Wachgeküsst: Die FAZ entdeckt die Neuen Medien
Eine Bemerkung zu Frank Schirrmachers europäischer Nachhilfestunde
"Europa schläft", untertitelt Frank Schirrmacher seinen Artikel im Feuilleton der FAZ (23. Mai 2000), mit dem er eine Serie zur "dritten Kultur" einleitet, die Europa eine "Nachschulung" erteilen will, um uns Schlafmützen auf den Stand der Dinge zu bringen. Gentechnik, Nanotechnologie, Bioinformatik, Artificial Intelligence, das alles hätten wir - verstrickt in überflüssige Debatten um europäisches Denken - verschlafen.
Während in den USA "junge" Leute wie Craig Venter, Daniel Hillis, Nathan Myhrvold, Marvin Minsky oder Ray Kurzweil Technologien entwickeln, die unsere Zukunft bestimmen, und dafür schon gegenwärtig Millionen und Milliarden kassieren, blieben Europas Intellektuelle (und ihre Zeitungen) verstrickt in "die Software von Ich-Krisen und Ich-Verlusten, von Verzweiflung und abendländischer Melancholie". Die von den Geisteswissenschaften verzauberten Prinzen sollen nun endlich von der FAZ wachgeküßt werden, damit sie ausziehen in die Welt der Gene, Meme und Codes, um Patente anzumelden und endlich einmal Geld zu verdienen, statt immer dem Staat auf der Tasche zu liegen.
Das wirklich Erstaunliche an diesem Text, der eine Debatte initialisieren soll, die uns Alteuropäer endlich wieder gestatten soll, "an dem Code, der hier [in den USA. NW] geschrieben wird, mitzuschreiben", ist weniger der Wechsel Schirrmachers von den belles lettres zur Unternehmensphilosophie der New Economy, sondern die Chuzpe, mit der er behauptet, er verkünde Europa eine neue Botschaft. "Die Nachschulung", lautet der Titel des offenbar in NEW YORK eingegebenen und verfassten Evangeliums. "Europa schläft", einsam wacht der Mitherausgeber der FAZ - so scheint Schirrmacher seine und unsere Lage zu beurteilen.
Es ist beinahe überflüssig an diesem Ort Belege dafür zu liefern, dass Schirrmachers Aufmacher allein eines belegt: dass nämlich die FAZ Anschluss an die von ihr verschlafenen Debatten der letzen Jahre sucht und ihre Verspätung damit entschuldigt, dass ja ganz Europa in tiefen Schlummer lag. Denn die Namen und Debatten, die Schirrmacher nennt, sind doch wohl nicht nur in der Telepolis alles alte Bekannte resp. Hüte; selbst die Gutenberg-Galaxis wurde in den letzten Jahren geradezu überflutet mit Berichten aus Cyberdelia, man denke nur an Gundolf S. Freyermuths Cyberland (Rowohlt Berlin 1996) oder Mark Dery's Cyber (Volk & Welt 1996). Man hätte auch einmal die ars electronica besuchen oder die Jahresberichte von Biotech-Firmen lesen können, um zu bemerken, dass die Diskussion längst über den Stand des Staunens über die kecken Visionen der kalifornischen Virtual Class hinaus ist.
Die Semantik des Cyber-Bio-KI-Nano-Mem-Gen-Jargons, den Schirrmacher in den letzten Wochen unter berufener Anleitung (etwa Craig Venters) erlernt hat, wird seit langem kulturwissenschaftlich, soziologisch oder medientheoretisch analysiert und verortet. Die "Nachschulung", die Schirrmacher verordnet, hat jedenfalls "Europa" kaum nötig, einige Europäer dagegen schon. Diese Derrièregarde kann nun mit ihrem Nachhilfelehrer Schirrmacher zusammen aufschließen.