Warum Gerechtigkeit nicht im Zentrum steht

Seite 3: Durchschnittliche Bürger und Ausnahmetalente

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Heute spricht man von Chancengleichheit - doch das Glück hat immer seine Lieblinge und seine Stiefkinder.

Ernst Jünger, Tagebuch 20.2.1972

Unter den Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft ist eine Variante populär, sich Ungleichheit zwischen ihnen zu erklären. In Bezug auf die jeweiligen Fähigkeiten und deren individuelle Nutzung gebe es Ausnahmetalente. Sie seien unter Unternehmern, Erfindern, Organisationsgenies, Spitzenkünstlern und Spitzensportlern zu finden.

Die Ungleichheit zwischen Managern und Arbeitern steht in dieser Betrachtungsweise in einer Reihe mit der Ungleichheit zwischen verschiedenen Begabungen und Energieniveaus in anderen gesellschaftlichen Bereichen (Sport, Kultur).

Das Ausnahmetalent leiste Außerordentliches. Das meint wenigstens eine große Zahl von Individuen. Sie akzeptieren insofern höhere Preise, wenn sie Veranstaltungen besuchen, in denen Spitzenfußballer ihre Fußballkünste oder Spitzenmusiker ihre Musik darbieten. Die zahlungsfähige Nachfrage entscheide. So sei das nun einmal in einer Marktwirtschaft.

Das gegenwärtig dominante Bewusstsein befürwortet Leistungseliten. Die Höhe der Managergehälter wird akzeptiert, solange sich die Manager nicht als Versager erweisen. Hans-Werner Sinn sagt 2007 in der TV-Sendung "hart aber fair":2

Der Lohn wird nach Knappheit (Angebot und Nachfrage) berechnet. Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun? Wir kennen das Prinzip der Gerechtigkeit in den Marktentlohnungen nicht.

Hans-Werner Sinn

Spitzenmanager seien nun einmal rar und auf internationalen Märkten gesucht. Wer ihnen kein hohes Gehalt biete, riskiere, dass ausländische Unternehmen sie abwerben. Ein früherer Aufsichtsrat der Öko-Bank begründet, warum Gerechtigkeit hier eine Themaverfehlung darstelle:

"Unterliegt z. B. die Preisbildung tatsächlich objektiven Gesetzen, so scheint es unsinnig, von gerechten oder ungerechten Preisen zu sprechen. Es käme ja auch niemand auf den Gedanken, von ungerechten Planetenbewegungen oder einer ungerechten Fallgeschwindigkeit auszugehen." (Kühn 1992, S. 21)

Unternehmereinkommen und Managergehälter gelten u. a. als Risikoprämie und als Belohnung für die Findigkeit und Wachheit, den Wagemut und Einsatz dabei, neue Chancen und Marktnischen wahrzunehmen und entsprechende Produkte zu entwickeln. Wer über die Spitzeneinkünfte in der Wirtschaft den Kopf schüttelt, solle zudem - so ein beliebter Vergleich - Einkommen von Autorennfahrern, Pop- und Filmstars in den Blick nehmen. Der Formel-I-Rennfahrer Lewis Hamilton verdiente einem Bericht aus dem Juni 2018 zufolge in den davor liegenden 12 Monaten 51 Millionen Dollar.

Die Einkünfte von Spitzensportlern werden mit dem Argument als angemessen befunden, der wirtschaftliche Gewinn, den bspw. ein Spitzenfußballer bringt, liege über seinem Gehalt. Der Sieg in einer bestimmten Liga ermöglicht das Mitspielen in einer Liga mit höherer Zuschauerschaft, größerer Attraktivität für Medien, höheren Werbeeinnahmen und mehr Verkauf von Fan-Artikeln.

