Warum Annalena Baerbock zu Nazis und Zweitem Weltkrieg nichts mehr posten sollte
Baerbocks Tweet zum Polen-Überfall irritiert. Er verharmlost die Vergangenheit schablonenhaft. Welche Absicht steckt dahinter?
Die Barbarei stirbt nicht wie der Dschungel aus, sondern zieht sich nur hinter die Barrieren zurück, die die Zivilisation gegen sie errichtete, und wartet dort immer darauf, das zurückzugewinnen, worauf die Zivilisation vorübergehend Anspruch erhoben hat.
Will Durant, Historiker
Jeder Tag ist voller neuer Meldungen über Kriege, Konflikte, Menschenrechtsverletzungen, die permanente Missachtung des Völkerrechts. Mal wird genickt und alles als rechtens empfunden. Mal empört man sich und verurteilt, je nach Interessenlage. So werden Recht und Gesetz zur Nebensache, und die Faust des Kriegs ersetzt, was Diplomatie zu leisten hätte.
Wie soll und wird es weitergehen im Fall der Ukraine, im Fall des Gaza-Streifens, in der Westbank, nun auch im Libanon, im Umgang mit all den Pulverfässern dieser Welt, auf denen wir sitzen? Die westliche Politik, längst uneins, was jeweils zu tun ist, zeichnet sich nach wie vor in hohem Maße durch eine gedankliche Verweigerung aus, diese gefährliche Realität auch nur zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, sich als Teil der Konflikte und Probleme zu begreifen, die über Jahrzehnte herangewachsen sind, und heute drohen, die Welt zu zerstören.
Immer gehetzt durch die jeweils neueste Meldung, geht auch das Erinnern verloren. Am 1. September jährte sich der deutsche Überfall auf Polen 1939. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock verfasste dazu einen seltsamen Tweet: Er begann mit einem Zitat des einstigen polnischen Außenministers Bartoszewski, dann folgt:
Polen und Deutsche sollen nur eines füreinander sein: ganz normale Menschen. (…) Unsere deutsch-polnische Freundschaft wird getragen von allen Polen, die sich die Kraft bewahrten, füreinander Menschen zu sein. Das ist uns Verantwortung & Pflicht, aus dem Bewusstsein, um unsere Vergangenheit heraus unsere Freundschaft im Herzen Europas zu leben.
Was denkt sich Frau Baerbock bei solchen Sätzen, falls sie überhaupt denkt? Dass sich mit dem Kniefall von Brandt in Warschau alles erledigt hat? Oder mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze? Dass wir nun vergessen dürfen, wer die Millionen Polen umbrachte und die Juden in den KZs, die von den Nazis auf polnischem Territorium errichtet wurden, und wer die wenigen Überlebenden dieser Todeslager einst befreite.
Das Schweigen der Annalena Baerbock
Am 29. und 30. September jährte sich das Verbrechen von Babyn Jar. Dort erschossen Deutsche in nur zwei Tagen über 33.000 jüdische Sowjetbürger. Es war das größte Einzelmassaker an Juden im Zweiten Weltkrieg. Bis 1943 starben an diesem Ort etwa 100.000 Menschen durch deutsche Hand.
Der US-Außenminister Blinken erinnerte an das Massaker von Babyn Jar auf X, aber nutzte gleichzeitig den Tweet zur Verurteilung der Sowjetunion, die alles totgeschwiegen habe. Dafür kassierte er eine Gemeinschaftsnotiz. Die deutsche Außenministerin blieb stumm.
Was das ZDF vergaß
In einer ZDF-Reportage aus dem Jahr 2022 kam ein Mittäter zu Wort: Harry Seidel. Er diente in der Einsatzgruppe C. "Wir haben das alles betrachtet als notwendig", erklärte er. "Das sind Juden, das sind Bolschewiken. Die können nur abgeschossen werden." (ab Minute 4:19).
Das ZDF erinnerte daran, dass dieses Massaker einen Bezug hatte auf die Verminung Kiews durch die zurückweichende Rote Armee. Das führte zu großen Bränden in Kiew und zu herben deutschen Verlusten.
Woran das ZDF nicht erinnerte, war, dass diese Kriegsentwicklung auch dazu führte, dass die deutsche Wehrmacht befahl, Großstädte wie Moskau und Leningrad zu umgehen, um jede Wiederholung zu vermeiden. Deutsche Opfer sollte es nicht geben.
Das Verhungern der Leningrader Bevölkerung durch die Blockade war eingepreist.
So hat die deutsche Vernichtungswut gegen die "jüdisch-bolschewistische Verschwörung" damals alles zusammengebunden.
