Warten auf den Anpfiff
Sicherheitsprobleme bei der Fußballweltmeisterschaft am Beispiel Berlin
Die Bundesregierung zählt auf ihrer offiziellen Website zur Weltmeisterschaft sogar die Minuten und Sekunden bis zum Beginn der Fußballweltmeisterschaft. Wenn sich die Regierung nicht verrechnet hat, sind es am 28. Februar noch 100 Tage bis zum Anpfiff. Vom 7. Juni bis 9. Juli 2006 werden 32 Nationalmannschaften in 64 Spielen den World Cup-Gewinner unter sich ausmachen. 3,2 Millionen Besucher werden erwartet; gleichzeitig verfolgen weltweit rund 3 Milliarden Fernsehzuschauer die Begegnungen an den Bildschirmen.
Seit Monaten wiegen sich die Vertreter der deutschen Sicherheitsbehörden in nervösen Getue, als wollten sie damit den Umfang ihrer Sicherheitsbemühungen zur Schau stellen. Anlass zur Sorge gibt schon die fast fünfwöchige Dauer des Turniers. In einem Durchschnittsmonat ereignen sich allein in Berlin 720 Brände und 10.375 registrierte Verkehrsunfälle, die Rettungsdienste müssen 18.580 Notfalltransporte durchführen. Neben dem verstärkten Touristenstrom rechnet man mit weiteren Gefahren, die von der Weltmeisterschaft ausgehen: Das Spektrum reicht von einstürzenden Videogroßbildschirmen und Hooligans bis hin zu einem Terroranschlag mit ABC-Kampfstoffen.
Zwar ist solch ein Angriff so unwahrscheinlich wie der Einzug der deutschen Nationalmannschaft ins Endspiel, aber völlig ausschließen kann man dies nicht, schließlich wurde sogar Griechenland Europameister, obwohl kein Fußballexperte damit gerechnet hatte. Die Terrorexperten verweisen darauf, dass die Weltmeisterschaft die denkbar größte Bühne für weltweite Publicity darstellt, und erinnern an frühere Zwischenfälle: den Terroranschlag des „Schwarzen September“ auf die israelische Olympiamannschaft in München (1972), den Bombenanschlag auf den Centennial Park bei den Olympischen Spiele in Atlanta (1996) sowie die Nukleardrohung gegen die Olympischen Spiele in Sydney (2000). Ein Problem der deutschen Sicherheitsexperten ist, dass fast niemand einen Terroranschlag befürchtet, aber jeder gleich an Osama bin Laden denkt, wenn es irgendwo mal knallen sollte. Eine Massenpanik ist damit vorprogrammiert.
Immerhin konnten die deutschen Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren angeblich mehrere Terroranschläge des Al Qaida-Netzwerkes in Berlin verhindern:
- Ein Kommando der Jama´at al-Tawhid Wa´al-Jihad bereitete gerade mehrere Anschläge gegen das Jüdische Museum in Berlin sowie zwei Lokale in der Düsseldorfer Altstadt vor, als am 23. April 2002 dreizehn Mitglieder der Gruppe (Mohammed Abu Dhess, Aschraf al-Dagma, der zeitweise in Berlin gewohnt hatte, und Ismail Abdallah Sbaitan Shalabi etc.) festgenommen wurden. Der Jordanier Shadi Mohamed Mustafa Abdalla diente sich den Sicherheitsbehörden als Kronzeuge an. Er war zeitweise Leibwächter von Osama Bin Laden gewesen und hatte in Afghanistan eine Ausbildung im Umgang mit toxischen Stoffen zur Vergiftung von Lebensmitteln „mit hundertprozentigem Erfolg“ absolviert, wie er mitteilte. Ursprünglich hatte man einen Anschlag mit einer Autobombe geplant, aber da kein Kommandomitglied einen elektronischen Schaltkreis für den Zünder herstellen konnte, habe man über Alternativen nachgedacht: Handgranaten, Schußwaffen oder den Einsatz von Gift.
- Am 20. März 2003 erfolgte in Berlin die Festnahme eines weiteren Mitgliedes von Al-Tawhid. Der Tunesier Ihsan Garnaoui hatte in der „Al Nur“-Moschee in der Haberstraße versucht, andere Moslems für Bombenanschläge gegen amerikanische oder jüdische Ziele zu rekrutieren. Das Berliner Kammergericht verurteilte Garnaoui am 6. April 2005 wegen illegalen Waffenbesitzes und Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und Monaten, den Vorwurf der versuchten Bildung einer terroristischen Vereinigung sah das Gericht als nicht gegeben an. Gegen dieses Urteil legte der Generalbundesanwalt Revision ein.
