Warum Gerechtigkeit nicht im Zentrum steht
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Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft stehen im Widerspruch zwischen ihrem Willen nach Sicherheit und Ordnung sowie dem nach Vitalität
Die Schwierigkeit tief fassen ist das Schwere. Denn seicht gefasst, bleibt sie eben die Schwierigkeit.
Ludwig Wittgenstein
Beliebt ist es, Ungleichheiten in modernen westlichen Gesellschaften als Ungerechtigkeit anzusehen, an der jede(r) eigentlich Anstoß nehmen müsse. Wer so vorgeht, blendet die weit verbreiteten Auffassungen aus, die Ungleichheiten nicht als ungerecht erachten. Zudem ist vom gegenwärtig dominanten Bewusstsein auf die Frage "Bist Du für Gerechtigkeit?" zwar gewiss kein "nein" zu erwarten, wohl aber die Wertschätzung für viele andere Belange.
Sie sorgen dafür, dass Gerechtigkeit nicht im Zentrum steht. Viele, die meinen, mit Gerechtigkeit über das zentrale Kriterium zur Beurteilung der Gesellschaft zu verfügen, legen sich keine Rechenschaft davon ab. Ihre Schlüsselattitüde läuft ins Leere.
Verwirrung entsteht bereits dadurch, dass Gerechtigkeit nicht im Singular, sondern im Plural vorkommt. Es gibt Chancen- und Verfahrensgerechtigkeit. Leistungsgerechtigkeit existiert, wenn z. B. die Höhe der Rente von der Höhe der gezahlten Beiträge abhängt. Bedarfsgerechtigkeit findet Anwendung, wenn eine arbeitslose Person, die Kinder zu versorgen hat, höhere Zahlungen bekommt als eine kinderlose arbeitslose Person.
Die eine "Gerechtigkeit" lässt sich mithin gegen die andere "Gerechtigkeit" ausspielen. Die Ungleichheiten betreffen ganz verschiedene Materien. Die Ungleichheit zwischen arm und reich wird häufig in eine Reihe gestellt mit der Ungleichheit zwischen alt und jung, zwischen Stadt und Land, Frau und Mann, Aus- und Inländer.
Als "ungerecht" wird ganz Verschiedenes beanstandet: Als ungerecht gilt, dass die "Arbeitsplatzbesitzer" so "hohe" Löhne hätten, dass es für die Unternehmen nicht rational sei, diejenigen einzustellen, die gegenwärtig arbeitslos sind. Als ungerecht erscheint es, dass Kinderlose von den Steuern und Wirtschaftsleistungen der jüngeren Generation profitieren, aber selbst anders als Eltern weder Energie noch Geld für die private Kindererziehung aufbringen.
Ungerechtigkeit wird darin gesehen, dass Mitbürger vor den Toren der Stadt in den Genuss billigerer Wohnungskosten und besserer Luft kämen und dann erhalten sie auch noch … die Pendlerpauschale!
Die verschiedenen "Ungerechtigkeiten" lassen sich vom Individuum oft nicht in eine inhaltlich bestimmte Ordnung, sondern nur auf einen Nenner bringen: So viel Vorteilsnahme zulasten anderer existiert in der Welt! Oft wird angenommen: Die Reichen, Starken und Mächtigen praktizieren dieses Vorgehen besonders erfolgreich. Viele würden nicht anders handeln, wenn sie denn nur könnten oder die Gelegenheit dazu hätten.
Das herrschende Bewusstsein von der Gesellschaft
Ungleichheit wird dann zum Skandal, wenn sie als unnötig und willkürlich erscheint. Das gegenwärtig dominante Gesellschaftsbewusstsein kennt sachliche Gründe für Ungleichheiten und weist der Gerechtigkeit einen ganz anderen Platz zu, als dies Leuten behagt, für die Gerechtigkeit das A und O ist.
Grundlegende Thesen dieses Bewusstseins lauten wie folgt:
a) Allein der Privateigentümer hat ein vitales Interesse an einem Gut und am sorgsamen Umgang mit ihm. Gemeinschaftseigentum gilt als Niemandseigentum. Wer sich an seinen andere ausschließenden Privatinteressen orientiert, neigt dazu, die Verantwortung für Gemeingüter auf andere abzuschieben und hält sich bei seinen Beiträgen zu ihrer Erhaltung zurück ("Trittbrettfahrer").
b) Ohne Vorteile durch Wettbewerbsvorsprung bzw. ohne Sanktion (im Extremfall ökonomischer Ruin) entstehen keine hinreichenden Anreize für Effizienz und Effektivität. Ohne Druck von oben in der Hierarchie bzw. von der Seite (Konkurrenz) schieben die meisten eine "ruhige Kugel" und "halten den Ball flach". Ein Kernbestandteil des bürgerlichen Paradigmas besteht in der Wertschätzung von "Ungeselligkeit", "Unvertragsamkeit" und "missgünstig wetteifernder Eitelkeit" (Kant XI, 38f., siehe Literatur am Ende des Artikels) aufgrund ihrer angenommenen indirekten positiven Folgen.
