Warum Alkoholverbote gefährlich und unsinnig sind
Als Argument für ein Alkoholverbot während des Lockdowns wird beispielsweise häusliche Gewalt angeführt. Ein solches Verbot wäre in vieler Hinsicht gefährlich
Es ist wenig verwunderlich, dass in Zeiten des Lockdowns auch das Thema Alkohol aktuell ist. Alkoholabhängigkeit ist an sich bereits ein ständiges Problem innerhalb der Gesellschaft - das Coronavirus beziehungsweise die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie führen allerdings dazu, dass dieses Problem zunimmt. Arbeitseinkommen fallen vielfach weg oder verringern sich durch Kurzarbeit, andere Berufe erfordern eine Überschreitung der Belastbarkeit, Familien und Paare, die es gewohnt sind, ihre Freiräume zu haben, sehen sich auf lange Zeit mit deren Wegfall konfrontiert.
Dass sich somit die Prognosen der Suchtexperten zum steigenden Alkoholkonsum während der Pandemie bewahrheitet haben, ist nicht verwunderlich. Insofern liegt es nahe, ein Alkoholverbot zu fordern beziehungsweise umzusetzen oder Alkohol als nicht lebensnotwendig zu deklarieren und daher seine Produktion oder den Verkauf während des Lockdowns infrage zu stellen, wie unlängst in einer Spiegel-Kolumne geschehen. Dies ist aber nicht nur eine kurzsichtige, sondern auch eine gefährliche Idee.
Kalter Entzug stationär
Sollte tatsächlich ein Alkoholkonsum- und Verkaufsverbot umgesetzt werden, so wären in Deutschland 6,7 Millionen Menschen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren, die laut Bundesgesundheitsministerium Alkohol in gesundheitlich riskanter Form konsumieren - darunter etwa 1,6 Millionen, die als alkoholabhängig gelten - von einem Tag auf den anderen im sogenannten "kalten Entzug". Es sei denn, sie hätten heimlich Alkoholvorräte angelegt.
Bei dieser Entzugsform wird von einem auf den anderen Tag komplett auf die bisherige Droge verzichtet - und ebenso auf Medikamente, die Nebenwirkungen dieses Entzugs auffangen. Ein effektiv durchsetzbares Alkoholverbot würde dazu führen, dass der kalte Entzug keine freie Entscheidung mehr wäre, sondern auf das Suchtmittel verzichtet werden müsste.
Besonders gefährlich ist diese Form des Entzugs ohne ärztliche Begleitung und Aufsicht. Symptome des Entzugs reichen von Kopf- und Magenschmerzen, Unterzuckerung, Sprach- und Sehstörungen über Delirium, Wahnvorstellungen bis hin zu Herzproblemen und Suizidgedanken - nicht zu vergessen Gedanken, die um die gegebenenfalls illegale Beschaffung des Alkohols kreisen.
Im Idealfall würden sich alle Betroffenen für einen begleiteten Entzug unter ärztlicher Aufsicht melden. Dieser müsste stationär stattfinden und würde etwa zwei Wochen dauern. Auf einen Schlag würden somit zwischen 1,6 und 6,7 Millionen Krankenhausbetten benötigt, um die entzugswilligen Suchtkranken aufzunehmen. Der personelle Aufwand wäre ebenfalls hoch.
Bedenkt man, dass die Auslastung der Krankenhauskapazitäten schon Anlass dafür war, beispielsweise das Feuerwerk zu Silvester zu verbieten, ist klar, dass ein plötzlicher Zuwachs von betreuungsintensiven Patienten nicht zu bewältigen wäre und das ohnehin überforderte Personal an die Grenzen der Belastbarkeit sowie darüber hinaus bringen würde. Die Idee, möglichst viele Ressourcen für Covid-19-Erkrankte freizuhalten, wäre damit ad absurdum geführt.
Kalter Entzug zuhause
Eine andere Möglichkeit wäre der kalte Entzug zuhause. Von diesem rät jeder seriöse Arzt ab, da die hier bereits aufgeführten Nebenwirkungen auftreten können. Ein Problem wäre auch die fehlende Hilfe bei psychischen Problematiken, die nicht selten der Grund für Alkoholabhängigkeit sind.