- Am 2./3. Dezember 2004 reiste der damalige irakische Interimspräsident Ijad Hashim Allawi zu einem zweitägigen Staatsbesuch nach Berlin. Nach Angaben des Generalbundesanwaltes Kai Nehm sollte er dort ermordet werden, was mittels einer Telefonüberwachungsaktion rechtzeitig aufgedeckt werden konnte. In den Morgenstunden des 3. Dezember stürmten Polizeibeamte mehrere Wohnungen, dabei wurden drei potentielle Attentäter der irakischen Gruppe Ansar al-Islam festgenommen. Es handelt sich um den „Rädelsführer“ Ata Aboulaziz Rashid aus Stuttgart, Rafik Mohamad Yousef aus Berlin-Neukölln und Mazen Ali Hussein aus Augsburg.
“Berlin ist zur WM im Visier von Terroristen, Hooligans und Kriminellen“
Die an der WM beteiligten Bundesländer haben sich im Februar 2004 unter Federführung Nordrhein-Westfalens auf ein Musterkonzept Katastrophenschutz im Rahmen des Nationalen Sicherheitskonzeptes WM 2006 geeinigt. Dieses Musterkonzept soll den vorbereitenden Maßnahmen der Rettungs- und Katastrophendienste zugrunde gelegt werden. Die Einsatzführung liegt beim Bundesinnenministerium am Spreebogen in Alt-Moabit. Ein Stab Sicherheit WM 2006 im fünften Stock des Bundesinnenministeriums überwacht die gesamte Planung für das Fußballturnier. Sein Leiter ist Bernd Manthey, der frühere Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder. Im zehnten Stock des Gebäudes befindet sich das Lagezentrum. Dieses gliedert sich in einen Führungsstab, die Nachrichtensammel- und Informationsstelle (NASISTE), die Zentrale Nachrichtenvermittlung (ZNV) als Auswertestelle und – extra für die Weltmeisterschaft – das Nationale Informations- und Kooperationszentrum (NICC) als spezialisierte Schaltstelle. Hinzu kommt noch die Außenstelle Sicherheit Luftraum in Kalkar am Niederrhein. Sie ist dem Nationalen Lage- und Führungzentrum, der Luftraumüberwachungszentrale der Bundesluftwaffe, angegliedert.
Zu den zwölf Austragungsorten gehört auch das Olympiastadion in Berlin, wo sechs Fußballspiele, darunter das Endspiel am 9. Juli, stattfinden werden. Darüber hinaus wird die Straße des 17. Juni zur „Fanmeile“ und Großbildschirme werden am Brandenburger Tor, im Sony-Center und am Alex aufgebaut. Bei der Berliner Senatsverwaltung für Inneres in der Klosterstraße leitet eine Koordinierungsgruppe SenInn Sicherheit WM 2006 sämtliche Schutzmaßnahmen. Leiter der zweiköpfigen Gruppe ist Polizeioberrat Dirk Würger. Die Berliner Polizei richtete im November 2003 im Präsidium am Platz der Luftbrücke einen Vorbereitungsstab Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ein, der von Polizeioberrat Ingo Rogge geleitet wird und inzwischen 17 Mitarbeiter umfasst. Bei der Berliner Berufsfeuerwehr organisiert ein Arbeitskreis Weltmeisterschaft 2006 (AK WM 2006) unter der Leitung von Brandoberrat Detlev Peters in der Branddirektion am Nikolaus-Groß-Weg die WM-Vorbereitungen.
Sollte es tatsächlich zu einem Zwischenfall kommen, müsste der amtierende Innensenator, Dr. Ehrhardt Körting, gegebenenfalls Katastrophenfall auslösen. Innerhalb seiner Innenverwaltung ist das Referat III D für die Vorbereitung entsprechender „externer Notfallpläne“ und die Koordinierung der verschiedenen Hilfsorganisationen (Arbeiter-Samariter-Bund, Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft, Deutsche Rote Kreuz, Johanniter-Unfall-Hilfe sowie Malteser Hilfsdienst) zuständig. Als Referatsleiter fungiert zur Zeit Norbert Schmidt. Im Falle eines Falles würde eine Zentrale Einsatzleitung (ZELtg) aus 30 bis 40 Vertretern der beteiligten Organisationen in seinen Büros im vierten Stock der Innenverwaltung zusammentreten.