In den Ausnahmetalenten bekommt der kleine bzw. durchschnittliche Bürger es mit Leuten zu tun, die seiner Meinung nach einen anderen Aufwand treiben, sich härter fordern und stärker in Regionen der Unsicherheit operieren wollen und dies alles vor allem können. Es handele sich um Personen, die gerade in der Umgebung aufblühen, vor der sich der kleine Bürger eher ängstige. "Glattes Eis/ ein Paradies für den/ der gut zu tanzen weiß" (Nietzsche II, S. 20). Die Ausnahmetalente hätten etwas "Forderndes" in ihrem "Wesen" und etwas "Starknerviges" (Sombart 1987, S. 197). Das schließe "Entschlossenheit" und "Rastlosigkeit", "Wagemut" und "Kühnheit" ein (Ebd.).

Die in der kapitalistischen Moderne begrüßte "schöpferische Zerstörung" (Schumpeter) erfordere die Findigkeit, mit der neue Geschäftsgelegenheiten aufgetan werden.

"Unternehmertum besteht nicht darin, nach einem freien Zehndollarschein zu greifen, den man bereits irgendwo entdeckt hat. Es besteht vielmehr darin, zu entdecken, dass es ihn gibt und dass er greifbar ist" (Kirzner 1978, 38).

Wahrhaft unternehmerischem Handeln fehlen sichere Informationen und verbindliche Handlungsmuster. Es handele nicht nach einem vorliegenden Plan, sondern müsse ihn finden bzw. erfinden. Schumpeter vergleicht dies mit dem Unterschied zwischen "einen Weg bauen und einen Weg gehen: Und das Bauen eines Weges ist so wenig ein bloß gesteigertes Gehen, als das Durchsetzen neuer Kombinationen ein bloß graduell vom Wiederholen der gewohnten verschiedener Prozess ist" (Schumpeter 1926, S. 124f.).

Das starke unternehmerische Individuum sei "nicht so sehr durch Intellekt [...] als durch Willen" geprägt, "durch die Kraft, ganz bestimmte Dinge anzufassen und sie real zu sehen - , durch die Fähigkeit, allein und voraus zu gehen, Unsicherheit und Widerstand nicht als Gegengründe zu empfinden" (Ebd., 128f.).

Das Unternehmertum finde - vielen in der Ökonomie und Sozialwissenschaft vertretenen Auffassungen zufolge - sein "Vorbild weit eher im Genius des Künstlers, im strategischen Geschick und der Entschlusskraft des Feldherrn oder im Rekordstreben des Sportlers" (Bröckling 2007, 124).

Paul Arden (2007), früher Kreativdirektor der renommierten Werbeagentur Saatchi&Saatchi, hat eine ganze Populärphilosophie entwickelt, die die Geburt des wirtschaftlichen und künstlerischen Erfolgs aus der Mentalität des Nonkonformismus, des Ausbrechens aus sicheren Routinen und des Etwas-Neues-Wagen feiert.

Ausnahmetalente machen den Kampf zu ihrer zweiten Natur. Der 2019 verstorbene frühere Vorstandsvorsitzender von VW, Ferdinand Piëch, war ein "glühender Verehrer der japanischen Herrenmenschen", Sammler von Samurai-Schwertern und ein begeisterter Segler. Piëch brachte seine Lebensmaxime auf den Punkt mit den Worten "ein Schiff im Sturm [...] lieber als Flautensegeln" (Der Stern 15, 1993, S. 234).

Manche Zeitgenossen können sich als Singularität vermarkten. Viele inszenieren sich so. Die große Mehrheit wird auf ihrem Arbeitsplatz dazu angehalten, nicht aus der Reihe zu tanzen. Höchstens heißt es hier: "Sei originell und bleib konventionell" sowie "Sei kooperativ und setz’ dich durch" (Plattner 2000, S. 48, 64). Gründer, Unternehmer und Manager sind die bürgerlichen Helden.

Zugleich trauen sich die meisten den entsprechenden Initiativgeist und Mut zum Risiko nicht zu. Sie meiden das Anarchische, das darin besteht, existierende Gleichgewichte zu stören. Das Vorpreschen mit einer Innovation überfordere sie. Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft stehen im Widerspruch zwischen "Sicherheit" und Risiko.