Deutsche Erinnerungsprobleme
Aber um die deutsche Kultur ist es schlecht bestellt, wenn es darum geht, sich zu erinnern, wie viele Opfer der deutsche Faschismus in der Sowjetunion forderte und warum. Kein Mensch ist je auf die Idee gekommen, eine ähnlich noble Geste zu erwägen, wie einst Willy Brandt in Warschau. Dazu jedoch müsste man nicht nur erkennen, welch lange Schatten diese furchtbaren Jahre warfen. Man müsste auch mit dem Herzen gut sehen können. Auch das ist zur Mangelware in unserer Zeit verkommen.
Wer andauernd im Eskalationstaumel ist, kommt nicht mehr zur Besinnung. Wer in Putin den neuen Hitler erkennt, will den tatsächlichen Hitler nicht mehr sehen. Am 26. September 2024 wurde in der UNO der Tag für die völlige Abschaffung der Kernwaffen begangen.
Guterres gegen Werkzeuge des Todes
Der UN-Generalsekretär António Guterres stellte in seiner Rede dazu fest, dass für diese "Werkzeuge des Todes" in unserer Welt kein Platz sein sollte. Er machte einen doppelten Wahnsinn aus: Ihre Existenz mache nichts sicherer. Das Gegenteil sei richtig. Solange solche Waffen existierten, sei die Existenz der Menschheit bedroht.
Es sei zudem Wahnsinn, dass wir dem Ziel der Abschaffung dieser Waffen in den vergangenen zehn Jahren nicht nähergekommen sind, sondern in die entgegengesetzte Richtung liefen. Alle vorhandenen Beschränkungen drohten sich aufzulösen, das Testverbot, das Nichtweiterverbreitungsverbot, die geplanten Abrüstungsschritte. Wörtlich sagte Guterres:
Und doch würfeln Atomwaffenstaaten fast 80 Jahre später immer noch, wehren sich gegen Abrüstungsmaßnahmen und glauben, dass uns das Glück irgendwie nie ausgehen wird. Aber Glück ist keine Strategie. Sie müssen aufhören, mit der Zukunft der Menschheit zu spielen.
Das Youtube-Video der Rede des UN-Generalsekretärs hatte 3030 Aufrufe. Wir sollen nicht wissen, wie gefährlich die reale Lage ist. Die Sorge vor einem Atom-Krieg gilt als russisch beeinflusst. Die Russen drohen nur, heißt es landauf, landab.
Sind die Nuklearwaffen der USA nur Spielzeugraketen ohne Abschusscodes?
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Wir sollen uns auch keine Gedanken machen, wenn es jubelnd heißt, die ukrainische Invasion in die Region von Kursk habe nicht zur atomaren Eskalation durch Russland geführt, was beweise, dass die russische Nukleardrohung reine Pose sei.
Bis heute ist die Öffentlichkeit nicht korrekt informiert, dass die nukleare Drohung wechselseitig besteht. Bis heute wird verschwiegen, dass nur die US-Doktrin den nuklearen Erstschlag (unter eng begrenzten Voraussetzungen) erlaubt.
Die russische Nukleardoktrin wurde jüngst von Newsweek im Kontext der Berichterstattung über die Rede des russischen Außenministers Lawrow vor der UN-Vollversammlung korrekt beschrieben: Nur im Fall eines nuklearen Angriffs auf Russland oder bei der Gefährdung der russischen Existenz ist eine nukleare Reaktion erlaubt.
Im Ukraine-Krieg ist aktuell beides nicht gegeben.
Nun will Russland seine Nukleardoktrin ändern. Die Geltung wird auf Belarus ausgeweitet. Gleichzeitig sollen konventionelle Angriffe, die auf das Herz Russlands zielen, nuklear vergolten werden können, wenn derartige Angriffe mithilfe von Atommächten erfolgen. Konkret könnte dabei der Fall erfasst sein, dass die Ukraine mittels deutscher, französischer, britischer oder US-Waffen längerer Reichweite strategische Ziele in Russland zu treffen sucht, da diese Waffen nur mithilfe von US-Informationen funktionieren.
Das erklärt, warum der Bundeskanzler sich anhaltend weigert, Taurus zu liefern. Das erklärt auch, warum der britische Premier Starmer jüngst unverrichteter Dinge aus Washington abziehen musste, obwohl eine gemeinsame Reise des US-Außenministers und seines britischen Amtskollegen nach Kiew nahegelegt hatte, dass beide den Einsatz solcher Waffen befürworteten. Das Pentagon zog offenbar die Reißleine; glücklicherweise.
Aber sicher ist nichts, schon gar nicht, wenn so getan wird, als würden solche Waffen die ukrainische Tragödie in einen Sieg in letzter Minute verwandeln.