Dennoch: Polizeipräsident Dieter Glietsch gab sich auf einer Pressekonferenz am 13. Oktober 2005 zuversichtlich:
Für alle WM-relevanten Themenfelder wie zum Beispiel Verkehr, Staatsbesuche oder Aufklärung wurden von dafür verantwortlichen Führungskräften detaillierte Konzepte entworfen. Deren Umsetzung erfolgt nicht erst mit dem Startschuss zur WM. In wichtigen Bereichen beginnen wir vielmehr bereits jetzt mit der operativen Arbeit, z. T. haben wir bereits begonnen. Das gilt zum Beispiel für unser Vorgehen gegen fußballorientierte Gewalttäter und die dazu erforderliche Erkenntnisgewinnung. Um hier mit maximaler Effizienz zu arbeiten, werden wir mit Wirkung vom 1. November im Landeskriminalamt die erste Stufe des künftigen Einsatzabschnitts „Aufklärung Fußball-WM“ mit zunächst 85 Mitarbeitern einrichten. Ein wichtiger Bestandteil dieser operativen Einheit wird die EG Hooligan sein, die bisher bei der Direktion 2 angebunden ist. Diese seit Jahren bewährte Ermittlungsgruppe mit ihren speziellen Szenekenntnissen wird zusammen mit den Aufklärungsexperten vom LKA 63 dazu beitragen, dass wir frühzeitig alle Erkenntnismöglichkeiten ausschöpfen, damit wir Aktivitäten und Rädelsführer der Hooliganszene noch besser identifizieren können.
Polizeipräsident Dieter Glietsch
Demgegenüber kritisierte der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Eberhard Schönberg, im August 2005 den Stand der Sicherheitsvorbereitungen:
Berlin ist zur WM im Visier von Terroristen, Hooligans und Kriminellen. Doch die Stadt hat bislang noch nicht einmal ein Einsatzkonzept; lediglich eine Urlaubssperre ist verhängt. Es fehlt an Polizisten und Fahrzeugen.
Wenn es um die Sicherheit der Weltmeisterschaft geht, wird von Seiten der Behörden immer wieder auf ihre Urlaubssperre verwiesen, als wolle man damit die Aufopferungsbereitschaft des deutschen Beamtenheeres unter Beweis stellen. Dabei ist die angebliche Sperre nur ein Windei: Der erste offizielle Tag der Schulferien ist Donnerstag der 6. Juli, der letzte Arbeitstag in den Behörden Freitag der 7. Juli und die WM endet am Sonntag den 9. Juli, so dass sich die wohlverdiente Urlaubsreise bestenfalls um drei Tage verzögert.
Ein Windei ist auch die Stadionsicherheit. Da wurde das Olympiastadion in den Jahren 2000 bis 2004 extra für die WM aufwendig renoviert, und am Ende konnte die Stiftung Warentest nachweisen, dass es um dessen Sicherheit schlecht bestellt ist. Bei einem Zwischenfall könnte Leni Riefenstahls „Reportergraben“ zwischen Spielfeld und Tribüne zur Todesfalle für die Zuschauer werden. Das ist Sicherheitsarchitektur auf dem Standard des Colosseums in Rom. Jedoch die Funktionäre vom Deutschen Fußballbund verwehrten sich gegen diese Nestbeschmutzung. Franz Beckenbauer empörte sich, die Sicherheitsingenieure der Stiftung würden bestenfalls etwas vom Olivenöl verstehen. Unklar blieb, woher Herr Beckenbauer etwas von moderner Stadionsicherheit versteht, schließlich liegt seine berufliche Tätigkeit als Versicherungskaufmann bei der Bayerischen Versicherungs-Bank schon vierzig Jahre zurück. Unklar blieb auch, woher Herr Beckenbauer etwas vom Olivenöl versteht.
Sicherheitsvorkehrungen in Berlin
Trotz der öffentlichen Polemik und mehrerer Presse- und Fachkonferenzen wurde bisher wenig über die konkreten Schutzmaßnahmen bekannt. Der Luftraum wird durch ein AWACS-Radaraufklärungsflugzeug (AWACS = Airborne Early Warning and Command System) überwacht werden. Es handelt sich um eine Boing E-3 Sentry der NATO Early Warning Force, die normalerweise in Geilenkirchen bei Aachen stationiert ist. Sollte ein Passagierflugzeug durch Terroristen gekidnappt werden, löst die Luftraumüberwachungszentrale in Kalkar den Alarm „RENEGADE 1 – Luftfahrzeug“ aus. Dann steigen mit Raketen ausgestattete Jagdflugzeuge F-4F Phantom II der Einsatzbereitschaft der Bundesluftwaffe zu einem „Sramble“-Einsatz auf und fangen das Flugzeug ab. Allein im Jahr 2004 mussten die Abfangjäger vierzig Mal starten, um unbekannte Flugobjekte zu identifizieren. Nach Ablehnung des Luftsicherheitsgesetz durch das Bundesverfassungsgericht am 15. Februar 2006 dürfen die Kampfpiloten das Flugzeug nur noch zur Landung zwingen, aber nicht mehr abschießen, um einen Kamikaze-Angriff zu verhindern (Gesetz mit Folgen). Die Antwort, wie dies in der Praxis funktionieren soll, blieben die Richter schuldig.
