Wagt Putin noch einen Tabubruch?
Während Moskau über einen Friedensvertrag mit Tokio verhandelt, ist die Mehrheit der russischen Bevölkerung gegen eine mögliche Abtretung von Südkurilen-Inseln an Japan
24 Mal haben sich Wladimir Putin und der japanische Ministerpräsidenten Shinzō Abe schon getroffen. Am Dienstag war es das 25te Mal. Auf dem dreistündigen Treffen im Kreml ging es um internationale und bilaterale Fragen sowie um einen Friedensvertrag zwischen beiden Ländern, den der japanische Ministerpräsident zügig unter Dach und Fach bringen will.
Wladimir Putin hat sich auf diese Verhandlungen eingelassen. Das Verhältnis zu Japan ist dem russischen Präsidenten enorm wichtig. Zum einen ist Japan ein wichtiger Wirtschaftspartner. Das Handelsvolumen zwischen beiden Ländern liegt bei knapp 20 Milliarden Dollar. Putin will es auf 30 Milliarden Dollar erhöhen. Zum anderen ist das Verhältnis zu Japan entspannter als zu vielen anderen westlichen Staaten, obwohl Japan die antirussischen Sanktionen des Westens mitträgt.
Gegen die Rückgabe von vier Südkurilen-Inseln - Iturup, Kunaschir, Schikotan und Chabomai -, die Japan seit Jahrzehnten fordert, sind nach Meinungsumfragen 80 bis 90 Prozent der russischen Bevölkerung. Das Thema ist äußerst umstritten und jeder Politiker, der in dieser Frage Zugeständnisse macht, wird in der Gunst der Bevölkerung fallen.
Weil die Gerüchte um mögliche Zugeständnisse Russlands an Japan in den letzten Wochen wucherten, hatte der russische Außenminister Sergej Lawrow am 11. Januar die Reißleine gezogen. Er erklärte, zunächst müsse Japan die Südkurilen als russisches Territorium anerkennen. Dann könne man weitersehen.
Die Flexibilität, mit der einige liberale russische Politologen mit dem Thema Kurilen umgehen, stößt in der Bevölkerung auf keinerlei Verständnis. Immerhin hat Russland die Südkurilen nicht von Japan geraubt. Die Besetzung der Südkurilen durch die sowjetische Armee im August 1945 - also gegen Ende des Zweiten Weltkrieges - war die Antwort auf einen Krieg gegen die Sowjetunion, an dem sich Japan beteiligt hatte. Am 2. September unterschrieb Japan die bedingungslose Kapitulation.
Sollte sich Putin auf die von Japan geforderte Rückgabe von Südkurilen-Inseln einlassen, könnte er tief fallen, wie weit, zeigt das Schicksal von Michail Gorbatschow, der, ohne Gegenleistung des Westens, hunderttausende Soldaten und Militärgerät aus Osteuropa abzog. Die Präsidenten Michail Gorbatschow und Boris Jelzin gelten bei den meisten Russen heute als Totengräber eines großen Landes. Wladimir Putin hat sich mit seiner Zustimmung zur Erhöhung des Renteneintrittsalters schon viel Sympathie verspielt. Wird er auch noch so weit gehen, Japan eine oder zwei Inseln zu übergeben?
Langsames Herantasten an einen Kompromiss?
Zur Enttäuschung der Journalisten sagten Putin und Abe während des Presse-Briefing nach Abschluss der Gespräche zum Friedensvertrag fast nichts Neues. Der russische Präsident erklärte, dass für einen Friedensvertrag noch "lange und gründliche Arbeit" nötig sei. Die Entscheidung, welche die Unterhändler vorbereiten, müsse so aussehen, dass sie "von der Mehrheit der Menschen in Russland und Japan annehmbar und von der öffentlichen Meinung unterstützt wird".
Der russische Präsident gab bekannt, dass Russland und Japan die Südkurilen gemeinsam bewirtschaften wollen. Das gemeinsame Wirtschaften ist auf den Gebieten Fischzucht, Windenergie, Tourismus und Müllbeseitigung geplant. Nach Meinung des Autors dieser Zeilen ist vorstellbar, dass die Menschen in beiden Ländern mit dem gemeinsamen Wirtschaften auf den Südkurilen auf einen Kompromiss in der Territorialfrage eingestimmt werden sollen.
Ursprünglich forderte Japan die Rückgabe von vier Inseln der Südkurilen. Vor dem Treffen am Dienstag meldeten japanische Medien, Premier Abe werde nur ein bis zwei Inseln fordern. Alles andere sei "unrealistisch".
Der japanische Premier erklärte nach den Gesprächen mit Putin, in der Frage der Südkurilen werde man - und das war neu - auf Grundlage der japanisch-sowjetischen Deklaration von 1956 verhandeln. Die Deklaration ebnete damals den Weg für die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern und sah die Übergabe der Inseln Chabomai und Schikotan an Japan vor. Weiter gab der japanische Premier bekannt, dass die nächste Verhandlungsrunde zum Friedensvertrag im Februar in München stattfinden wird.
Ob die Bevölkerung in Japan einen Kompromiss akzeptieren wird, ist eher zweifelhaft. In Japan hat die Rückgabe von vier Inseln Priorität gegenüber einem Friedensvertrag.
