Warlords, Stammesfürsten und Fundamentalisten sind trotz Wahlen weiterhin an der macht
Ein Gespräch einer Vertreterin der Frauenorganisation RAWA über die Lage der Frauen und die politische Situation im Afghanistan nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses
Wahlbetrug, Unstimmigkeiten und Anschläge auf Kandidaten und Wahlhelfer: Die Wahlen in Afghanistan für das Parlament und die Räte der 34 Provinzen am 18. September 2005 wurden von einem Klima der Angst und Einschüchterung überschattet (Wahlen am Hindukusch - Taliban rüsten auf). Sieben Kandidatinnen und Kandidaten wurden im Vorfeld ermordet, viele gewählte Parlamentarier nach den Wahlen bedroht. Die Auszählung der Stimmen verzögerte sich durch den Vorwurf der Wahlmanipulation, erst zwei Monate nach dem Urnengang wurde das amtliche Endergebnis verkündet. Mehr als die Hälfte der ins Parlament Gewählten sind Warlords und ehemalige Mudschaheddin, die im Namen der „nationalen Versöhnung“ nicht von den Kandidatenlisten gestrichen worden waren. Sogar einige Taliban schafften den Sprung ins Parlament.
Nicht überrascht, aber sichtlich enttäuscht vom Wahlausgang zeigte sich die Frauenorganisation RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan). Sie arbeitet seit 1977 in Afghanistan – im Untergrund. Die militärische Invasion in Afghanistan, gerne mit der Befreiung der unterdrückten Frauen gerechtfertigt, hat daran nichts geändert: Noch immer können die RAWA-Frauen in Afghanistan nicht offen auftreten, ihre sozialen und politischen Projekte nicht unter ihrem Namen durchführen. RAWA unterrichtet Frauen und Mädchen, unterstützt Waisen und Prostituierte, hat ein Krankenhaus in Pakistan. Ebenso aktiv ist die feministische Organisation in der politischen Bildungsarbeit und mischt sich ein in öffentliche Debatten. Dafür werden die RAWA-Aktivistinnen angefeindet und bedroht. Auch Sohaila ist der Deckname einer Frau, die sich für RAWA engagiert. Mit Sohaila sprach Maike Dimar.
Am 12. November gab die Wahlkommission in Afghanistan das Endergebnis der Parlamentswahlen vom 18. September bekannt. Internationale Beobachter priesen die Wahlen als wichtigen Schritt hin zu Frieden nach vielen Jahren von Krieg und fundamentalistischer Herrschaft. Sieht RAWA das genauso?
Sohaila: Es gab jetzt zum ersten Mal wieder Wahlen für ein neues Parlament und alle hatten die Hoffnung, dass wir damit ein demokratisches Parlament bekommen und nach den Wahlen Veränderungen stattfinden würden, die gut wären für die Bevölkerung. Aber es gab natürlich auch Zweifel, denn wir hatten die Erfahrung mit der Zeit nach den Präsidentenwahlen vom Oktober 2004 und wir sahen das Ergebnis, das nicht akzeptabel war. Nun, bei diesen Wahlen, war das Ergebnis das gleiche: Fast alle Kandidaten waren von fundamentalistischen Gruppierungen, Leute, die in der Vergangenheit viele Verbrechen begangen haben, sind nun an der Macht. Sie haben die meisten Sitze errungen. Das war keine richtige demokratische Wahl. Es gab Betrug, es gab sehr viele Schwierigkeiten.
Bei den Parlamentswahlen durften keine Parteien antreten, es war ein reiner Personenwahlkampf. Auch deshalb waren erste Reaktionen auf die gewählten Parlamentarier von Ratlosigkeit geprägt. Doch klar ist: Viele von ihnen sind Warlords, Stammesfürsten und Fundamentalisten. Wie beurteilen Sie die gewählten Parlamentarier?
Sohaila: Die siegreichen Kandidaten haben natürlich ihr Gesicht verändert. Früher hatten sie lange Bärte, jetzt sehen sie anders aus, aber sie haben immer noch die gleiche konservative Mentalität. Sie sagen zwar, wir wollen Demokratie, wir arbeiten für die Bevölkerung, wir wollen Frauenrechte usw. Aber wir kennen deren tatsächliches Gesicht, wir haben Erfahrung mit ihnen, gerade mit denen in Kabul. Natürlich geben sie sich für die Weltöffentlichkeit friedensliebend und als demokratische Persönlichkeiten. Aber die Bevölkerung kennt ihre wahre Mentalität sehr gut, sie hat viel unter den Warlords gelitten, die nun im Parlament und an der Macht sitzen.