Am Olympiastation wird vorsorglich ein Feldlazarett, ein so genannter Behandlungsplatz, errichtet. Mehrere Krankenhäuser in der Nähe des Olympiastadions haben zusätzliches Medizinmaterial eingelagert. Die Bundeswehr stationiert während der Weltmeisterschaft einen SAR-Rettungshubschrauber am Bundeswehrlazarett in der Scharnhorststraße.
In mehreren Übungen bereiten sich Feuerwehr und Katastrophenschutzorganisationen auf einen möglichen „Ereignisfall“ vor. Am 12. November 2005 führte die Berliner Feuerwehr und der Landesverband des Roten Kreuzes die Großübung „EXPLOSIV 2005“ mit über 500 Teilnehmern durch. Schauplatz des Manövers war die Ortskampfanlage „Rauhberg“auf dem Bundeswehr-Truppenübungsplatz Lehnin, wo früher die Nationale Volksarmee den Sturm auf Westberlin trainierte.
Das Übungsszenario sah parallel drei Großschadensereignisse vor: Die Tribüne eines Fußballstadions stürzt ein, an anderer Stelle bricht eine Großbildleinwand zusammen und in einer U-Bahn zünden Terroristen eine radiologische Bombe. Über den Erfolg der Übung heißt es in der Darstellung des DRK vieldeutig: „Übungen sind dazu da, Defizite aufzudecken, Arbeitsweisen zu erproben und eben zu üben. Wichtig und richtig ist, dass aus Übungen gelernt wird und Erkenntnisse weitergegeben werden.“ Am 26. November 2005 folgte eine weitere Übung: 1.000 Polizeibeamte und Helfer des Technischen Hilfswerkes probten die Evakuierung des Olympiastadions nach einer Bombendrohung. Dabei wurden auch vom THW konstruierte Behelfsbrücken zur Überwindung des Reportergrabens ausprobiert.
Am 11. März soll die Generalprobe für einen Zwischenfall bei der WM stattfinden. Bei der Übung „METROPOLE WM 2006“ werden mit rund 1000 Teilnehmern erneut drei Szenarien durchgespielt: Am U- und S-Bahnhof Gesundbrunnen probt die Feuerwehr einen chemischen Angriff mit zahlreichen Verletzten, die von ABC-Kräften dekontaminiert werden müssen, in einem Sportstadion simuliert die Feuerwehr einen Tribüneneinsturz mit fünfzig Eingeklemmten, und in einer früheren Sowjetkaserne in Karlshorst probt die Feuerwehr die Evakuierung eines Krankenhauses nach einer Explosion.
Zwar unterliegen die speziellen Vorbereitungen zur WM der Geheimhaltung, hingegen sind die allgemeinen Katastrophenvorsorgemaßnahmen durchaus bekannt: In Berlin leitet die Feuerwehr den tagtäglichen Rettungsdienst. Fast 100 Rettungswagen sind ständig im Einsatz, hinzu kommen 16 Notarztwagen und zwei Hubschrauber: Der Rettungshubschrauber des ADAC vom Typ Eurocopter EC-123P2 mit Rufnamen „Christoph 31“ ist am Klinikum Benjamin Franklin stationiert, und ein Intensivtransporthubschrauber vom Typ Bell 412 HP des Arbeiter-Samariter-Bundes befindet sich auf dem Flughafen Tempelhof.
Sollte es irgendwo in der Stadt zu einem Schadensgroßereignis mit über 30 Verletzten kommen, spricht man von einem Massenanfall von Verletzten der Stufe 4. Dann löst die Feuerwehrleitstelle einen entsprechenden MANV 4-Alarm aus und werden u.a. folgende Rettungskräfte unverzüglich in Marsch gesetzt: 4 Notarztwagen, 15 Rettungstransportwagen, 1 Schnelleinsatzgruppe des Roten Kreuzes, 4 Löschhilfsfahrzeuge, 2 Behälter mit Rettungsmaterial und gegebenenfalls 1 Notfallseelsorger. Davon treffen die ersten Rettungskräfte innerhalb von sieben bis zehn Minuten an der Gefahrenstelle ein.
