattgefunden hat. Zur zweifelsfreien Aufklärung notwendig wäre also eine interne Untersuchung des amerikanischen Verteidigungsministeriums sowie die Exhumierung der Massengräber, die Obduktion der Leichen und die Identifikation der Toten durch das UNHCR."
Als in den Vereinten Nationen vor wenigen Wochen um den Internationalen Strafgerichtshof gestritten wurde, begründeten die USA ihre Enthaltung mit den "funktionierenden Sanktionierungsmechanismen in der US-Armee". Und tatsächlich scheinen sie ganz im Sinne der Regierung zu funktionieren: nämlich gar nicht.
Als nach dem Fall von Kundus die Gefangenen entwaffnet waren, erklärte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in Washington, es wäre "bedauerlich, wenn ihnen nun erlaubt würde, in ein anderes Land zu gehen und dort ähnliche terroristische Taten zu verüben." Er fügte hinzu: "Ich hoffe, dass sie entweder umkommen oder gefangen genommen werden." Bisweilen scheint das auch andersherum zu funktionieren.
Am Mittwoch, den 18.12.2002, zeigt die ARD um 21.55 Uhr den Dokumentarfilm: "Das Massaker in Afghanistan - Haben die Amerikaner zugesehen?"