Warum US-Sanktionen töten
Studie geht Folgen von US-Strafmaßnahmen auf zivile Importe in Venezuela nach. Doch was würde sich bei Abwahl Trumps ändern – und was macht die EU?
Die US-amerikanischen Wirtschaftssanktionen gegen Venezuela haben maßgeblich zu der humanitären Krise in dem südamerikanischen Land beigetragen. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der US-Denkfabrik Washingtoner Lateinamerika-Büro (Wola). Demnach geriet die venezolanische Wirtschaft zwar schon vor der Verhängung der ersten Sektorsanktionen der USA im Jahr 2017 in eine Schieflage.
Die US-Strafmaßnahmen hätten jedoch "direkt zu dem massiven Niedergang und zur weiteren Verschlechterung der Lebensqualität der Venezolaner beigetragen", heißt es in dem 53-seitigen Bericht des venezolanischen Wirtschaftswissenschaftlers Luis Oliveros.
Der Ökonom hatte die Auswirkungen der weitreichenden US-Sanktionen auf verschiedene Wirtschaftsbereiche des Landes untersucht, unter anderem auf die angeschlagene Erdölindustrie, auf die Einfuhr von Lebensmitteln, Medikamenten, Treibstoff und anderen lebenswichtigen Gütern sowie auf die Arbeit humanitärer und nichtstaatlicher Organisationen.
Der Bericht Oliveros‘, der an der Zentraluniversität von Venezuela in Caracas lehrt, stützt sich auf private Einschätzungen, inoffizielle Daten und öffentlich zugängliche Zahlen, um die Auswirkungen der US-Sanktionen in Venezuela seit 2017 zu analysieren. Zu gleichlautenden Rückschlüssen bezüglich der aggressiven US-Sanktionspolitik unter der Regierung von Präsident Donald Trump waren mehrere Untersuchungen gekommen. Auswirkungen auf die Politik der Europäischen Union und der Bundesregierung, etwa während deren UN-Sicherheitsratspräsidentschaft Mitte des Jahres, hatte das jedoch nicht.
Bundesregierung weiß von nichts und setzt nichts auf Tagesordnung
Auf Nachfrage aus dem Bundestag gab die Bundesregierung im August dieses Jahres zwar an, "mit Regierungsvertretern der USA auf allen Ebenen in kontinuierlichem Austausch" zu stehen. Dabei werde auch "das Thema der Wirtschaftssanktionen der USA gegen Venezuela" angesprochen. Deutsche Diplomaten haben dabei aber offenbar weder die negativen Auswirkungen der Sanktionen noch deren Unvereinbarkeit mit dem Völkerrecht thematisiert.
In den Antworten auf eine Kleine Anfrage des Linken-Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko heißt es weiter, die Bundesregierung lehne "die Verhängung von extraterritorial anknüpfenden Sekundärsanktionen prinzipiell" ab. Zudem setze man sich "im regelmäßigen Dialog mit der Regierung und dem Kongress der USA für die Streichung" entsprechender Maßnahmen ein. Vor dem UN-Sicherheitsrat haben bislang jedoch weder Bundesregierung noch andere EU-Staaten das Thema auf die Tagesordnung gesetzt.
Laut der Wola-Studie hat die rückläufige Förderung von Erdöl in Venezuela ihre Wurzeln zwar auch in jahrelanger Misswirtschaft und Korruption. Diese habe sich unter der Regierung von Nicolás Maduro noch verschärft. Doch selbst unter der Annahme, dass die Sanktionen vor dem Jahr 2017 den Rückgang der Produktion in rasantem Tempo fortgesetzt oder verdoppelt hätten, habe der venezolanische Staat durch die US-Maßnahmen zwischen 17 und 31 Milliarden US-Dollar an Einnahmen verloren.
Der sanktionsbedingte Rückgang der Erdöleinnahmen entspricht damit in etwa den Schätzungen des ehemaligen nationalen Sicherheitsberaters der USA, John Bolton, der 2019 behauptete, dass dem venezolanischen Staat durch die US-Sanktionen jährlich über elf Milliarden US-Dollar entgehen würden.
Oliveros beschreibt in seinem Text, wie sich die US-Sanktionen auf die ohnehin vulnerablen Gruppen in Venezuela auswirken. Während die Maßnahmen der Trump-Regierung die Einfuhr von Nahrungsmitteln und Medikamenten nicht explizit einschränken, sei die venezolanische Wirtschaft stark von den Devisen aus dem Erdölgeschäft abhängig, um die benötigten Güter importieren können.
Die US-Sanktionen hätten daher zu einem massiven Rückgang der venezolanischen Importe beigetragen. Der Bericht stellt fest, dass der Wert der durchschnittlichen monatlichen öffentlichen Importe im Jahr 2019 um 46 Prozent (auf 500 Millionen US-Dollar) und im Jahr 2020 um weitere 50 Prozent (auf 250 Millionen US-Dollar) gesunken ist.
Trotz Pandemie: Medikamentenlieferungen nach Kuba blockiert
Der Außenminister von Kuba, einem weiteren von US-Sanktionen betroffenen Staat, hatte bereits im August beklagt, dass die Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade der USA gegen sein Land den Kauf von Medikamenten und medizinischen Geräten zur Behandlung von Coronavirus-Erkrankungen verhindert.