Reichen diese Kräfte nicht aus, werden zusätzliche Verstärkungseinheiten aufgeboten. In der Presse hieß es dazu:
“580 Feuerwehrleute sind in Berlin täglich im Dienst. Wir könnten ihre Zahl innerhalb einer Stunde verdreifachen“, sagt Feuerwehr-Sprecher Wolfgang Rowenhagen, und auch mehr als 150 Krankenwagen einsetzen. Bei einem Terroranschlag am Alex mit 1 000 Verletzten würden die Opfer zunächst in Sammelstellen medizinisch versorgt, bevor sie auf die Krankenhäuser verteilt werden. Eine halbe Stunde würde es dauern, bis Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks und der Feuerwehr die Zelte für die Sammelstellen errichtet hätten, zweieinhalb Stunden würden vergehen, bis alle Verletzten in der Klinik wären. 38 Unfallkliniken können nach Angaben der Senatsgesundheitsverwaltung Verletzte aufnehmen. 839 Opfer könnten sofort versorgt werden. Die Kapazität kann bis auf 10000 Patienten erhöht werden.
Ob diese Zahlen tatsächlich realistisch sind, darüber gibt es innerhalb der Berliner Behörden Streit. Laut Dr. Sigurd Peters, Referatsleiter für Katastrophenschutz beim Gesundheitssenator, könnten sogar 17.000 Betten kurzfristig zur Verfügung gestellt werden; hingegen rechnet die Feuerwehr nur mit 5.000 verfügbaren Krankenlager. „Da zeigt sich die Diskrepanz zwischen den Vorgaben der Politik und einer realistischen Einschätzung“, meinte dazu Jan Breckwoldt, Leiter für Rettungsmedizin am Universitätsklinikum Benjamin Franklin im Stadtteil Steglitz.
Reichen auch diese Kräfte nicht aus, muss Katastrophenalarm ausgelöst werden. Dann werden sämtliche Katastrophenschutzeinheiten in Berlin mobilisiert, das sind gegenwärtig 3.680 Mann von Sanitäts-, Betreuungs- und Technischen Einheiten mit 383 Fahrzeugen. Allerdings sind hier auch zahlreiche „Karteileichen“ mitgezählt. Außerdem werden weitere Kräfte aus den anderen Bundesländern herangeführt.
Gefahrenabwehr bei einem ABC-Vorfall
Insbesondere könnte eine ABC-Lage, also ein terroristischer Angriff mit einer „schmutzigen Bombe“, das Ausbringen einer Seuche oder die Freisetzung einer Giftgaswolke nicht mit eigenen Kräften bewältig werden. Bei der Senatsinnenverwaltung beschäftigt sich ein Arbeitskreis nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr mit der Frage, was bei einem solchen Angriff überhaupt getan werden kann. Bei einem Nuklearangriff käme die erste Warnmeldung vermutlich vom Bundesamt für Strahlenschutz, das bundesweit ein Integriertes Mess- und Informationssystem (IMIS) aus vollautomatischen Sensoren für Alpha-, Beta- und Gammastrahlung betreibt. Die Meßergebnisse können alle zehn Minuten abgerufen werden.
Die Berliner Feuerwehrleitstelle verfügt über eine spezielle Software, das Geographische-Feuerwehr-Entscheidungshilfe-System (GEO-FES), mit dem dann die Ausbreitung einer Schadstoffwolke berechnet würde. Neben der Art und Masse des freigesetzten Schadstoffs berücksichtigt das Programm auch die aktuellen Wetterdaten sowie topographische und städtebauliche Faktoren. Für den unwahrscheinlichen Fall, das eine radiologische Bombe auf das voll besetzte Olympiastadion fiele, würde es nach den Berechnungen des Krisenstabes lediglich zwei Prozent Verletzte geben. Das wären bei 75.000 Besuchern aber immer noch 1.500 Verletzte.
Unter den Berliner Katastrophenschutzeinheiten umfasst der ABC-Dienst z. Zt. 364 Mann Sollstärke, die mit 35 Fahrzeugen ausgestattet sind, wie es in der Ersten Verordnung zur Änderung der Verordnung über den Katastrophenschutzdienst vom 1. September 2005 heißt. Das Personal verteilt sich auf die Berufsfeuerwehr sowie die ehrenamtlichen Helfer der DRK-Kreisverbände in Wedding und Tempelhof und den ABC-Zug der DLRG in Spandau. Die Züge der Hilfsorganisation haben aber nicht die volle Einsatzstärke. Außerdem sind verschiedene geheime Sonderheiten zur Bekämpfung des ABC-Terrorismus (ZUB, AG SW, ABC-Task Force Berlin) gegenwärtig in der Planungs- bzw. Aufbauphase.