Vor allem zu Beginn des Entzugs ist aber der Gedanke an Möglichkeiten der Alkoholbeschaffung allgegenwärtig. Eine Folge dieses Denkens ist, dass die Hemmschwelle in Bezug auf Gewalt und "Beschaffungskriminalität" sinkt - ähnlich wie bei Menschen, die von klassischen illegalen Drogen abhängig sind.
Beim massenhaft erzwungenen kalten Entzug wäre somit auch eine Gefährdung von Personen anzunehmen, die tatsächlich oder vermeintlich noch über Alkohol verfügen. Angenommen werden dürfte dies von Winzern und Wirten sowie Menschen, denen nachgesagt wird, dass sie bis dato häufig Alkohol konsumiert oder durch Mitwirkung an der Alkoholproduktion noch Bezugsmöglichkeiten haben.
Ein solcher Schluss muss nicht logisch sein - im Gegenteil wird das logische Denken bei Suchtkranken im Entzug oftmals durch das Denken an die nächste Ration außer Kraft gesetzt. Insofern würde ein kalter Entzug zuhause nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch Menschen um sie herum in Gefahr bringen.
Auch die Bereitschaft, im Auftrag von Dritten Straftaten zu begehen, könnte - ähnlich wie bei Heroinabhängigen - steigen. Dies könnte zu Verletzten und Schwerverletzten führen, die dann ebenfalls Krankenhausbetten in Anspruch nehmen sowie Personalressourcen binden würden. Auch hier gilt: Die Idee, möglichst viele Ressourcen für Covid-19-Patienten freizuhalten, wäre damit ad absurdum geführt.
Noch Rasierwasser da?
Die vorherigen Szenarien gehen davon aus, dass im Haushalt nichts Alkoholisches zu finden ist. Doch wer stark alkoholabhängig ist, sucht zunächst nach Alkohol in jeglicher Form. Bei der Aufnahme in einen stationären Entzug werden im Normalfall Koffer und Taschen durchsucht, damit sich nicht die kleinste Ration Alkohol findet - selbst wenn sich der Patient oder die Patientin freiwillig in den Entzug begibt. Dies dient nicht der Schikane, sondern hinsichtlich mancher Hygiene- oder Pflegemittel auch der Gesundheit des Patienten. Wer unter starken Entzugserscheinungen und gedanklicher Fixierung auf Alkohol leidet, ist auch oft bereit, das Suchtmittel in noch schädlicherer Form als gewohnt einzunehmen.
Im Jahr 2015 führte das Problem, dass sich viele keinen Wodka oder andere alkoholische Getränke mehr leisten konnten, in Russland dazu, dass neben Schwarzgebranntem dubioser Herkunft und medizinischem Alkohol bis hin zu Reinigungsmitteln alles getrunken wurde. 2016 führte ein Badezusatz namens Bojarischnik zu zahlreichen Vergiftungen bei Alkoholikern, die auf alles zurückgriffen, weil es an Therapie- und Entzugsplätzen mangelte und Alkohol nicht mehr in der gängigen Form verfügbar war. Auch solche Vergiftungen würden zu einem hohen Bedarf an Krankenhausbetten und Personal führen.
Ergänzend ist anzumerken, dass auch einige Psychiatrien bereits nur noch die schlimmsten Fälle aufnehmen und bei entzugswilligen Abhängigen auch den Rat geben, mit Hilfe der Suchtberatung über "die Zeit zu kommen" - und letztendlich einfach weiter zu trinken bis wieder Ressourcen frei sind.
Häusliche Gewalt
Wie bereits dargestellt birgt ein abruptes Alkoholverbot - beziehungsweise ein Verkaufsverbot für alkoholische Getränke - extreme Gefahren für die Betroffenen und andere Menschen. Gerade auch die nächsten Angehörigen sind hier zu nennen. Geradezu zynisch mutet es an, wenn die Idee eines Alkoholverbots damit begründet wird, es könne die häusliche Gewalt reduzieren.
Alkoholkonsum spielt durchaus eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt: Während der Pandemie ist die Anzahl derjenigen, die wieder in eine Abhängigkeit zurückfallen, genauso angestiegen wie die der bisher gemäßigten Trinker, deren Konsum steigt.
