Warum Joe Biden gewinnen wird

Bild: Michael Stokes/CC BY 2.0

Bleiben wir realistisch: Umfragen und Konstanten der US-Politik sprechen eine klare Sprache

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Es ist alles längst entschieden! Genau, ihr Verschwörungstheoretiker aller Länder: Das System möchte euren Präsidenten, möchte Donald Trump verhindern. Es möchte diesen Kämpfer für das Volk, für die einfachen Menschen draußen auf der Straße, nicht länger an der Macht sehen. Gerade weil der Mann so viel für euch erreicht hat: Er hat Amerika wieder groß gemacht. Er hat den Kampf gegen das China-Virus gewonnen. Er hat die islamistischen Mullah-Terroristen im Iran besiegt und für Israel so viel erreicht. So viel.

Richtig viel. Es ist so großartig. Amerika steht besser da als jemals zuvor. Es ist einfach alles großartig! Die ganzen vier Jahre seiner Präsidentschaft sind gekennzeichnet von Donald Trumps selbstlosem Kampf für die Rechte der Unterdrückten, für die Rechte der in ihrem Überleben bedrohten weißen Männer aus dem Volk. Eine kommunistische Antifa-Mafia aus schwarzen Muslimbrüdern, Latino-Massenvergewaltigern und lesbischen Hollywoodschauspielerinnen und frigiden Frauen hat sich jetzt zusammen mit den arroganten Fake-News-Medien verschworen, um euch zu unterdrücken. Ihr Plan könnte gelingen, weil sie mit dem dementen Sleepy-Joe Biden eine willenlose Puppe in der Hand des schwarzen Monsters Kamala Harris aufgestellt haben, um Euch zu täuschen.

Wir werden Euch jetzt zeigen, wie dieser tückische Plan im Einzelnen ablaufen wird. Durchschaut diese Verschwörung gegen die Freiheit, die Amerika in ein zweites Venezuela, ein neues Kuba, eine kommunistische Diktatur verwandeln wird.

Sehnsucht nach der ruhigen Hand

Bleiben wir realistisch. Schon im Jahr 2016 war Donald Trump ein überaus glücklicher Wahlsieger. Auch wenn sein damaliger Sieg das politische Unbewusste Amerikas, seine dunklen Triebe und schlechten Eigenschaften, seine Unmoral adäquat zum Ausdruck brachte, dann war dieser Sieg alles in allem doch besonders außergewöhnlichen und für einen populistischen, sich als Anti-Establishment gerierenden Kandidaten wie Trump selten günstigen Umständen geschuldet.

Es spricht nichts dafür, dass sich dies wiederholen wird.

Dies beginnt mit der Tatsache, dass Trump nun selbst als Amtsinhaber agiert. Dass er nicht mehr in gleicher Form als Outsider einen Wechsel einfordern kann, dass er nicht in gleicher Weise rhetorische Blankoschecks ausstellen kann, mit Versprechen und Hoffnungen allein agieren.

Auch wenn Trump in seinem Wahlkampf-Endspurt gerade versucht, wieder jene aggressive, leidenschaftliche "Wir-da-unten-gegen-die-da-oben"-Stimmung zu erzeugen, als kämpfe hier ein Outsider gegen eine alteingesessene Oligarchie, dann kann er doch nicht verleugnen, dass er selbst vier Jahre lang an der Macht war und in dieser Position keineswegs - gelinde gesagt - alle Hoffnungen seiner Wähler erfüllen konnte.

Selbst wenn man verschiedene Faktoren zu seinen Gunsten wendet: die Corona-Krise, für die er nichts kann und bei der auch ganz andere Regierende versagt haben; eine Außenpolitik, die immerhin ohne außenpolitische Militärschläge auskam (sieht man einmal von der völkerrechtswidrigen Ermordung des iranischen Militärführers Soleimani ab), eine wachsende Wirtschaft, ein Handelsprotektionismus, der einigen Zweigen der amerikanischen Wirtschaft zumindest kurzfristig durchaus zugutekam -, so kann man doch umgekehrt auch die objektiven Schwächen und Nachteile von Trumps Politik (jenseits aller rhetorischen Fehlgriffe und der grundsätzlichen Geschmacklosigkeit) genauso wenig übersehen.

Aber am Schwersten wiegt sein eklektischer Regierungsstil: Mag Trump auch immer wieder betonen, er hätte "eine Strategie", "einen Plan", so ist doch von strategischem, planvollem Handeln selbst für seine engsten Mitarbeiter wenig zu erkennen. Und auch Trumps Image als "Dealmaker", als effektiver, geschickter Verhandler, der in der persönlichen Begegnung mit einem Gegenüber günstige Ergebnisse herausholen kann, hat gelitten.

Umgekehrt verspricht Joe Biden genau dies: Erfahrung, Kontinuität, Ruhe. Es gibt gar nicht so wenige Wähler, die sich von dieser Wahl nicht so sehr einen Politikwechsel erhoffen als einfach nur, dass das Weiße Haus mit seiner Politik einen Gang herunterschaltet und tatsächlich das hält, was Trump versprochen hat: Weniger Einmischung der Zentralregierung in die Angelegenheiten der Bundesstaaten, weniger Durchregieren, eine ruhigere Hand. Sanfte Führung - nicht die "Disruption", die zum erklärten Regierungsstil des Präsidenten gehört.