Erst der "durchgängige Widerstand (zwischen den Menschen, Anm. d. Verf.), welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, ist es nun, welcher alle Kräfte des Menschen erweckt, ihn dahin bringt, seinen Hang zur Faulheit zu überwinden" (Ebd.). Ohne Antagonismen "würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat" (Ebd.).
c) Ein hohes Bruttosozialprodukt kann nur aus eigennützigen, ihren Sonderinteressen folgenden Handlungen vieler einzelner Akteure resultieren. Dass die Individuen sich direkt am Gemeinwohl orientieren und es dadurch befördern, gilt als unrealistisch (moralische Überforderung) bzw. als Einladung zur Heuchelei.
d) Mit der Kapitalwirtschaft sind bestimmte Kriterien der Reichtumsentwicklung verbunden. Das mag zu beklagen sein. Die Alternative aber bestehe in einer Planwirtschaft. Deren Misslingen gilt mittlerweile - im Unterschied zu früheren Zeiten - als unausweichlich. Zweitens vertrage sie sich nicht mit dem hohen Gut der individuellen Freiheit.
e) Die Konzentration sowohl des Besitzes hoher Geldbeträge, die mehrwertproduktiv angelegt werden können, als auch des Besitzes an Produktionsmitteln auf eine kleine Minderheit der Bevölkerung erscheint als unausweichlich, insofern eine gemeinsame Gestaltung und Entscheidung seitens der Bevölkerung über das Wirtschaften aufgrund der Komplexität der Materie, infolge der Verschiedenheit der sozialen Perspektiven ("babylonische Sprachverwirrung") und wegen der mangelnden Motivation der großen Mehrheit als unrealistisch gilt.
f) Die Menschen sind ungleich in ihren Fähigkeiten, Geistesgaben und Energieniveaus.
g) Die Spaltung der Bevölkerung in Unternehmer und vom Produktionsmittelbesitz Ausgeschlossene entspricht dem Unterschied zwischen verschiedenen Mentalitäten. Viele würden den Stress der Leitung und Verantwortung für den Betrieb nicht auf sich nehmen wollen. Schon der heutige Kleinunternehmer lebe "materiell sicher besser als seine Beschäftigten. Dafür hat er allerdings viel weniger Freizeit und meist jede Menge Sorgen. Während für die Mitarbeiter Freitagnachmittag das Privatleben anfängt, grübelt der Chef am Wochenende oft noch über Kalkulationen und Bilanzen. Wer so betrachtet wirklich reicher ist, lässt sich darum nicht einfach sagen. Zumal der materielle Wohlstand besteuert wird, die Freizeit aber nicht" (Hank 2008, S. 288).
h) Wer die auf die Vermarktung und Verwertung bezogene Handlungsfreiheit einschränke, erhöhe vielleicht die Einkommensgleichheit, nicht aber die durchschnittliche Höhe der Einkommen. Denn für die Vergrößerung der Wirtschaftsleistung seien in der kapitalistischen Marktwirtschaft satte Profite, hohe Einkommen der "Wirtschaftselite" sowie Zurückhaltung bei Arbeitseinkommen und sozialstaatlichen Leistungen erforderlich.
Nur von einem allein so ermöglichten Wirtschaftswachstum, nicht von Umverteilung, sei im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie die nachhaltige Verbesserung der Lage der abhängig Beschäftigten zu erwarten. Die Ungleichheit bleibe bestehen, das durchschnittliche Niveau an Einkommen, Bildung und Mobilität werde angehoben ("Fahrstuhleffekt" (Ulrich Beck)). Rawls (1975) zufolge ist die Ungleichheit der Einkommen dann gerecht, wenn sie zu einer solchen Erhöhung des Reichtums beitrage, von der auch diejenigen von ihr profitieren, die in ihrem Einkommen am schlechtesten gestellt sind.
i) Die herrschaftsförmige Struktur von Betrieben und Organisationen und die hierarchische Gliederung von Kompetenzen und Verantwortlichkeiten erweisen sich als unvermeidlich und effizienzfördernd unter Voraussetzung der modernen Ausmaße der Produktion, der Arbeitsteilung und Vernetzung sowie des Einsatzes von Technologie und Wissenschaft.
Die Unternehmer und Manager sind Organisatoren und Treuhänder der "Arbeitsbedingungen gegenüber der Arbeit" (MEW 25, 888). Unterordnen müssen sich die Arbeitenden unter die "Arbeit der Oberaufsicht und Leitung". Sie wiederum "entspringt notwendig überall, wo der unmittelbare Produktionsprozess die Gestalt eines gesellschaftlich kombinierten Prozesses hat und nicht als vereinzelte Arbeit der selbständigen Produzenten auftritt" (Ebd., S. 397).
Eine allgemeine Tendenz besteht darin, den Arbeiten "die geistigen Potenzen des materiellen Produktionsprozesses als […] sie beherrschende Macht gegenüberzustellen. Dieser Scheidungsprozess [...] vollendet sich in der großen Industrie, welche die Wissenschaft als selbständige Produktionspotenz von der Arbeit trennt" (MEW 23, S. 382).
In modernen kapitalistischen Gesellschaften herrscht ein Bewusstsein vor, das ihre modernen Momente als Substanz und ihre kapitalistischen Charakteristika als zweitrangig ansieht. (Zur Kritik daran im Telegrammstil vgl. Creydt 2002, Pkt. 3, 4).