Zu viele Fundamentalisten an den Schalthebeln der Macht
Was erwarten Sie: Wie werden die Mehrheiten im Parlament sein, welche Positionen werden sich im Parlament durchsetzen?
Sohaila: Wir haben nun viele Warlords im Parlament und die denken in erster Linie an sich selbst, nicht an die Bevölkerung. Sie werden nichts tun für die Verbesserung der Regierung, für Afghanistan und deren Bevölkerung. Aus der Vergangenheit wissen wir: Warlords, die nun zum Beispiel als Minister an der Macht sind, stecken viel in die eigene Tasche. In den drei Jahren der jetzigen Regierung sehen wir keinen Wandel, keine Verbesserungen. Natürlich kann man sagen, dass es viele Hindernisse, viele Unwägbarkeiten gab. Aber von wem kamen sie? Sie kamen von den Ministern, von den Leuten, die an der Macht sind, wie Sayyaf oder Fahim. Sie haben uns betrogen, denn bis jetzt kamen keine demokratischen Maßnahmen von der Regierung. Sie akzeptieren keine demokratischen Individuen. In der Provinz wurden demokratische Kandidaten bedroht, es hieß sie würden umgebracht, wenn sie gewinnen würden. Auch deshalb hatten sie in diesen Gegenden so wenig Erfolg bei den Wahlen. Mehrere siegreiche Kandidaten wurden bedroht, einer umgebracht. Deswegen haben wir keine Hoffnung auf eine Verbesserung in der Regierung oder der Situation in Afghanistan.
Aber immerhin war ein Viertel der Sitze des Parlaments für Frauen reserviert. Knüpfen Sie daran Hoffnungen?
Sohaila: Natürlich ist es eine positive Neuerung, dass bei diesen Wahlen auch Frauen gewählt wurden und nun in der Politik sind. Aber das ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist: Was können sie tun? Können sie überhaupt etwas ausrichten, haben sie überhaupt Macht? Schön, wir haben jetzt einige Frauen in der Regierung, im Parlament. Aber diejenigen, die an der Macht sind, behindern sie und halten sie davon ab, Verbesserungen umzusetzen. Es sind so viele Fundamentalisten an den Schalthebeln der Macht, dass ich nicht glaube, dass die gewählten Frauen etwas ausrichten können.
Auf dem Land können die Warlords machen, was sie wollen
Wie beurteilen Sie die Situation für Frauen in Afghanistan heute, 4 Jahre nach dem militärischen Einmarsch und dem Sturz des Taliban-Regimes?
Sohaila: Wir wissen mittlerweile alle, wie die Situation für Frauen während des Taliban-Regimes war und wie sie wie Gefangene behandelt wurden. Nach dem Sturz der Taliban gab es ein paar Verbesserungen, zumindest für die Frauen in den großen Städten. Sie sind ein bisschen freier, sie können viel eher studieren, zur Uni gehen oder einer Arbeit nachgehen. Aber das ist nicht genug, denn wir sehen diese Verbesserungen nicht auf dem Land, in den Dörfern. Dort hat sich nicht viel geändert. Außerdem gibt es dort sehr viele Entführungen, Vergewaltigungen, Morde an Frauen. Es gibt sehr viele Selbstmorde gerade junger Frauen angesichts ihrer schlechten Situation. Ihnen wird nicht erlaubt auszugehen, alleine das Haus zu verlassen, zu studieren oder arbeiten zu gehen. Bei manchen ist es wegen der Familie, bei anderen wegen der Fundamentalisten, die ihre Region regieren und die weiter frauenfeindliche Dekrete erlassen. Die Frauen können nichts dagegen tun, ihre Lebenssituation nicht verändern und begehen deshalb Selbstmord.