Perspektivlosigkeit, weniger Ablenkung, Depressionen und auch fehlende Möglichkeiten, sich Halt bei anderen Abhängigen zu suchen, verschärfen das Problem. Häusliche Gewalt kann hierdurch ansteigen - sie kann aber auch durch den steten Alkoholproblem als Betäubung im Zaum gehalten werden. Einem ohnehin zu Gewalt neigenden, suchtkranken Menschen in dieser Situation das Suchtmittel abrupt vorzuenthalten, wird insofern seine Gewaltbereitschaft eher steigern - nicht zuletzt wird er auch die Schuld bei den Angehörigen suchen, wenn die tägliche Ration ausbleibt.
Einfach ausgedrückt wird dann bereits die Tatsache, dass es genug Nudeln im Haus gibt, aber keiner daran gedacht hat, einen Alkoholvorrat anzulegen, zum "Argument", um wieder einmal die Hand zu erheben.
Mangel an Hilfsangeboten
Hinzu kommt, dass für Opfer der häuslichen Gewalt nicht ausreichend Hilfsangebote vorhanden sind. Frauenhäuser haben sich zwar den Abstands- und Hygienemaßnahmen angepasst und werden auch vom Bundesfamilienministerium gefördert, doch gerade die fehlenden Freiräume dürften zu einer hohen Dunkelziffer führen.
Die Idee, schnellstmöglich die Verfügbarkeit von Alkohol zu beenden, ist schwer nachvollziehbar in Zeiten, in denen selbst Ärzte empfehlen, weiter zu trinken, da keine Entzugsplätze vorhanden sind.
Verständlich sind dagegen Erwägungen, den Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit einzudämmen um zu verhindern, dass es durch den Enthemmungseffekt zu Verstößen gegen die Abstandsregeln und somit womöglich zum "Spreading" kommt. Dies wird auch bereits in einigen Bundesländern durchgesetzt, ebenso wie ein Verbot des Ausschenkens offener Getränke mit Alkohol. Wie sinnig es ist, dass der Winzer um die Ecke einem zwar kein Gläschen zum Trinken auf der leeren Terrasse geben, jedoch eine Flasche verkaufen kann, sei hier einmal außen vor gelassen. Viele der beschlossenen Maßnahmen sind logisch nicht mehr nachvollziehbar, gefährden jedoch nur in seltenen Fällen auch Menschen direkt. Die Gefahr in Bezug auf Persönlichkeits- und Freiheitsrechte soll hier nicht weiter thematisiert werden.
Nötige Vorbereitung auf Ende der Pandemie
Im Weltdrogenbericht der Vereinten Nationen wurde bereits im Mai 2020 festgestellt, dass es durch Engpässe bei der Lieferung von illegalen Drogen beziehungsweise deren Grundstoffen zu dramatischen Gefahren kommt. Statt sich nun darüber zu echauffieren, dass :Eierlikör als notwendiges Produkt angesehen wird, wäre es sinnvoller, sich bereits jetzt auf das Ende der Pandemie vorzubereiten, wenn es um die Drogenproblematik sowie die der häuslichen Gewalt geht.
Es ist durchaus anzunehmen, dass nicht nur viele Entzugswillige in den stationären Entzug strömen, sondern auch, dass es durch die vollen Drogenlager zu günstigen Preisen und Stoffen mit höherer Reinheit kommen wird, was die Gefahr von Überdosen erhöht. Bei den Opfern häuslicher Gewalt ist es wahrscheinlich, dass die Nachfrage nach Hilfsangeboten steigt, wenn der erzwungene Mangel an Freiräumen, in denen Freunde oder auch Beratungszentren angerufen werden können, vorüber ist. Hierfür müsste bereits jetzt mehr Personal einkalkuliert werden.
Bereits im Juni 2020 wurde in Österreich die erste repräsentative Studie zum Thema "Häusliche Gewalt in Zeiten von Corona" vorgestellt - verbunden mit Vorschlägen Maßnahmen wie erhöhter Online-Präsenz von Hilfsangeboten sowie Hinweistafeln in Supermärkten wurden empfohlen. Letztere wurden bisher aber nicht umgesetzt.