Massaker im Norden Afghanistans

Interview mit John Heffernan von den "Ärzten für Menschenrechte", die bereits im Februar Grabungen an den Massengräbern durchgeführt haben

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Die Aufnahmen des renommierten irischen Dokumentarfilmers Jamie Doran haben internationale für viel Aufsehen gesorgt (Das Massaker, das nicht sein darf). Ein Trailer des kompletten Films war parallel in Brüssel und Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Die Aufnahmen und die dokumentierten Zeugenaussagen erhärten den Verdacht eines Massakers Ende November vergangenen Jahres in der Nähe der nordafghanischen Stadt Mazar-i-Sharif. Nun wollen engagierte Politiker im Europaparlament eine Kommission zusammenstellen, um die vermuteten Massengräber zu inspizieren.

John Heffernan ist Mitarbeiter der US-Menschenrechtsorganisation Ärzte für Menschenrechte. Er nahm an der ersten Testgrabung in einem mutmaßlichen Massengrab in der Nähe der Stadt Kundus im Norden des Landes teil.

Wann haben Sie die ersten Leichen gefunden?

John Heffernan: Im Januar dieses Jahres in unmittelbarer Nähe des Gefängnisortes Sherbergan in der nordafghanischen Wüste.

In einem ersten Bericht schreiben Sie über "mutmaßliche Massengräber". Wie viele Leichen vermuten Sie in der Region?

John Heffernan: Über die genaue Anzahl der dort verscharrten Toten kann ich keine Aussage treffen. Wir haben bislang im Rahmen von insgesamt drei Grabungen 15 Leichen obduziert. Schon im Januar haben wir aus verschiedenen Quellen, von Afghanen und von internationalen Kräften, Hinweise auf ein Massengrab zehn Kilometer außerhalb des Gefängnisses in Sherbergan anderthalb Autostunden westlich von Mazar-i-Sharif bekommen. Zur selben Zeit haben wir von anderen Leuten die Horrorgeschichten von Fall der Stadt Kundus gehört.

Die Horrorgeschichten, die der irische Dokumentarfilmers in seinem Streifen "Massaker in Mazar" aufgegriffen hat?

John Heffernan: Es war von Anfang an bekannt, dass beim Fall von Kundus bis zu 8000 Männer gefangengenommen wurden. Bekannt war auch, dass über 3000 von ihnen nach Sherbergan gebracht wurden, andere wurden in weitere Lager gebracht. Zugleich zeichnete sich aber ab, dass eine ungeheuer große Gruppe dieser Gefangenen plötzlich vom Erdboden verschwunden waren. Kurz vor unserer ersten Grabung im Januar erzählte uns ein Augenzeuge von LKW-Transporten in die Wüste und angeforderten Bulldozern. Und tatsächlich: Als wir an der Grabungsstelle ankamen, sahen wir frische Bulldozerspuren und Erdaufschüttungen. An dieser Stelle stießen wir auf die Leichen.

Was haben Ihre weiteren Forschungen ergeben?

John Heffernan: Schon bei der ersten Untersuchung sind wir auf menschliche Reste und Kleidung gestoßen. Im Februar untersuchte ein Anthropologe in unserem Auftrag die Fundstelle. Er bestätigte unsere Funde nicht nur, sondern gab auch das Alter der Reste mit nur wenigen Monaten an. Im Mai, erst vor einem Monat, fand die dritte Grabung unter UN-Aufsicht statt, dabei wurden die 15 Leichen untersucht. Die medizinische Obduktion von dreien ergab, dass diese Menschen erstickt waren. So, wie es beim Transport in einem Stahlcontainer in die Wüste geschehen kann.

Wie sollte mit dem Fall weiter umgegangen werden?

John Heffernan: Bislang haben wir nicht mehr Möglichkeiten zur Untersuchung gehabt. Die bis jetzt vorliegenden Ergebnisse sprechen eine klare Sprache, sind aber noch kein Beweis für ein Kriegsverbrechen. In Anbetracht der Ausdehnung der Areals aber könnten dort eine Menge Menschen verscharrt worden sein. Eben deswegen gilt es, die Gegend dringend von Zugriff zu schützen. Erst dann könnte man weitere Untersuchungen anstellen und zu einem abschließenden Ergebnis über die Ausmaße des Grabes kommen.

Wie haben die politischen Verantwortlichen in Afghanistan, von dem Präsidenten über UN bis hin zum ausländischen Militär auf Ihre ersten Berichte reagiert?

John Heffernan: Im März haben wir einen Bericht an Präsident Karsai geschickt und ihn um Aufklärung gebeten. Er war es schließlich auch, der unlängst die Einrichtung einer Wahrheitskommission angekündigt hat. Weil wir wissen, dass die afghanische Regierung kaum die Mitte haben wird, um das Areal zu sichern, haben wir ein ähnliches Schreiben an die britische und die US-Regierung gesandt. Es kam keine Antwort. Zu Beginn haben wir unseren Bericht nicht veröffentlicht, weil wir den Verantwortlichen eine Chance zum Handeln geben wollten. Erst als keine Reaktion kam, beschlossen wir, die Ergebnisse zu veröffentlichen.

Warum ist es so schwierig, Untersuchungen zu starten?

John Heffernan: Ein Problem sind natürlich die politischen Unwegsamkeiten und fehlende staatliche Strukturen. Ich halte es aber für äußerst wichtig, dass die Verbrechen des Krieges aufgedeckt werden. Solange das nicht geschieht und die dafür verantwortlichen so viel Macht haben, Aufklärung zu verhindern, wird Afghanistan nicht zur Ruhe kommen.

Der irische Dokumentarfilmer Jamie Doran meint mit seinen Aufnahmen aus der Region ein Massenmord an den in Kundus gefangengenommenen Taliban belegen zu können. Was meinen Sie?

John Heffernan: Ich habe den Film nicht gesehen, aber mit Herrn Doran gesprochen. Bislang sehen ich diese schweren Vorwürfe nicht als bewiesen an. Allerdings bestärken Dorans Vermutungen unsere Forderung nach einem sofortigen Schutz des Areals.