Der Fahrzeugbestand des Berliner ABC-Dienstes setzt sich aus 14 ABC-Erkundungskraftfahrzeuge, 14 Lkw zur Personendekontamination (Dekon-P) und 7 Lkw zur Gerätedekontamination (Dekon-G) zusammen. Wie alle Katastrophenschutzfahrzeuge wurden sie vom Bundesinnenministerium beschafft und den Bundesländern, in diesem Fall Berlin, kostenlos zur Verfügung gestellt. Weil man beim Erkunder auf eine allzu preiswerte Lösung setzte, hat das Fahrzeug zahlreiche Nachteile, insbesondere ist es nicht gasdicht: Sobald die Einsatzkräfte während einer Messfahrt mit ihren Geiger-Müller-Zählern und chemischen Sensoren feststellen, dass irgendwo eine Kontamination vorliegt, müssen sie zu ihrem eigenen Schutz sofort den Rückwärtsgang einlegen, ABC-Schutzanzüge überziehen und ihre Erkundung zu Fuß fortsetzen. Das Fahrzeuginnere sollte auf keinen Fall verstrahlt, verseucht oder vergiftet werden, da man es wegen der eingebauten Computeranlage nicht dekontaminieren kann, und es dann als Sondermüll entsorgt werden müsste.
Der Dekon-P sind mit Duschzelten und einer Wasseraufbereitungsanlage ausgerüstet, um pro Stunde maximal fünfzig Personen dekontaminieren zu können. Da bei einem Bestand von insgesamt vierzehn Fahrzeugen nur 700 Personen pro Stunde gereinigt werden, sind die Spezialfahrzeuge nur zur Dekontamination der Einsatzkräfte vorgesehen.
Die sieben Dekon-G sind zwar für die Gerätedekontamination vorgesehen, könnten aber prinzipiell auch zur Personendekontamination eingesetzt werden. Sie sind aber schon über dreißig Jahre alt und nur noch bedingt einsatzfähig. Ein Ersatz ist zwar seit Jahren versprochen, wird aber frühestens in fünf oder sechs Jahren zur Verfügung stehen. Weil die Dekon-G die einzigen Fahrzeuge mit einer Chlorkalk-Streuvorrichtung zur Flächendekontamination sind, kann man auf sie in der Zwischenzeit auf keinen Fall verzichten.
Zur Dekontamination der 3,4 Millionen Berliner steht z. Zt. nur eine einzelne Duschanlage offiziell zur Verfügung, nämlich die Sporthalle der Schule am Rohrgraben. Sie wurde im Rahmen der Katastrophenschutzplanung für den Fall eines Super-GAUs im BER II-Atomreaktors des Hahn-Meitner-Institutes als ortfeste Dekon-Stätte eingeplant. Außerdem gibt es noch eine Dekon-Stelle für Haustiere in der Dreilinden-Schule. Die Berliner Feuerwehr ist gegenwärtig dabei, eine Liste von mehreren dutzend Hallenbädern zusammen zu stellen, die als weitere Dekon-Stätten vorbereitet werden sollen. Außerdem werden für die Dauer der Weltmeisterschaft an verschiedenen Stellen vorrübergehend ortsfeste Dekon-Stellen aufgebaut.
Ein besonderes Problem bereitet die Dekontamination verletzter Personen: Sollen erst die Wunden behandelt oder erst der Patient dekontaminiert werden? Zwar können die ABC-Kräfte unter ihren Spezialanzügen weder den Puls tasten noch den Blutdruck messen, wird aber eine kontaminierte Person in ein Krankenhaus eingeliefert, kann er dort den ganzen OP-Trakt lahmlegen. Anlässlich der Weltmeisterschaft werden in den kommenden Wochen an den Notfallkrankenhäusern die längst überfälligen Dekon-Möglichkeiten geschaffen und das medizinische Personal im Umgang mit kontaminierten Personen geschult.
Besondere medizinische Probleme bereitet die Versorgung von infizierten Personen. Die Berliner Feuerwehr verfügt nur über einen einzigen Bettentransportwagen, der in der Regel zum Transport von einem infizierten Patienten zwischen zwei Krankenhäusern eingesetzt wird. Dazu wird der Kranke in einen so genannten Transportisolator gelegt, der aussieht wie ein überdimensionaler Brutkasten für Erwachsene. Besser geeignet ist der Rettungstransportwagen Infektion der Johanniter-Unfall-Hilfe in Königs Wusterhausen südöstlich von Berlin. Allerdings gibt es von diesen RTW-I nur drei Exemplare in der ganzen Bundesrepublik (neben Königs Wusterhausen auch noch Leipzig und Hamburg).