Und auch wenn es Donald Trump in den vergangenen fünf Jahre gelungen ist, die ohnehin bereits seit 9/11 in ihren Grundlagen erschütterte US-Politik gehörig durcheinanderzuwirbeln und nachhaltig zu beschädigen, so hat er doch viele ihrer Konstanten nicht aus den Angeln heben können. Sie sprechen zusammen mit den Umfragen und einigen rationalen Überlegungen eine klare Sprache.

Der Wahlkampf

Wahlkampf in den USA ist wie ein Puzzle. Man muss Puzzle-Teile sammeln und man muss eine Mehrheit der Setzkästen dieser Setzkastengesellschaft aus lauter kleinen Identitäts-Puzzle-Teilen für sich gewinnen. Genau das spiegelt sich interessanterweise in den 50 Bundesstaaten und ihrer sehr unterschiedlichen Gewichtung im "Electorial College".

Die verschiedenen Bundesstaaten repräsentieren ziemlich genau auch verschiedene Milieus, die alle zusammen das ausmachen, was die USA bis heute sind: Kein "melting pot", kein Schmelztiegel, wie es der Mythos will - sondern ein "patchwork", ein Flickenteppich aus lauter kleinen Identitäten und Identitätsbausteinen.

Das US Wahlrecht ist in diesem Zusammenhang übrigens außerordentlich ungerecht, weil Kalifornien, der Bundesstaat mit der mit Abstand größten Bevölkerungszahl im "Electoral College" nur 55 Wahlmänner-Stimmen hat, bei knapp 40 Millionen Bewohnern, während 22 andere Bundesstaaten - Alaska, Connecticut, Delaware, Hawaii, Idaho, Iowa, Kansas, Maine, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New Hampshire, North Dakota, Richmond, South Dakota, Vermont, Washington DC., West Virginia, Wyoming - zusammengenommen zwei Millionen weniger Einwohner haben, aber mit 96 Stimmen im "Electorial College" fast doppelt so viel Stimmen als Kalifornien.

Schon im Januar 2020 war klar, wer mit großem Abstand die besten Chancen gegen Donald Trump im Wahlkampf haben würde: Bloß keine Frau! Denn Donald Trump war 2016 nicht zuletzt deswegen überhaupt möglich worden, weil die Leute mit Hillary Clinton keine Frau auf dem Präsidentenstuhl haben wollten.

Bloß kein Schwarzer oder irgendein anderer Angehöriger irgendeiner anderen ethnischen Minderheit - dazu war die Erfahrung mit Obama zu enttäuschend gewesen. Und bloß kein Kandidat, der in irgendeiner Weise von der Wahlkampf-Maschinerie des Präsidenten als Sozialist, Kommunist, Linksradikaler oder Sozialrevolutionär zu brandmarken gewesen wäre.

Sondern ein alter weißer Mann! Einer, der dem Präsidenten äußerlich ähnlich genug war, um nicht propagandistisch als sein Gegenteil dargestellt werden zu können. Und der deswegen gerade in den feinen Unterschieden den Kontrast umso sichtbarer machen würde.

Ein Kandidat, der genau bei denjenigen klassischen Wählern der Demokraten würde punkten können, die Hillary Clinton 2016 links - bzw. rechts - liegen gelassen hatte: Weißen Arbeitern, weißen Arbeitslosen, weißer Landbevölkerung, Weißen mit niedrigem Bildungsabschluss, Weißen über 50, weißen Männern.

Die Umfragen

Es ist ein weit verbreiteter Mythos, dass sich die Umfragen im Fall von Donald Trump alle getäuscht hätten. Denn einige Umfrage-Institute lagen ziemlich richtig, zum Beispiel A&B.

Aber auch die breite Mehrheit der Institute, die bis zum Ende einen Sieg Clintons vorhersagten, irrten sich nicht in jeder Hinsicht. Sie gewichteten nur ihre Rohdaten falsch. Alle Institute machten in den Wochen vor dem 8. November 2016 sehr deutlich, dass sich der zeitweilig große Abstand zwischen Clinton und Trump immer mehr verengte, und das vor allem Hillary Clinton an Zustimmung deutlich verlor - es war nicht so, dass Trump besonders viel Zustimmung gewann.

Und man übersieht leicht, dass 2016 sehr viele Wähler sich vor allem GEGEN Clinton entschieden, aber keineswegs FÜR Trump. Man übersieht auch, dass die Umfrageinstitute sich überhaupt nicht getäuscht haben was den reinen Stimmen-Vorsprung zwischen Clinton gegenüber Trump anbetraf. Sie schätzten die Ergebnisse in einigen Bundesstaaten falsch ein. Allerdings waren diese Ergebnisse auch insgesamt sehr knapp - sowohl in jenen Bundesstaaten, die Trump gewann (Michigan, Pennsylvania, Wisconsin), wie in jenen, die er verlor wie Minnesota oder New Hamshire.

Hinzu kommt noch die "margin of error", die statistische Fehlertoleranz, die jede Umfrage hat, und die in solchen Fällen bei mindestens 2%, eher bei 3 bis 4% liegt. Diese bedeutet vor allem, dass auch jene Bundesstaaten, bei denen die Umfragen einen stabilen, aber unter 5% liegenden Vorsprung für Biden messen, noch keineswegs sicher von ihm gewonnen sind.

Was für den Präsidenten ein besonderes Alarmsignal sei muss: Auch Umfrage-Institute, die ihm bis zuletzt die Treue hielten und 2016 gegen den Mainstream früh einen Wahlsieg Trumps voraussagten: IBD/TIPP und Rasmussen haben inzwischen die Seiten gewechselt, messen eine Stimmenvorsprung Bidens und sagen seinen Wahlsieg voraus.