Auch werden viele Frauen ermordet. Vielleicht haben Sie davon gehört, dass Anfang November die Lyrikerin Nadia Anjuman von ihrem Ehemann getötet wurde. Und es gibt so viele Beispiele dafür, dass Frauen von Männern aus ihrer Familie umgebracht werden, oder auch, dass die Machthabenden den Befehl dazu geben, Frauen zu ermorden. Und die Regierung tut nichts dagegen, nichts für die Rechte der Frauen, die immerhin 50 % der Bevölkerung darstellen. Es gibt so viel Armut unter den Frauen. Sie haben keinen Zugang zur Bildung, viele können ihre Kinder nicht ernähren. Frauen sind diejenigen, die am meisten leiden, immer noch, selbst in diesem „befreiten“ Afghanistan.
Was ist das Hauptproblem für die nach wie vor schlechten Lebensbedingungen für Frauen? Ist es die Regierung, ist es eine im Denken der Männer verwurzelte Überzeugung von der Minderwertigkeit der Frau, sind es die fundamentalistischen Strömungen?
Sohaila: Am schwerwiegendsten ist, dass fundamentalistische Gruppierungen weiterhin viel Macht besitzen. In einigen Orten sind sogar Taliban an der Regierung. Ebenso Mudschaheddin-Gruppen, die von 1992 bis 1996 an der Macht waren. Die Zentralregierung reicht oft nicht bis in diese Regionen, regiert in vielen Provinzen nicht. Diese Gruppen haben ihre eigene Regierung in diesen Provinzen und sie können machen, was sie wollen. In diesen Gegenden gibt es sehr viele Entführungen von Frauen. Und es gibt niemand, der etwas dagegen unternimmt, der die Verbrecher vor Gericht stellt. Deshalb machen sie immer weiter. Und natürlich sind Frauen die meisten Opfer solcher Gruppierungen.
Die RAWA hat noch immer viele Feinde in Afghanistan, auch in der afghanischen Regierung
Hat Ihre Organisation überlegt, an den Wahlen teilzunehmen und eigene Kandidatinnen aufzustellen?
Sohaila: RAWA ist in Afghanistan nicht als Organisation registriert, weil sie dort nicht legal ist. Aber wir wollten und wir hatten Kandidatinnen bei den Wahlen, aber nicht im Namen von RAWA. Wir unterstützten einige Kandidatinnen und manche von ihnen wurden gewählt, aber nur sehr wenige. Aber wir hoffen, dass diese Kandidatinnen zumindest ein bisschen etwas in Opposition zur Regierung ausrichten können.
Wie steht es im Moment um Ihre Organisation in Afghanistan? RAWA arbeitet dort ja nach wie vor im Untergrund ...
Sohaila: In Afghanistan sind wir immer noch klandestin. Wir haben dort natürlich Projekte, Schulen, soziale Einrichtungen, aber nicht unter dem Namen von RAWA. Denn die afghanische Regierung ist gegen RAWA, sie kennen uns sehr gut. Und RAWA ist gegen die Regierung. Deshalb müssen wir sehr vorsichtig sein. Wir haben in Afghanistan sehr viele Feinde, gerade natürlich unter den Fundamentalisten, können deshalb nicht frei und offen und nicht unter dem Namen von RAWA arbeiten. Aber wir organisierten letztes Jahr eine Demonstration zum 8. März in Afghanistan, wir haben viele Projekte in vielen Provinzen Afghanistans, wir sind mitten in der Bevölkerung und arbeiten dort.
Welche Maßnahmen wären sinnvoll und wichtig, um die Rechte von Frauen in Afghanistan zu verbessern?
Sohaila: Zuallererst wäre es wichtig, alle fundamentalistischen Gruppen zu entwaffnen. Denn sie sind die Grundwurzel allen Übels für die schlechte Situation der Frauen in Afghanistan. Wenn die Warlords verfolgt, entwaffnet und bestraft würden, gäbe es eine Hoffnung für die Rechte der Frauen. Aber solange die Warlords und fundamentalistischen Gruppierungen an der Macht bleiben, denke ich nicht, dass es Verbesserungen für Frauen gibt. Sie arbeiten dagegen, sie verhindern dies. Aber wir brauchen auch mehr Unterstützung von der Regierung. Präsident Hamid Karsai muss etwas tun, er muss verhindern, dass Warlords und fundamentalistische Gruppen in der Regierung sitzen. Aber das tut er nicht, vielmehr akzeptiert er sie und sogar auch die Taliban. Ich denke nicht, dass es in der nahen Zukunft wesentliche Verbesserungen für Frauen in Afghanistan gibt.