Russland baute neue Militäranlagen auf den Südkurilen
Für Russland wird in den Verhandlungen um die Inseln wichtig sein, ob Japan garantieren kann, dass dort nach einer Rückgabe von Inseln keine amerikanischen Militärbasen eingerichtet werden. Das wird Japan aber nur schwer garantieren können.
Das russische Verteidigungsministerium geht auf Nummer sicher. Wie die Zeitung Moskowski Komsomolez berichtete, hat das russische Verteidigungsministerium im letzten Jahr eine Beobachtungsstelle für maritime Ziele vom Typ Mys-1 und eine Schall-Ortung eingerichtet, mit deren Hilfe Objekte unter und über Wasser sowie in der Luft geortet werden können.
Beispiellose Gerüchteküche
In den letzten Monaten hatte es - sehr zum Ärger der mit Außenpolitik befassten russischen Beamten - zahlreiche Information in den Medien gegeben, nach denen Russland zu der Rückgabe von Kurilen-Inseln bereit ist. Diese Meldungen seien von japanischen Medien gestreut worden, meinten russische Medien. Die russischen Außenpolitiker fühlten sich durch diese Meldungen unter Druck gesetzt, wurde berichtet.
Einen Schlusspunkt zu den Spekulationen über die angebliche russische Kompromissbereitschaft setzte der russische Außenminister Sergej Lawrow am 11. Januar bei einer Pressekonferenz für ausländische Journalisten. Lawrow erklärte, Grundlage von Verhandlungen sei, dass Japan die Südkurilen als russisches Territorium anerkennt.
Der russische Fernsehkanal NTV stellte am Dienstag klar, dass nicht Russland, sondern der japanische Ministerpräsident Abe die treibende Kraft für einen Friedensvertrag ist. Abe habe am Grab seinen Vaters versprochen, diesen Vertrag endlich zu realisieren.
Wirtschaftspartner Russland-Japan
Über das Motiv, warum sich die russische Seite auf Verhandlungen über einen Friedensvertrag einlässt, obwohl Japan an den antirussischen Sanktionen beteiligt ist, gibt es in russischen Medien nur Spekulationen. Eine These lautete, dass Russland sich von einem Friedensvertrag den Zugang zu Krediten von ostasiatischen Banken und das Aufbrechen der Isolation im Westen verspreche.
Der japanische Ministerpräsident hatte in einem Interview mit dem Moskauer "Kommersant" darauf hingewiesen, dass es zwischen Russland und Japan bereits zahlreiche erfolgreiche Technologieprojekte im Bereich der Gesundheitsversorgung, der Verkehrslenkung und der Produktion von Flüssiggas gibt. "Die vereinigte Kraft Russlands mit den Technologien und der Erfahrung von Japan können beiden Seiten große Früchte bringen", erklärte der japanische Premier.
Auf dem Presse-Briefing nach Abschluss der Gespräche im Kreml lobte Wladimir Putin die Erfolge der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Das Handelsvolumen sei von Januar bis November letzten Jahres um 18 Prozent auf fast zwanzig Milliarden Dollar gestiegen. Japanische Unternehmen seien am Bau mehrerer russischer Flüssiggas-Anlagen beteiligt. Eine "qualitative Verbesserung" der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gäbe es bisher aber nicht.
Protestkundgebungen in Russland
Überall in Russland gab es am vergangenen Wochenende kleine Protestaktionen gegen die Rückgabe von Kurilen-Inseln. In Moskau kamen am vergangenen Sonntag 2.000 Menschen zu einem Protestmeeting (Video der Kundgebung) unter der Losung: "Unsere Kurilen geben wir nicht her!"
Auf dem Platz wehten vor allem rote Fahnen der "Linken Front", aber auch die schwarz-weiß-gelben Fahnen der russischen Monarchisten. Auf der Tribüne sprachen Vertreter kleiner linker Organisationen sowie Patrioten und Monarchisten. Die drei Oppositionsparteien in der Duma - KPRF, Gerechtes Russland und Liberaldemokraten - hatten nicht zu der Moskauer Kundgebung aufgerufen. Die KPRF führte aber Kundgebungen in der russischen Provinz durch.
Maksim Kalaschnikow, Vertreter der "Partei der Sache" erklärte auf der Moskauer Kundgebung, schon Gorbatschow sei "im Ausland herumgefahren" und habe dort das Vaterland "verkauft". Ob man das wieder wolle? Warum schweige Putin, während der japanische Ministerpräsident von der Übergabe der Inseln redet? Mit russischer Erde dürfe man "nicht handeln".
Der linke Journalist Konstantin Sjomin fragte, warum man gerade jetzt mit einem Land einen Friedensvertrag schließen soll, welches seine Armee wiederaufbaut, 150 F35-Kampfflugzeuge von den USA erwerben und Systeme der US-Raketenabwehr auf seinem Territorium zulassen will.
Erzpriester Wsjewolod Tschaplin, von 2009 bis 2015 Sprecher der russisch-orthodoxen Kirche in Moskau, erklärte, "Markt-Fundamentalisten" wollten russische Erde "einfach verkaufen". Russland dürfe sich keinen westlich geprägten Kapitalismus aufzwingen lassen.