Vulkan-Files: Die nächste Enthüllung – mit Geschmäckle

Seite 2: Kritik: Fünf bedenkliche Punkte

Ob es sich bei den Vulkan-Files um eine Nachricht oder um eine "Geschichte" handelt, lässt sich selbstverständlich in einer kurzen Aufbereitung wie dieser nicht abschließend klären. Dass sich die Russische Föderation auf einen Cyber-Krieg kapriziert und dabei mit Fassaden-Unternehmen agiert, ist angesichts der internationalen Konkurrenz jedenfalls plausibel.

Allerdings bekommt das vielleicht allzu zweidimensionale Bild einer spannenden Enthüllung im Geiste von WikiLeaks, dessen Gründer noch immer im Namen der nationalen Sicherheit interniert ist, Risse – wenn man genau hinschaut.

1. Zuschreibungen und Spekulationen als Fakten

Der schottische Journalist und Menschenrechtsaktivist Craig Murray hat auf seinem Blog darauf aufmerksam gemacht, dass zumindest im Guardian die russische Einmischung in die Präsidentschaftswahlen von 2020 weiterhin als Faktum genannt wird, obwohl die Beweislage das Gegenteil nahelegt (NZZ). Das Narrativ vom "Russiagate" wird besonders von den US-Demokraten trotzdem weiterhin kolportiert.

Obwohl naheliegend – aber genau das kann schließlich auch eine gute Täuschung ausmachen – fällt die Ransomware NotPetya nur mutmaßlich (!) in den Verantwortungsbereich des russischen Geheimdienstes. Die Anschuldigungen stammen aus den USA. Gleiches gilt für die Anschuldigung, "Crazy Bear" sei mit dem SWR verzahnt. Die fehlende Distanzierung lässt an der journalistischen Neutralität zweifeln.

2. Denkwürdige Informationen

Angesichts von Daten und Fakten, die aus Zahlungsvorgängen und Verkehrsverstößen gewonnen wurden, stellt sich unwillkürlich die Frage nach der Bezugsquelle. Kommt hier nicht auch einzig und allein ein Geheimdienst in Betracht?

Und besteht dann nicht die Gefahr, dass sich die Presse zum Sprachrohr nationaler beziehungsweise bündnispolitischer Propaganda macht?

3. Möglicher Bias involvierter Akteure

Hannes Munzinger, der den direkten Kontakt zur anonymen Quelle hergestellt haben soll, recherchierte während seiner Zeit bei der SZ unter anderem über russische Geldwäschesysteme und schließlich auch gemeinsam mit dem Paper-Trail-Duo an den Panama-Papers.

Diese wurden 2016 von Bradley Birkenfield, dem laut CNBC "bedeutendsten Finanz-Whistleblower unserer Zeit" als mutmaßliche Aktion der CIA bezeichnet. Diese Ansicht teilte auch Julian Assange.

An den Recherche-Ergebnissen ändert das freilich nichts.

Gleiches gilt für Paper Trail Media und deren Zusammenarbeit mit dem Organized Crime an Corruption Project (OCCRP), das neben selbsterklärten Philanthropen wie Pierre Omidyar, dem Rockefeller Brothers Fund und George Soros auch vom German Marshall Fund und der US-Entwicklungsagentur USAID unterstützt wird – die wiederum einigen Medienberichten zufolge der CIA und der US-amerikanischen Regime-Change-Politik nahestehen.

OCCRP gilt außerdem als erklärter Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putins, den das Projekt 2014 als korruptesten Politiker der Welt auszeichnete – und in den folgenden Jahren auffällig viele erklärte US-Kontrahenten.

Beim Guardian-Autor Luke Harding liegt die Annahme einer Voreingenommenheit noch wesentlich näher. Harding ist mehrfach der Verbreitung von Propaganda für die sogenannte Five-Eyes-Community bezichtigt worden, unter anderem erst 2021 vom ehemaligen Rolling Stone-Redakteur und Twitter-Files-Autor Matt Taibbi.

Auch die New York Times erwähnte Harding 2021 in einem Stück, das von der gefährlichen Nähe zwischen Journalisten und Geheimdiensten handelte.

4. Bias befragter Experten

Mandiant, die Google-Tochterfirma, ist quasi im selben Bereich der IT-Sicherheit ("Superhacker") tätig wie das russische Unternehmen Vulkan. Google beziehungsweise Alphabet hat laut dem Lobby-Watchdog Tech Transparency Project die überwältigende Anzahl 258 sogenannter Drehtür-Besetzungen in der US-Regierung vorzuweisen.

Dazu zählen auch Jigsaw-Chef Jared Cohen und der ehemalige Google-CEO Eric Schmidt, die Julian Assange in seinem Buch "When Google Met WikiLeaks" 2014 als "google’s director of regime change" respektive "google’s foreign minister" betitelte.

5. Intransparente Darstellung und unausgewogene Berichterstattung

Im Spiegel-Artikel findet sich folgende Passage:

Dem Westen traue Putin nicht, sagt ein Geheimdienstler, dem eigenen Volk aber vielleicht noch weniger. Deshalb sollen Putins Dienste heute möglichst alles wissen, sammeln, speichern, egal ob die Information gerade gebraucht wird oder nicht.

Spiegel

Die Passage ist angesichts der Massenüberwachung durch die NSA, die der im russischen Exil lebende Edward Snowden 2013 öffentlich gemacht hat, bemerkenswert. Auch die Vorratsdatenspeicherung und andere Formen anlassloser Massenüberwachung werden bei weitem nicht nur in Russland praktiziert oder angestrebt. Derlei Einordnungen fehlen vollständig.

Auf den Missstand, dass (vermeintlich) geleakte Dokumente nicht vollständig veröffentlicht und nur fragmentarisch zitiert werden, hatte Telepolis zuletzt auch im Falle der vermeintlichen Moldau-Annexion aufmerksam gemacht.

Wie Craig Murray bemerkt, kommen auch die Artikel von Spiegel und Guardian ohne zusammenhängende Passagen oder Abbilder der Dokumente aus.

Lediglich die WaPo veröffentlichte eine einzelne Seite eines Dokuments.

Darüber hinaus benennt Murray einige Punkte, die sein Argument einer einseitigen Darstellung untermauern sollen:

- Weniger als 2 Prozent der Artikel bestehen aus direkten Zitaten aus den angeblich durchgesickerten Dokumenten.
- Weniger als 10 Prozent der Artikel bestehen aus einer angeblichen Beschreibung des Inhalts der Dokumente.
- Über 15 Prozent der Artikel bestehen aus Kommentaren westlicher Sicherheitsdienste und der Cyber-Kriegsführungsindustrie.
- Über 40 Prozent der Artikel bestehen aus Beschreibungen angeblicher russischer Hacking-Aktivitäten, von denen nichts in den tatsächlichen Vulkan-Leaks erwähnt wird.

Craig Murray

Ob diese Angaben genau so stimmen oder (wohl eher) auf einer Schätzung beruhen, ist unerheblich im Hinblick auf den ersten Eindruck, den sie bestätigen. Er wird durch die reißerische, bemüht szenische Erzählweise verstärkt: Hier wird ein "Scoop" erzählt. Aber ist es auch wirklich einer?