Berlins wichtigste Quarantäne-Station ist die Station 59 a/b auf dem Gelände des Virchow-Klinikums der Charité im Wedding. Sie ist umgeben von einem Zaun, der dem gemeinen Krankenbesucher kaum auffällt. Seine Tore stehen für gewöhnlich offen, das Wärterhäuschen ist verwaist. Aber wenn heutzutage in der Hauptstadt ein schwerwiegender Seuchenfall auftritt, landet der betroffene Patient hier. Dazu besitzt die Station einen separaten Straßeneingang am Nordufer. Dann werden alle Tore geschlossen, das Wärterhaus besetzt und gegebenenfalls patrouillieren bewaffnete Polizeistreifen ums Gebäude. Außerdem besitzt die Station 59 eine befremdliche Architektur. Sie verfügt im Erdgeschoß über insgesamt vierzig Betten, die rechts und links eines langen Flures angelegt sind. Darüberhinaus verfügt jedes Krankenzimmer über zwei Eingänge: einen zum Flur im Gebäudeinneren, einen anderen an der gegenüberliegenden Seite nach draußen. Jeder Krankekann also besucht werden kann, ohne dass man den Rest des Gebäudes betreten müsste. Normalerweise liegen hier Touristen mit Malaria-Infektionen oder Patienten mit einer Lungenentzündung. Zwei der vierzig Betten sind als Bettisolatoren für hochinfektiöse Patienten ausgelegt. Damit verfügt die Station 59 über die Hälfte dieser Spezialbetten in der gesamten Bundesrepublik.
Unter der Leitung von Oberarzt Dr. D. Schürmann arbeiten fünf Ärzte, zwanzig Krankenschwestern und -Pflegern. Ergänzt wird die Behandlung durch eine Krankengymnastin und Mitarbeiter des Sozialdienstes, die sich der psychologischen Probleme der Patienten annehmen. Dieser Personalbestand ist zu gering, wie Klinikdirektor Prof. Dr. Norbert Suttorp vorrechnet: Für die Rund-um-die-Uhr-Versorgung eines sehr ansteckenden Patienten seien drei Ärzte und neun Pfleger nötig. Um drei Seuchenpatienten betreuen zu können, reiche das Stationspersonal bereits nicht mehr aus. Außerdem fehlt in einem solchen Fall ein Bettisolator. Allerdings werden die Sicherheitsstandards der Station gegenwärtig ausgebaut.
Hilfe von der Bundeswehr?
Für den Fall einer Massenepidemie werden zur Zeit Pläne für weitere Quarantänestationen am nördlichen Stadtrand aufgestellt. Nach dem Infektionsschutzgesetz können im Seuchenfall Kranke, Krankheitsverdächtige und alle anderen Personen zwangsweise in eine Quarantäne-Station eingewiesen und isoliert werden. Zu diesem Zweck dürfen sogar mehrere Grundrechte außer Kraft gesetzt werden.
Zur Verstärkung der zivilen Katastrophenschutzkräfte sollen bei der Weltmeisterschaft bundesweit rund 2.000 Bundeswehrsoldaten im Rahmen der Amtshilfe eingesetzt werden, dazu werden u.a. ABC-Abwehrkräfte an allen Spielorten stationiert. Dennoch ist fraglich, ob die ABC-Abwehrtruppe im Ereignisfall überhaupt in der Lage wäre, einen substantiellen Beitrag zu leisten. Von ihren rund 3.000 Planstellen sind nur rund 2400 Positionen tatsächlich besetzt. Ein Teil der Soldaten ist derzeit auf dem Balkan, am Persischen Golf und in Afghanistan im Einsatz. Weil die ABC-Abwehr nicht zu den Prestige-Truppen der Generalität gehört, ist es um deren Einsatzbereitschaft eher schlecht bestellt. Brigadegeneral Dieter Löchel wurde in seinem vertraulichen Jahresbericht 2002 deutlich:
Mir graut, wenn ich im Fernsehen höre, die deutsche ABC-Abwehrtruppe sei die bestausgebildete und bestausgerüstete auf der Welt. Dabei sind wir nicht einmal in der Lage, einen einzigen Trupp zusammenzubekommen, der hundertprozentig seinen Auftrag erfüllen kann.
