Wahlstreet.de - die erste deutsche Börse im Web

Von denen, die denken, daß die anderen denken, was sie denken

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Ganz weit vorne ist eine Site, die von Redakteuren der Zeit, des Tagesspiegels und von einem Provider in Oldenburg betrieben wird. Die Wahlstreet hat das Zeug zum ernstzunehmenden Umfragetool. Denn das ist die eigentliche Idee der Site: Eine Börse, die mehr über die Chancen von Parteien aussagt als die schönste Umfrage. Die Börse startet im Hinblick auf den Urnengang in Sachsen-Anhalt.

Eher zufällig steht man bei der Besichtigung des Magdeburger Doms vor den Lokalitäten der Landesregierung von Sachsen-Anhalt. Und auch sonst spielt dieses Bundesland mit der höchsten Arbeitslosenquote der Republik nur dann eine Rolle im öffentlichen Bewußtsein, wenn in ihm gewählt wird. Professionelle Kassandren haben hier 1994 einen beginnenden Siegeszug der PDS in Ostdeutschland vorhergesehen und dem amtierenden Ministerpräsidenten keine volle Amtszeit vorhergesagt, was beides nicht eintrat.

Wer sich selbst als Augur versuchen will, dabei aber nicht auf die Umfrage-Ergebnisse der betreffenden Region vertraut, kann seit dem 28. 3. seine eigenen Aktienoptionen ins Rennen schicken. Aktien, die auf den Wert des betreffenden Kandidaten gekauft werden können. Die Wahlstreet ist die erste Börse im deutschen Web, die Hausse und Baisse auch für politische Themen ermöglicht. Und das kann erst ein Anfang sein.

Initiiert wurde diese spitzbübische Umkehrung der klassischen Wahlumfrage von mehreren nicht ganz Unbekannten: Christian Ankowitsch (Die Zeit), Klemens Polatschek (Tagesspiegel) und Frank Simon (Ecce Terram). Entwickelt hat dieses System 1988 aber die University of Iowa (College of Business Administration), und mitbetreut wird es durch Gerhard Ortner von der Technischen Universität Wien (Abteilung für industrielle Betriebswirtschaftslehre).

Ihre Idee entspringt dem täglichen Umgang mit dem Web und ist bestechend einfach:

Man eröffne eine Börsen-Site, die jedem nach einer Anmeldeprozedur das Mithandeln erlaubt. Lasse dann den/die Betreffende(n) ein geringes Kapital (in der Testphase: 10,- DM) einsetzen und nach Herzenslust damit die Aktien einer Partei erwerben, handeln, abstoßen. Es ist dabei vollkommen egal, ob ein Käufer an den Erfolg der Gruppierung glaubt oder nicht. Der Selbstregulierungsprozeß dieser offenen Börse ist einfach: Sollte jemand daran interessiert sein, schlecht stehende Aktien eines eher schwachen Kandidaten zu erwerben, muß er den möglichen Verlust schon mit sich selbst aushandeln. Testläufe in Iowa zeigen allerdings, daß selten mehr als 10 Prozent des Einsatzes verloren gingen. Aber viel zu gewinnen ist auch nicht: Bei der Auszahlung nach der Wahl erhält man für jeden Prozentpunkt der Aktie einen Pfennig wieder.

Es handelt sich um ein ernsthaftes politisches Prognoseinstrument - und doch zugleich um ein Spiel.

Die Idee der Wahlstreet ist eine andere Form der Umfrage. Sozusagen die der Umfrage mit Selbstbeteiligung. Es wird durch die Selbstregulierungskräfte einer Börse ein Prognose-Instrument erzeugt, das durch das Kaufverhalten mehr über die bevorstehende Abstimmung sagen kann als es eine - weitaus teurere - Wählerumfrage vermögen könnte. Ein erster Testlauf zur Landtagswahl in Niedersachsen, die in der Testphase noch nicht "live" geschaltet werden konnte, hat dabei scheinbar ermutigend genaue Zahlen schon vorab geliefert. Das dürfte die Budget-Verantwortlichen für die so gerne zitierten Vorabendumfragen sicher interessieren. Zwar sei bei den Voraussagen noch die eine oder andere Ungenauigkeit aufgetreten, aber bei 30 Versuchspersonen entstehen solche Abweichungen schnell.

Hier lohnt es sich, einzuhaken.

Der Wahlstreet kann eigentlich nur eines gewünscht werden: Daß sie entweder unbekannt bleibt oder erfolgreich wird. Dann funktioniert sie als Vorschau-Tool hervorragend. Sollte sie den Geheimtipp als Status zugunsten eines Medienevents verlieren, aber ein gewisses Ausmaß noch nicht erreicht haben, wäre es denkbar, daß der ein oder andere Teilnehmer nicht mehr nur an der Wahrheit interessiert ist. Billiger könnte die Manipulation eines Mediums kaum durchzuführen sein, da sich eine Pressemeldung mit Beleg aus dem Stand der Wahlstreet machen ließe, die durch gezielte Ankäufe einen Kandidaten alt aussehen lassen könnte.

Wohlgemerkt: Könnte.

Denn diese Gefahr verringert sich mit einem größeren Kaufstamm sehr schnell und immer weiter, da es, auch das zeigen die Erfahrungen von Iowa, immer schwieriger und irgendwann sogar für PR-Stäbe unmöglich wird, dieses virulente Feld an Käufern zu beobachten, zu beeinflussen und damit in ihren Käufen umzupolen. Hier wäre es wahrscheinlich einfacher, Allensbach oder INFAS zu bestechen (vorausgesetzt, auch nur ein einziger der dortigen Projektverantwortlichen ließe sich auf solche Mafia-Methoden ein!).

Edel sei der Mensch und weise. Und noch ist die Börse mit derzeit 60 Mitbietern klein genug, um seltsame Transfer-Geschäfte zu erkennen.

Interessant bleibt aber hier der "Börsengang" vor allem dann, wenn im Vergleich mit den tatsächlichen Wahlergebnissen ein Bezug zur Realität hergestellt werden kann. Wie in Das Internet, das Glücksspiel und die Wirtschaft gezeigt, müssen virtuelle Börsen immer noch eine Anbindung an die nicht-digitale Welt besitzen, um Glaubwürdigkeit zu erreichen.

Am 26. 4. ist die Wahlstreet auf dem besten Weg dazu. Dann werden eine ganze Menge an Menschen wieder nach Magdeburg schauen und es sowieso schon gewußt haben, wohin das politische Ruder in Deutschland steuert.