Tatsächlich hat der Militarismus Hochkonjunktur. Alles muss ausgekämpft werden. Bis zum bitteren Ende. Nichts anderes besagt der sogenannte ukrainische "Siegesplan", nichts anderes besagen die Thesen derer, die Gaza und den Hamas, den Libanon und die Hisbollah für identisch erklären, Syrien bombardieren und den Iran meinen.
Nicht Putin hat in Bezug auf die Ukraine die Strategie "Siegfrieden" erfunden. Das wuchs auf westlichem Mist. Seither werden die USA nicht müde zu erklären, dass Russland die Schlacht um die Ukraine längst "strategisch verloren" habe, aber andererseits verkünden sie seit Dezember 2023 auch unbeirrt, dass Putin über alles herfallen werde, was hinter und neben der Ukraine liegt, wenn Russland mit dem Land fertig sein sollte. Der Widerspruch liegt bar zutage, aber fällt den wenigsten auf.
Vor diesem Hintergrund äußerten sich kürzlich US-Atom-Physiker, die jährlich bilanzieren, wie viel Zeit noch bleibt, um die Auslöschung der Menschheit abzuwenden (Doomsday Clock 2024: 90 Sekunden), zum US-Wahlkampf. Sie forderten, dass die Presse die Spitzenkandidaten genau befragt, wie ihre Position zu Nuklearwaffen ist.
Ob sie gehört werden, steht auch auf einem anderen Blatt.
Die im Nichtweiterverbreitungsvertrag gemachte Zusage des Artikels VI, dass sich die Atommächte dieser Waffen entledigen werden, ist nirgendwo eingelöst. Die mangelnde Umsetzung der Zusagen der Atommächte im Nichtweiterverbreitungsvertrag führte im Rahmen der UNO 2017 zu einem neuen Vertrag, mit dem nach den biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen nun auch die Kernwaffen geächtet werden sollen. 94 Staaten unterschrieben, 73 Staaten ratifizierten, darunter die EU-Länder Irland und Österreich. Keiner der Atomwaffenstaaten hat sich ihm angeschlossen.
In Deutschland redet man lieber über "nukleare Teilhabe" und schließt angebliche "Fähigkeitslücken".
Die Wissenschaft, auf die man während der Corona-Pandemie so unbedingt hören sollte, gilt nicht, wenn die Welt in Freund und Feind eingeteilt ist. Dass kurz vor dem Ende der Zivilisation stehen, möchte man weder hören noch glauben. Schließlich wird "Kriegstüchtigkeit" eingefordert, werden Risiken kleingeredet. Sonst macht man, wie es heißt, nur russische Propaganda.
Keine russische Propaganda ist, was den Einwohnern der Marshall-Inseln widerfuhr. Sie wurden 1947 zum Treuhandgebiet der USA und daraufhin zu Opfern von Nuklear-Tests und anschließend zu medizinischen Testobjekten. Dort gebaren verstrahlte Frauen verstümmelte Neugeborene, darunter die sogenannten "Quallen-Babys": ohne Arme und Beine, mit durchsichtiger Haut. Voll ausgetragen. Nicht lebensfähig.
Dort regiert Krebs, Krebs, Krebs.
Mir ist keine wissenschaftliche Untersuchung bekannt, die je nachgeprüft hätte, was die Atomtests der Vergangenheit innerhalb der Menschheit angerichtet haben. Nur bei direkten Opfern von Atomschlägen bzw. -tests sind die furchtbaren Fakten bekannt. Bekannt sind seit den 80er-Jahren aber die verheerenden globalen Geschehnisse, wenn es zum Nuklearkrieg käme. 2022 kam eine US-Studie zu den folgenden Ergebnissen: Zwei Milliarden sterben, wenn es zwischen Indien und Pakistan zum nuklearen Schlagabtausch käme. Fünf Milliarden würden verhungern, wenn zwischen den USA und Russland ein voller Atomkrieg entbrennen würde.
Wohlgemerkt, jene fünf Milliarden Menschen sind die, die die Feuerstürme und die radioaktive Verseuchung zunächst überleben.
Das wird mit uns geschehen, wenn wir weiter im Zustand des Freund-Feind-Denkens verharren, nicht entschieden für Abrüstung und die ultimative Abschaffung von Nuklearwaffen eintreten, nicht die Ausfahrt Richtung Frieden und Verständigung nehmen.
Nicht nur das nukleare Risiko ist immens hoch. Die Menschheit spielt inzwischen an vielen Fronten mit ihrem Überleben – vom Klimawandel bis hin zur künstlichen Intelligenz und Forschungen, die biologische und neurologische Gefährdungen schaffen, deren Wirkungen wir wie Zauberlehrlinge hilflos gegenüberstehen. Denn wirklich zivilisiert in dem Sinn, dass wir alle Folgen menschlichen Handelns beherrschen, sind wir nicht.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Substack-Seite der Autorin.