Laut einem Bericht des Lateinamerika-Portals amerika21.de nannte Bruno Rodríguez als Beispiel den Stopp durch US-Behörden einer Lieferung von 100.000 Gesichtsmasken und zehn Geräten zur Diagnose von Covid-19, die sich auf dem Weg von China nach Kuba befanden.Rodríguez verwies damals auch auf einen zuvor erschienenen Bericht von Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen. Darin bestätigen die Autoren, dass die US-Regierung angesichts der Pandemie keine gebotenen humanitären Ausnahmen von Sanktionen gegen Kuba gewähren.
Der neue Bericht des US-Think-Tanks Wola beschreibt mit Blick auf Venezuela auch, wie die Tendenz zur Risikovermeindung dazu geführt, dass Banken und Finanzinstitutionen, die in Venezuela oder mit venezolanischen Institutionen tätig sind, die US-Sanktionen in vorauseilendem Gehorsam befolgt haben. So würden auch Bankkonten von Menschenrechtsgruppen, humanitären Organisationen und Privatunternehmen geschlossen und legitime Transaktionen über lange Zeiträume verweigert oder eingefroren.
"Üblicherweise behaupten die Befürworter von Sektorsanktionen der USA, die Maßnahmen hätten keine größere Auswirkung, weil alle Öleinnahmen aus der Zeit vor den Sanktionen von der venezolanischen Führungselite gestohlen worden seien, doch das ist nicht richtig", stellt Oliveros fest. Während im staatlichen Bereich Korruption weit verbreitet sei, seien die Erdöleinnahmen Venezuelas in den Jahren vor den US-Sanktionen durchaus in einem hohen Maße zur Unterstützung der labilen Importwirtschaft verwendet worden.
Tatsächlich zeige eine Analyse der Entwicklung von Importen und Erdölexporten in Venezuela von 1998 bis 2018 einen engen Zusammenhang zwischen beiden Sparten. "Die Einnahmen aus den Erdölexporten wurden lange Zeit zur Deckung der Importe von Nahrungsmitteln, Treibstoff, Medikamenten und anderen grundlegenden Gütern verwendet", heißt es in dem Bericht. Oliveros kommt zu dem Schluss, dass vor allem die US-Politik die Sanktionen gegen Venezuela überdenken und ihre Auswirkung auf die sich verschärfende humanitäre Notlage Venezuelas begrenzen müssen.
Dafür spricht auch eine ältere Berechnung des Washingtoner Center for Economic and Policy Research (CEPR), nach der in Venezuela von 2017 bis 2019 rund 40.000 Menschen an den Folgen von US-Sanktionen ihr Leben verloren haben könnten (US-Regierung greift Lebensmittelversorgung in Venezuela an). "Noch härter und zerstörerischer als die umfassenden Wirtschaftssanktionen vom August 2017 waren die Strafmaßnahmen, die auf Regierungsanweisung seit dem 28. Januar 2019 verhängt wurden", schreibt das CEPR. Diese Sanktionen hätten der Gesundheit der venezolanischen Bevölkerung schweren Schaden zugefügt.
Von 2017 bis 2019 gut 40.000 Tote in Venezuela durch Sanktionen
Das CEPR beruft sich auf Zahlen der "Nationalen Umfrage zu Lebensbedingungen", die von mehreren Universitäten des südamerikanischen Landes durchgeführt wird. Demnach stieg die allgemeine Sterblichkeit von 2017 bis 2018 um 31 Prozent. Dies würde eine Zunahme von mehr als 40.000 Todesfällen bedeuten. "Mehr als 300.000 Menschen wurden aufgrund des fehlenden Zugangs zu Medikamenten oder Behandlungen als gefährdet eingestuft", heißt es dazu weiter.
Hinzu kämen schätzungsweise 80.000 Menschen mit HIV, die seit 2017 keine antiretrovirale Behandlung mehr erhalten haben, 16.000 Menschen, die eine Dialyse benötigen, 16.000 Menschen mit Krebs und vier Millionen Menschen mit Diabetes und Bluthochdruck, von denen viele kein Insulin oder Blutdrucksenker erhalten.
Bleibt die Frage, wie sich die aggressive Sanktionspolitik der USA, die von der EU bislang weitgehend mitgetragen wurde, nach einem möglichen Regierungswechsel in Washington entwickelt. Joe Biden sei „grundsätzlich der Ansicht, dass die Vereinigten Staaten in gegenseitigem Respekt und mit einem Gefühl der gemeinsamen Verantwortung handeln sollten", sagte Jake Sullivan, ein hochrangiger außenpolitischer Berater des Präsidentschaftskandidaten der Demokraten gegenüber der New York Times.
In einer Biden-Regierung würden die Vereinigten Staaten erneut von der Monroe-Doktrin Abstand nehmen, die Lateinamerika als Hinterhof der USA sieht. In Bezug auf Venezuela habe das Biden-Team offenbar wenig Vertrauen in den selbsternannten venezolanischen Interimspräsidenten Juan Guaidó. Ein hochrangiger Berater sagte, so die New York Times, das Weiße Haus würde unter Biden versuchen, in Verhandlungen mit der Maduro-Regierung zu treten, um faire Wahl zu erreichen. Auch im Fall des massiv sanktionierten Kubas würden Maßnahmen der Trump-Zeit zurückgenommen.