Normale bzw. "kleine" Bürger fürchten sich vor dem Absturz, der auf den Höhenflug folgen kann. Sie meinen: Wo Erfolg möglich ist, ist auch Misserfolg möglich. Wer sich zu weit vorwage, könne auch alles verlieren. Vielen erscheinen die unternehmerischen Tugenden als charakterliche Fehlentwicklung.

Manche erinnern sich an die Bibel: "Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele?" (Matth. 16:26). "Durchschnittliche" Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft und " Ausnahmetalente" haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was sie für sich selbst als anstrebenswert erachten.

Anstrengen sollen sich alle

Das Bild von den außerordentlichen Talenten der Erfolgreichen verdankt sich einer nachträglichen Interpretation des Erfolgs. "Leistung muss sich lohnen" - dieser Slogan gilt für Märkte nur sehr eingeschränkt. Leistung bildet eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für den Erfolg am Markt. Anstrengen sollen sich alle. Ob das Individuum damit Erfolg oder Misserfolg hat, hängt aber von vielen Faktoren außerhalb seiner Leistung ab.

"Firmen können bankrottgehen und Beschäftigte ihre Arbeitsplätze verlieren, und das nicht aufgrund mangelhafter Planung oder schlechter Geschäftsgepflogenheiten, sondern aufgrund von Marktturbulenzen, die niemand kontrollieren kann. Anstatt als robuste Mechanismen zur Belohnung von ‚Leistung’ wirken Märkte oft eher wie brutale Lotterien." (Wright 2017, S. 95)

Selbst ein so entschiedener Propagandist der Marktwirtschaft wie Hayek bezeichnet den Markt als "gemischtes Glücks- und Geschicklichkeitsspiel" (Hayek 1981, S. 163). Wie der jeweilige Teilnehmer auf dem Markt abschneidet, das hängt zum größten Teil ab von Glück im Sinne von fortuna, also etwas Unberechenbarem, etwas dem Individuum Zufallenden und Zufälligen, über das nicht seine Leistung entscheidet. Was die Individuen leisten und was auf dem Markt als Leistung gilt, unterscheidet sich.

Wer auf Märkten Erfolg hat, rechnet es sich seinen Fähigkeiten, seinem "Riecher" für Neues und seiner Beharrlichkeit, gegen alle Widerstände an seiner Geschäftsidee festzuhalten, zu. Dass viele genau so vorgehen, aber damit auf die Nase fallen, interessiert diejenigen nicht, die das Bedürfnis verspüren, den Erfolg sich als eigenen Verdienst zuzurechnen.

Das dominierende Gesellschaftsbewusstsein nimmt Ungleichheit häufig nicht als Verstoß gegen Gerechtigkeit wahr und schreibt sie Ursachen zu, die außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegen.

Anders als es diejenigen annehmen, die Gerechtigkeit ins Zentrum stellen, bildet Gerechtigkeit keine autonome "Substanz", die gegenüber der zu beurteilenden Gesellschaft als von ihr unbetroffener Maßstab geltend gemacht werden kann. Bei Gerechtigkeit handelt es sich ebenso wenig um einen archimedischen Punkt außerhalb der Gesellschaft, an dem sich der "Hebel" zu ihrer Veränderung ansetzen lässt.

Descartes erachtete die Aussage "Ich denke, also bin ich" für einen solchen Punkt. Viele meinen: "Mir ist Gerechtigkeit besonders wichtig, also bin ich gesellschaftskritisch, sehr viel mehr brauche ich von der Gesellschaft nicht zu wissen."

Wer das Paralleluniversum nicht verlässt, in dem sich alles um die Gerechtigkeit dreht und deren Sonne nie untergeht, vermag den gegnerischen Auffassungen wenig entgegen zu setzen.