So ist der Spürpanzer nicht für Bio-Einsätze tauglich, ein neuer ABC-Schutzanzug „Wespe“ befindet sich gerade in der Erprobungsphase, die neue ABC-Schutzmaske „Maske 2000“ wird gerade eingeführt. Für einen Notfalleinsatz in Berlin käme das ABC-Abwehrbataillon 805 in Frage, das in der Uckermark-Kaserne in Prenzlau, 120 km nördlich von Berlin, stationiert ist. Im Rahmen des neuen Stationierungskonzeptes der Bundeswehr wird es in den kommenden Jahren aufgelöst.
Die Weltmeisterschaft wird jetzt von den Politikern der CDU/CSU dazu instrumentalisiert, ihre alte Forderung nach einem präventiven Einsatz der Bundeswehr im Innern endlich durchzusetzen. Dazu wäre eine Änderung des Grundgesetzes notwendig, was aber von der SPD strikt abgelehnt wird. Die Union will die Bundeswehr als Surrogat für Lücken im Katastrophenschutz einsetzen, die erst dadurch entstanden sind, dass das ganze Geld für die Bundeswehr verpulvert wurde, so dass für den zivilen Katastrophenschutz kaum etwas übrig blieb und es an allen Ecken und Enden mangelt: „Der Tierschutz ist für alle, der Katastrophenschutz ist für die Katz“, heißt es unter den ehrenamtlichen Helfern.
So will Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), der seit 1993 immer wieder einen Einsatz der Bundeswehr im Innern forderte, nun Panzer in der Berliner Innenstadt zum Objektschutz einsetzen. Da in der Bundeshauptstadt selbst wohlweislich keine Panzereinheiten stationiert sind, käme nur das Panzergrenadierbataillon 421 aus Brandenburg in Frage. Mit seinen Schützenpanzern Mardern 1A3 könnte es zur Bewachung an wichtigen politischen Gebäuden, z. B. den ausländischen Botschaften oder dem Bundesratsgebäude am Potsdamer Platz, beitragen. Auf die gleiche gute Idee sind schon die Panzertruppen der sowjetischen Arbeiter- und Bauernarmee am 17. Juni 1953 gekommen. Die Todesopfer kann man noch heute auf dem Friedhof an der Seestraße betrauern.
Ein unkalkulierbares Problem bleibt das Verhalten der Zivilbevölkerung bei einer ABC-Lage: Wenn ein ABC-Erkunderfahrzeug mit Blaulicht an einem vorbeifährt, sollte man eigentlich meinen, dass einem die Einkaufstüten vor Schreck aus der Hand fallen. Nicht so die Berliner Kriegerwitwen und Hausfrauen. Scheinbar durch zahlreiche Berlinkrisen während des Kalten Krieges gestählt, lässt sie jeder ABC-Einsatz anscheinend völlig kalt. Hingegen kann ein ABC-Einsatz für die ehrenamtlichen Katastrophenhelfer gefährlich werden: Als am 15. September 2005 in Bernau bei Berlin eine Müllkippe mit 15.000 Tonnen Plastikmüll brannte, schickte die Feuerwehrleitstelle ein Erkunderfahrzeug von der DLRG raus. Die Besatzung sollte festzustellen, wie giftig die Schadstoffwolke war und ob Wohngebiete am Stadtrand zum Schutz der Zivilbevölkerung evakuiert werden müssten. Als der Wagen mit einer Messgeschwindigkeit von rund 30 km/h durch die Stadt tuckerte, fühlten sich zahlreiche Berliner Proleten in ihrer Autofahrerfreiheit behindert und bedrängten den Wagen. Sollten bei einem Ereignisfall Millionen Berliner in Panik ihr Auto als Fluchtmittel nutzen wollen, könnte so ein Erkunderfahrzeug vorzeitig als Schrotthaufen am Stadtrand enden.
Nicht zuletzt gehört zu einer umfassenden Katastrophenvorsorge auch die Planung aller notwendigen Maßnahmen, wenn alle Schutz- und Hilfsmaßnahmen Möglichkeiten nicht ausreichen. Mit der hemmungslosen Offenherzigkeit von Bundeswehrsoldaten forderte der Leiter der Studienabteilung an der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München, Oberstarzt Dr. Torsten Sohns:
Im Fall einer Massenerkrankung oder –vergiftung in einer Großstadt muss die Kapazität zur Bestattung von täglich mehreren tausend Verstorbenen geschaffen werden. Notfallvorsorgepläne müssen vorhanden sein, die die erforderlichen antiepidemischen Sicherheitsvorkehrungen ausweisen.
Berlin hat dazu drei Krematorien in Betrieb: Ruhleben, Treptow und Wedding. Klinsmann, Ballack und Kahn können kommen.
Gerhard Piper arbeitet am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS)