Warum Medikamente immer öfter knapp werden
Vom Fiebersaft bis zur Infusionslösung: Hierzulande fehlen immer wieder wichtige Arzneimittel. Experten erklären die Hintergründe – und mögliche Lösungen.
Stellen Sie sich vor, Ihr Kind hat hohes Fieber und der Arzt verschreibt einen fiebersenkenden Saft. Doch in der Apotheke heißt es: "Tut mir leid, der ist gerade nicht vorrätig". Oder Sie müssen operiert werden, aber die OP verschiebt sich, weil die nötigen Infusionslösungen fehlen. Solche Szenarien sind in Deutschland keine Seltenheit mehr. Immer wieder kommt es zu Lieferengpässen bei Arzneimitteln.
"Ich finde es kurios, dass das Thema jetzt hochkocht, denn wir konnten schon im Frühjahr sehen, dass es zum Beispiel bei den Kochsalzlösungen Probleme geben könnte", sagt Ulrike Holzgrabe, Professorin an der Universität Würzburg, gegenüber dem Science Media Center (SMC). Kochsalzlösungen werden zum Beispiel bei Operationen oder zur Herstellung von Medikamenten benötigt. "Braun und Fresenius, die beiden entscheidenden Hersteller, hatten damals schon Schwierigkeiten gemeldet."
Globale Lieferketten, regionale Ausfälle
Die Gründe für Lieferengpässe sind vielfältig. "Der aktuelle Engpass lässt sich wohl auch auf Schäden an einem wichtigen Werk in North Carolina, USA, durch den Hurrikan Helene zurückführen", erläutert David Francas, Professor an der Hochschule Worms, ebenfalls gegenüber dem SMC. Francas weiter:
Vorausgegangen waren zudem Lieferengpässe Anfang des Jahres bei anderen Herstellern, verursacht durch Probleme bei Zulieferern für Glasflaschen. Aufgrund der hohen globalen Vernetzung in den Lieferketten betrifft dieser Ausfall nicht nur Deutschland, sondern hat weltweit Auswirkungen.
Generell sind viele pharmazeutische Lieferketten stark konzentriert. Für viele Wirkstoffe von Generika gibt es weltweit nur fünf oder weniger zugelassene Hersteller. Produziert wird häufig in Indien und China. "Strukturelle Probleme sind Marktverengung, regionale Konzentration und zumindest in Teilen auch Preismechanismen", fasst Francas zusammen.
Kostendruck macht Deutschland unattraktiv
Auch der Kostendruck im deutschen Gesundheitssystem trägt zu den Engpässen bei, wie Holzgrabe erklärt:
In Deutschland haben wir mit Rabatt- und Festbeträgen die Preise so weit gedrückt, dass für viele Hersteller der deutsche Markt schlichtweg nicht attraktiv ist. Es ziehen sich also immer mehr Hersteller aus der Produktion von einzelnen Arzneimitteln zurück.
Francas fügt hinzu:
Zuletzt gibt es mittlerweile auch in der Politik das Eingeständnis, dass gerade bei den für die Breitenversorgung wichtigen generischen Medikamenten die Preisschraube zu weit gedreht wurde. Industrieökonomisch folgen aus niedrigen Preisen weniger Puffer an Beständen oder Kapazitäten.
Von Melderegistern bis Reshoring – Ideen gegen Engpässe
Was also tun? Eine kurzfristige Lösung sieht Francas in der Erhöhung der Lagerbestände. Mittelfristig könnten ein verbessertes Engpassmanagement und mehr Datentransparenz, etwa durch Frühwarnsysteme, helfen, knappe Arzneimittel besser zu verteilen. Bei Ausschreibungen von Kassenverträgen sollten zudem Vielfalt und europäische Kapazitäten berücksichtigt werden.
Langfristig müssten die strukturellen Probleme angegangen werden. Eine "unbequeme Wahrheit" sei laut Francas aber, "dass Maßnahmen hierzu mit signifikanten Kosten verbunden sind". Um diese zu stemmen, brauche es eine engere Verzahnung von Gesundheits-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik.
Holzgrabe sieht die Lösung hauptsächlich in einer Stärkung der heimischen Pharmaproduktion: "Wir müssen aus dieser asiatischen Abhängigkeit raus", fordert sie. Weiter sagt sie:
Wir brauchen die Produktion im Inland oder zumindest in Europa. Ich weiß nicht, ob uns das je gelingen wird. Das bisherige System ist sehr festgefahren. Die EU hat aber einen ersten Vorstoß unternommen und Arzneien ermittelt, die idealerweise auf jeden Fall in Europa produziert werden sollten.
Mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung von Gesundheitsminister Lauterbach habe es 2023 einen ersten Ansatz gegeben. Doch bisher habe sich nicht viel geändert, resümiert Holzgrabe: "Das war auch nicht zu erwarten, weil man nicht an die Margen für die Hersteller herangeht."